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»Als ich zur Villa hier zurückkam, sah ich sofort, daß ein Mann sie soeben verlassen hatte. Und ich sagte mir, daß es der Mann sein müsse, den ich suchte – der Mann mit dem Elfenbeinstock.«
»Der Schutzmann erzählte mir,« sagte der Chef, »Sie hätten, als Sie fortgingen, beständig auf Ihre beschmutzten Stiefel gesehen.«
»Ich fand eine Spur in der feuchten Erde,« lächelte Krag, »die Spur eines Tieres.«
»Des Hundes also«, murmelte der Chef.
»Ja, des Hundes. Ich sah ganz deutlich die Abdrücke seiner Pfoten und konnte sie die ganze Straße hinunter verfolgen. Es währte auch nicht lange, bis ich des Tieres selbst ansichtig wurde. Es folgte dem Manne mit dem Elfenbeinstock dicht auf den Fersen.«
»Ja, ziemlich, zu Beginn war er wohl gelaufen. Er ging zum Meere hinunter, und ich eilte ihm nach.«
»Zum Meere?«
»Ja. Dort unten angekommen, zog er ein Boot heran, das offenbar ihm selbst gehörte. Er löste es rasch, nahm den Hund mit an Bord und ruderte hinaus in den Fjord.«
»Und warf sich dann also über Bord?« fragte der Chef eifrig.
»Nein. Er ruderte, was Zeug und Leder hielt, in der Richtung der Akerselvmündung.«
»Und Sie?«
»Ich folgte ihm. Ich nahm das erstbeste Boot, zerbrach die Kette und ruderte hinterher.«
»Aber sah er Sie denn nicht?«
»Es war zwar noch ganz dunkel. Dennoch glaube ich, daß er mich sah.«
»Und Sie erkannte? Aber dann setzten Sie sich ja wieder einer Lebensgefahr aus.«
Asbjörn Krag zuckte die Schultern.
»Ich sage Ihnen ja, daß es noch dunkel war. Außerdem war ich bemüht, mich um mehr als einen Revolverschuß von ihm fern zu halten.«
»Und er blieb nicht stehen, um sich Ihnen zu nähern?«
»Nein. Es war ihm offenbar viel daran gelegen, so rasch wie irgend möglich über den Fjord zu kommen. Nachdem er eine gute halbe Stunde gerudert war, legte er bei einem der kleinen Bootsschuppen im Akerselv an. Ich ruhte einen Augenblick aus und betrachtete ihn im grauen Lichte der mittlerweile heraufgestiegenen Morgendämmerung. Sein Gesicht war aschfahl vor Wut. Ich erinnere mich nicht, je eine so unheimliche Physiognomie gesehen zu haben.«
»Und nun schoß er auf Sie?«
»Nein, er vertäute ganz ruhig sein Boot und ging mit dem Hunde an Land. Als ich sah, auf welchem Wege er sich entfernte, legte auch ich an und folgte ihm. Er wandte sich wiederholt um und sah mich an. Ich ging mit dem Revolver in der Hand.«
»Und er?«
»Auch er hatte seine Waffe in der Hand.«
»Und keiner von Ihnen schoß?«
»Nein. Keiner von uns schoß.«
»Wunderten Sie sich nicht darüber, daß er Sie nicht verhinderte, ihn zu verfolgen?«
»Anfangs ja. Doch dann begriff ich sein Verhalten. Er hatte natürlich eine Absicht dabei. Er wünschte, daß ich ihm folge, weil er mich sprechen wollte.«
»Ach so!«
»Er wollte mit mir unterhandeln. Dazu war ich bereit.«
»Sie hatten also ein Gespräch mit ihm?«
»Ja. Es kam auf ganz natürliche Weise. Als er die erste Straße der Vorstadt erreicht hatte, blieb er stehen. Den Revolver in der Hand, stand er da und sah mich an. Auch ich blieb stehen.
»Kommen Sie näher,« sagte er, »ich schieße nicht.«
»Binden Sie den Hund an«, rief ich zurück. Ein Baum stand in der Nähe. Er ging hin und band den Hund fest. Das Tier war im übrigen vollkommen ruhig.
Ich hatte nun kein Bedenken weiter, mich ihm zu nähern. Ich merkte, daß er furchtbar erregt war. Als ich ihn erreicht hatte, gab er mir die Hand und sagte:
»Ich nehme Ihr Anerbieten an.«
»Ihr Anerbieten?« fragte der Chef erstaunt.
