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VIII.

Im Korridor draußen näherten sich Schritte. Vor der Tür der Zelle hielten sie an.

Krag ging hin und öffnete. Draußen stand der Gefängniswärter mit dem Schlüsselbund in der Hand und neben ihm zwei andere Unterbeamte.

»Bitte,« sagte Krag, »hier ist der Gefangene, führen Sie ihn nun ab. Der Wagen wartet wohl draußen?«

»Ja«, antwortete eine barsche Stimme, und ein großer, grobknochiger Wärter in Uniform trat aus dem Dunkel des Korridors in die matt beleuchtete kleine Zelle.

»Ah, Sie sind es, Johnsen«, sagte Krag. »Ich muß Sie erst einen Augenblick sprechen. Inzwischen können die anderen den Gefangenen bewachen. Folgen Sie mir.«

Die beiden Männer gingen den Korridor hinauf nach dem Kontor der Signalementsabteilung.

»Sie also führen den Gefangenenwagen?« fragte Krag.

»Jawohl.«

»Haben Sie irgendeine besondere Order erhalten?«

»Ja, ich habe eine besondere Order erhalten.«

»Und welche?«

»Ich soll Ihren Anweisungen in jeder Beziehung folgen.«

»Gut. Ich kann ja auch noch diese schriftliche Order vorlegen, in der ausdrücklich steht: ›Im übrigen haben die Gefängniswärter in jeder Beziehung Asbjörns Krags Anweisungen zu befolgen.‹ Sehen Sie es?«

»Jawohl.«

»Also! Merken Sie sich nun folgendes: die Wagentür darf nicht verschlossen werden.«

»Nicht verschlossen...? Das ist aber eigentümlich.«

»Das ist meine Sache. Der Gefangene wird unterwegs einen Fluchtversuch machen.«

Der Wächter lachte breit.

»Einen Fluchtversucht Das soll ihm bald vergehen.«

»Nein, Sie verstehen mich falsch. Wenn der Gefangene einen Fluchtversuch macht, sollen Sie ihn nicht daran hindern.«

Verblüfft sah der Wärter den Detektiv an.

»Das verstehe ich nicht«, bemerkte er.

»Ist auch nicht nötig. Denken Sie nur an Ihre Order.«

»Jawohl.«

»Also: Sie machen die Augen zu, wenn der Gefangene den Wagen verläßt, und fahren, als wäre nichts geschehen, nach dem anderen Gefängnis weiter.«

»Aber was soll ich denn sagen, wenn ich dort ankomme?«

»Sie sollen nur sagen, der Gefangene müsse wohl geflohen sein, da er sich ja nicht im Wagen befindet.«

Der Wächter lachte wieder.

»Und dann bekomme ich meinen Abschied«, sagte er.

»Seien Sie beruhigt. Verlassen Sie sich auf mich. Und nun kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Während der Detektiv mit dem Wächter zur Zelle zurückging, bemerkte dieser:

»Na, wären Sie's nicht, Herr Krag...«

»Was dann?«

»Was dann? Dann würde ich Sie festnehmen. Aber da Sie es sind, muß ich ja gehorchen. Sie haben wohl Ihre Absicht damit. Doch habe ich noch nie eine solche Komödie mitgemacht, und dabei bin ich doch seit zwanzig Jahren bei der Polizei.«

Als der Sträfling in den Wagen geführt war, ging Krag in sein Kontor und hielt sich dort eine Weile auf.

Inzwischen rollte der Gefangenenwagen davon. Es war mittlerweile so spät geworden, daß sich nur noch wenige Spaziergänger auf der Straße befanden. Als der Wagen durch die fast völlig menschenleere Grubbegate fuhr, öffnete sich plötzlich der Schlag und ein Mann sprang heraus. Er stand einen Augenblick mitten auf dem Damm und sah sich um. Der Wagen fuhr weiter, als sei nichts geschehen. Der Flüchtling brach in ein lautes Gelächter aus, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte weiter. Auf dem Stortorvet wimmelte es von Menschen. Die gute Laune des Strolches wuchs. Frech sah er einem Schutzmann ins Gesicht und grüßte ihn, die Hand an der Mütze. Dieser erwiderte seinen Gruß.

An der Straßenbahnhaltestelle blieb er mitten in einem Haufen Wartender stehen. Plötzlich fuhr er zusammen. Jemand hatte ihm ein Wort ins Ohr geflüstert. Wer mochte das sein? Er sah sich um, konnte aber keinen Verdächtigen entdecken. Er stand neben ein paar Damen, einem Herrn mit Klemmer und Spazierstock und einem alten Mann mit krummem Rücken, einen Korb am Arm. Sollte dieser ihm etwas zugeflüstert haben? Nein, er stand zu weit fort.

Endlich kam der Wagen, auf den er wartete, und er stieg mit einigen anderen Personen ein. Zwar war er ganz ohne Geld, aber er hatte keine Lust, den Weg zu Fuß zu machen, und so wollte er das Kunststückchen versuchen, das bei Leuten seiner Art so gebräuchlich war: mitfahren ohne zu bezahlen. Der Schaffner begann mit der Billettverteilung im vorderen Wagen, und er stand ganz hinten. Aber was war das? Er bemerkte, daß jemand an seiner rechten Rocktasche bastelte. Schnell wandte er sich um. Es konnte doch unmöglich diese Dame gewesen sein...? Ein lustiger Gedanke schoß ihm durch den Kopf: sollte er das Opfer eines Taschendiebes sein? Er, der König der Taschendiebe! Der Einfall erschien ihm so drollig, daß er laut auflachen mußte. Aber in diesem Augenblick flüsterte ihm wieder jemand etwas ins Ohr, und nun verstand er es deutlich: »Bezahl das Billett!« sagte die fremde Stimme. Wer in aller Welt konnte es sein, der sich um seine Angelegenheiten kümmerte? Die Plattform war voller Menschen, aber nicht einem einzigen der Fahrgäste hätte er etwas Derartiges zugetraut. Wenn es nicht doch der hustende alte Mann mit dem Korb war. Er faßte ihn am Arm.

»Hallo,« rief er, »hast du eben mit mir gesprochen?«

Der Alte schüttelte verständnislos den Kopf.

»Verstehst du nicht?« fragte der Flüchtling wieder.

Da schob der alte Wann seine Brust vor, und der andere las auf einer kleinen Tafel, die an seinem Halse hing: Taubstumm. Ein Taubstummer! Also konnte er es nicht gewesen sein. Und als er weitersann, erinnerte er sich, daß er den Alten schon häufig an den Straßenecken stehen und betteln gesehen hatte. Der Sträfling hatte einen plötzlichen Einfall und steckte die Hand in seine rechte Rocktasche. Richtig! Er zog etliche Silbermünzen heraus.

Und nun verstand er das Ganze und schalt sich, daß er den Zusammenhang nicht sofort begriffen hatte. Selbstverständlich befand er sich unter polizeilicher Aufsicht. Es würde ja auch Asbjörn Krag wenig ähnlich sein, wenn er ihn nun völlig aus dem Auge verlöre und seiner Wege gehen ließe. Natürlich wurde er vom ersten Moment an beobachtet, schon seitdem er den Wagen verlassen hatte. Womöglich, verfolgte ihn Krag selbst – er hatte ja schon soviel von dessen Verkleidungskunst gehört.

Er sah sich um und wollte zu erforschen suchen, wer von all diesen Menschen vielleicht der berühmte Detektiv sein konnte. Der Herr dort mit der goldenen Brille? Oder der Kontrolleur? Oder gar die Dame mit den vielen Paketen? Womöglich wohl der Taubstumme! Er ärgerte sich bei der Vorstellung, daß Krag nun wohl seine Verblüffung beobachtet hatte.

Endlich hielt der Wagen, und der Flüchtling stieg ab.

Es war anfangs wirklich seine Absicht gewesen, der Geschichte zu entschlüpfen und nicht, wie Krag ihn angewiesen hatte, in das Café nahe der Christian Krohgsgate zu gehen. Aber nun sagte er sich, daß es doch zwecklos wäre. Außerdem war er gespannt, wie dieses ihm so neue und interessante Abenteuer ablaufen würde.

Er kam in die Kneipe zu der Zeit, da diese am stärksten besucht zu sein pflegte – eine halbe Stunde vor deren Schließung. Ein Meer von Schwatzen und Schreien empfing ihn, als er die Tür öffnete, dichter Qualm und Tabaksrauch lag über allen Tischen. Der junge Verbrecher fühlte sich nun so recht in seinem Element, und seine Stimmung hob sich wieder. Er ging durch die ersten beiden Räume und fand einen stillen versteckten Winkel im dritten Zimmer, das im Keller unten lag, tiefer als die anderen beiden. Eine schlampige Kellnerin mit schmutzigen Händen und flachsgelbem Haar kam zu ihm. Sie äußerte ihr großes Erstaunen, ihn wiederzusehen.

»Bist du ausgerückt?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er, »sie ließen mich frei. Sie konnten mir nichts anhaben. Bring mir was zu trinken.«

Sie brachte ihm eine Flasche und ein Glas. Nach zwei Minuten hatte er die Flasche geleert und verlangte eine zweite.

Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, begann er über seine Lage nachzudenken. Die ganze Sache war ihm völlig unverständlich. Er befand sich in einer starken Spannung, denn er wußte im voraus, daß er binnen wenigen Minuten etwas Ungewöhnliches erleben würde. Er sah sich in dem elenden kleinen Zimmer um.

Da bemerkte er, daß er plötzlich nicht mehr allein war.

An einem anderen Tisch saß eine wunderliche Gestalt, ein Mann mittleren Alters, erbärmlich verkommen. Der Gesicht war gelblich und unrasiert, die Kleider zerlumpt. Der Flüchtling kannte ihn nicht, aber er wußte, welche Art Mensch der Fremde war, und es gab ihm einen Stich ins Herz. Diesen Typ hatte er oft genug gesehen: es war einer von jenen, die nach jahrelanger Haft endlich die Gefängnismauern verlassen hatten, ein schwerer Verbrecher, der durch den langen Aufenthalt im Kerker still und stumm geworden war und daher am liebsten dunkle, lichtarme Stellen aufsuchte.


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