»Ja. Ich hatte ihm nämlich ein Anerbieten gemacht, als ich nachts um zwei Uhr waffenlos, hilflos und allein hier, wo ich jetzt sitze, vor seiner Revolvermündung saß.«
»Welches Anerbieten?« fragte der Chef.
»Ich bot ihm an, daß er mir sein fürchterliches Geheimnis mitteilen solle gegen die Erlaubnis, zehn Minuten Zeit zu bekommen, um Selbstmord begehen zu können.«
»Sie sind dummdreist, lieber Freund.«
»Dummdreistigkeit ist zuweilen meine Klugheit. Nun wohl, ich kam mit dem Leben davon. Und nun stand er also dort allein mit mir und wollte, wie er sagte, mein Anerbieten annehmen.«
»Und Sie gingen darauf ein?«
»Ja.«
»Und er erzählte Ihnen sein Geheimnis?«
»Nein. Er bat mich, ihm in eine Wohnung zu folgen, die er in diesem Teil der Stadt besitze. Wir befanden uns in einem sehr verrufenen Viertel. Ich folgte ihm jedoch. Als Beweis dafür, daß er es aufrichtig meine, ließ er den Hund an den Baum gebunden zurück.«
»Fanden Sie sein Benehmen denn nicht sehr verdächtig?«
»Ja. Ich war mir vollkommen klar darüber, daß er mir eine Falle stellen wollte. Aber ich wußte auch, daß es ihm nicht gelingen würde. Denn ich wußte, wohin er mich führen wollte.«
»Wirklich?«
»Es war mir ja bekannt, daß der Mann mit dem Elfenbeinstock einen gefährlichen Helfer besaß.«
»Den Landstreicher und Taschendieb, den Bolzen?«
»Stimmt. Und zu seiner Höhle sollte ich geführt werden. Er meinte wohl, einer Hilfe, einer zuverlässigen Hilfe zu bedürfen, um sich sicher und gefahrlos meiner entledigen zu können.«
»Und trotzdem gingen Sie mit ihm?«
»Ja. Wir kamen durch ein paar schmutzige Straßen und standen nach einigen Minuten vor der Höhle des Bolzen. Es war eine Kellerwohnung in einem der schlimmsten Häuser dort. Der Wann klopfte, und gleich darauf öffnete der Bolzen.
Mein Begleiter sagte:
»Gut Freund, sei ruhig.«
Und wir wurden sofort in die übelriechende, kaum beleuchtete Stube eingelassen. Als ich mich an das Dämmerlicht und die schlechte Luft gewöhnt hatte, sah ich, daß der Bolzen nicht allein war.«
»Waren etwa noch ein paar Kollegen bei ihm?«
»Nein, nur einer, auch ein berüchtigter Spitzbube.«
»Aber so hatten Sie ja noch einen Widersacher mehr.«
»Nein, er war mein Freund. Sie erinnern sich des Jens', den ich aus dem Gefängnis entfliehen ließ?«
»Ja, gewiß. Nun beginne ich zu verstehen.«
»Ich wußte durch unser Beisammensein am Abend, daß er mit dem Bolzen in dessen Wohnung gegangen war und wußte auch, daß er diesen glühend haßte, weil er ihn verraten hatte. Darum war ich dem anderen so ruhig gefolgt. Der Bolzen aber ahnte nichts von dem Übereinkommen zwischen uns beiden. Er hatte Jens mit sich genommen, um ihn vor der Polizei zu verbergen.
Als ich das Zimmer betteten hatte, stellte ich mich sofort mit dem Rücken an die Wand, denn ich erwartete einen Überfall. Und es dauerte auch nicht lange, bis er kam. Der Mann mit dem Elfenbeinstock rief triumphierend, indem er auf mich zeigte:
Dieser Mensch darf nicht lebend das Zimmer verlassen. Jetzt haben wir Sie sicher. Niemand hört hier Ihre Hilferufe.
Ich stand so, daß es mir unmöglich war, auf den einen zu schießen, ohne daß der andere über mich gekommen wäre. Schon wollte der Bolzen auf mich losspringen. Da rief ich, um meinen entwichenen Freund aufzumuntern:
»Das ganze Haus ist von Polizei umstellt.«
Der Bolzen war bereits an meiner Kehle. Wir wälzten uns auf dem Boden herum. Der Mann mit dem Elfenbeinstock suchte seinem Freunde zu Hilfe zu eilen, wurde jedoch durch Jens daran verhindert. Mit dem Bolzen allein, war es für mich das Werk eines Augenblicks, den kleinen Mann zu überwinden. Ich versetzte ihm einen Schlag, der ihn in eine tiefe Ohnmacht versenkte. Nun wandte ich mich zu den anderen beiden, die kämpfend in einem Knäuel auf der Erde lagen. Der Mann mit dem Elfenbeinstock hielt noch immer seinen Revolver in der Hand, konnte ihn jedoch nicht benutzen. Mit einem Blick schien er plötzlich die Hoffnungslosigkeit seiner Lage eingesehen zu haben, entwand sich dem Griff des anderen, richtete die Mündung der Waffe in den geöffneten Mund und drückte ab. Er starb sofort. – – –«
Asbjörn Krag machte eine Pause und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er die Erinnerung an die traurige Begebenheit fortwischen.
»Was sich dann ereignete, ist rasch erzählt«, fuhr er darauf fort. »Ich schickte Jens nach dem Polizeiwagen. Als die Schutzleute eintraten, erwachte der Bolzen aus seiner Betäubung, und angesichts der Leiche des anderen gestand er alles.
Die Sache ist die, daß der Mann mit dem Elfenbeinstock, der vor einer halben Stunde Selbstmord beging, eigentlich schon seit drei Jahren tot ist«, sagte Krag vollkommen ernst.
Der Chef fuhr auf und sah ihn verblüfft an.
»Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde,« sagte er, »müßte ich glauben, daß Sie scherzen.«
»Er starb vor drei Jahren und ist auf dem Malmöer Friedhof begraben. Das also war sein Geheimnis«, fuhr der Detektiv fort, unberührt von dem Ausbruch seines Chefs. Es klingt zwar wie der reinste Unsinn, und ich gebe zu, daß es recht abenteuerlich ist. Aber es gibt doch eine ganz natürliche Erklärung für dieses Abenteuer. Der Mann mit dem Elfenbeinstock ist der Vater der jungen Dame, mit der wir vorhin sprachen, also auch des Konsuls A., der sich mit seiner Frau auf Reisen befindet.«
»Der alte Großhändler X.!« rief der Chef aus. »Ja, Sie haben recht. Er starb vor drei Jahren in Schweden. Man munkelte damals, daß er sich das Leben genommen habe.«
»Wie Sie wissen, ging es vor etlichen Jahren mit ihm rückwärts«, fuhr Krag fort. »Er war dann ins Ausland gegangen und trieb sich als Industrieritter umher. Seine Familie, besonders sein Sohn, der sich allmählich wieder emporarbeitete, glaubte eine Zeit lang, er sei mit dem gesunkenen Dampfer ›Bourgogne‹ umgekommen. Aber da tauchte er plötzlich in Kristiania auf.«
»Ich erinnere mich«, nickte der Chef. »Und zu jener Zeit wurde er von der deutschen und englischen Polizei steckbrieflich verfolgt. Er beging dann hier in Kristiania ein paar neue Streiche, und wir wollten ihn verhaften. Aber da war er bereits verschwunden.«
»Dann verbreitete er das Gerücht, daß er in Schweden gestorben sei«, fuhr Krag fort. »Und seine Familie, die den Geächteten gern los sein wollte, tat alles, um dieses Gerücht glaubhaft zu machen. Schließlich wähnte er sich so sicher, daß er nach Kristiania zurückkam. Hier fand er seinen alten Freund von seinen Verbrecherexpeditionen in Schweden, den Bolzen, mit Hilfe des Elfenbeinstockes und des Kennzeichens der beiden Kreuze. Sie sind die letzten Überlebenden der Kopenhagener Verbrecherbande ›die Faust‹, die vor sechs Jahren die Hauptstadt Dänemarks in Schrecken versetzte. Hier begann er nun seine alte Tätigkeit wieder aufzunehmen, bis er erkannt wurde.«
»Und zwar durch die Fabrikarbeiterin in der Christian Kroghsgate, die er dann aus diesem Grunde beiseite schaffte?«
»Ja. Aber das führte wieder dazu, daß die Hand der Gerechtigkeit ihn endlich erreichte. Alles in allem war er ein unglücklicher Mensch, der tiefer und tiefer hinabglitt, um schließlich als ein schwerer Verbrecher zu enden«, schloß Krag.
»Friede seiner Asche.«
»Und Friede seiner unglücklichen Tochter«, sagte Krag, indem er sich erhob. »Wir müssen das unschuldige Mädchen vor einer gerichtlichen Verhandlung zu schützen suchen. Der einzig Schuldige ist ja für immer erledigt. Gehen wir. Hier haben wir nichts mehr zu tun.«