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Der Advokat eilte zum Telephon und bestellte eine Fernverbindung. Er wollte bei seiner Frau anfragen, ob etwas los sei. Er verlangte ein dringendes Gespräch. Einen Augenblick danach wurde ihm geantwortet, daß es nicht möglich sei, Verbindung mit der Villa zu erlangen. Der Advokat sah auf seine Uhr; das war sonderbar. Gerade jetzt pflegte man in der Villa zu Abend zu essen. Was sollte er sich dabei denken? War niemand zu Hause, nicht einmal einer von den Dienstboten, oder war die Verbindung aus irgend einem geheimnisvollen Grund abgebrochen worden? Er rief den Bürochef wieder zu sich herein, und sie besprachen einige Minuten das seltsame Ereignis. Der Advokat verbarg seinem Bürochef nicht, daß es ihn beunruhigte, daß er keine Telephonverbindung mit der Villa bekommen könne. Sie meinten, das Beste sei, es noch einmal zu versuchen, und der Advokat rief das Amt an. Jetzt aber ward ihm eine neue Überraschung zuteil.
In Dänemark hat man dieselbe altmodische und merkwürdige Einrichtung wie in Norwegen, daß Landtelephonämter abends zu einer bestimmten Stunde schließen, und daß es unmöglich ist, sie nach dieser Zeit zu wecken. Darum war der Bescheid, den der Advokat durch das Telephon bekam: das Amt des Badeortes habe eben geschlossen.
Ob es nicht möglich sei, trotzdem eine Verbindung zu bekommen?
Ganz unmöglich.
Ob man auch kein Telegramm schicken könne?
Nein, auch das könne man nicht; denn das Telegraphen- und Telephonamt sei im selben Hause und werde von demselben Mann besorgt. Beide Abteilungen schlössen zeitig.
Da stand er nun ohne Verbindung, ohne Erklärung für die rätselhafte Situation. Und wieder zeigte sich dasselbe beunruhigende Bild vor seinem inneren Bewußtsein.
Als der Advokat heute zum Bahnhof ging, hatte er einen übel aussehenden, sonderbaren Burschen um seine Villa schleichen sehen. Er hatte überlegt, ob er seine Frau auf ihn aufmerksam machen sollte, hatte es aber unterlassen, um sie nicht unnötig zu ängstigen. Es war ein dunkelhaariger junger Mann gewesen, ganz gut gekleidet, aber mit einem auffallenden, blauen Seidentuch um den Hals. Solch ein Halstuch, mit dem die Apachen in Paris sich zu putzen pflegen, um Eindruck auf ihre Mädchen zu machen. Dieser Mann war wie ein Mensch aufgetreten, der etwas zu verbergen hat. Der Advokat kannte den Typ aus seiner Richterzeit. Er kannte diese verdächtigen Blicke, diese gewollt-gleichgültigen Bewegungen. Wenn er es sich recht überlegte, hatte der Mann ein verdächtiges Interesse für das Gartengitter vor seinem Hause an den Tag gelegt. Als der Advokat aus dem Garten kam, hatte der Mann plötzlich seine Schuhbänder angelegentlich betrachtet und daran genestelt. Gerade diese Bewegung war es gewesen, die die Aufmerksamkeit des Advokaten geweckt hatte, weil sie ihn an alte Tage erinnerte, wenn er die Arrestanten im Auge behielt, damit sie sich nicht untereinander verständigten; und sie verfielen auf merkwürdige Kniffe, um die Gerichtsbeamten irrezuführen.
Aber warum? Der Advokat verglich die verschiedenen Tatsachen miteinander. Vor allem dachte er an die falsche Depesche. Wenn er davon ausging, daß sie ihm geschickt worden war, um ihn von der Villa fernzuhalten, konnte es einzig und allein aus dem Grunde sein, weil man ein Attentat gegen die Villa plante. Er hatte verschiedene Wertsachen draußen liegen, unter anderem die kostbaren Juwelen seiner Frau, die sie gestern abend auf dem Fest angelegt hatte. Dies rief abermals etwas in seiner Erinnerung wach.
Ja, jetzt entsann er sich des seltsamen Knackens, das er gestern abend im Garten gehört hatte. Als er es zum erstenmal hörte, hatte seine Frau neben dem großen Stahlgeldschrank gestanden und die Juwelen hineingelegt. Es war ihm in diesem Augenblick, als ob er das auffallende Knacken wieder hörte. Es war, als ob jemand draußen über den Kies ginge. Stand jemand dort und spionierte? Hatte jemand die Juwelen gesehen? Der Advokat wurde immer nervöser. Plötzlich meinte er in einem unheimlichen Schauder zu spüren, was geschehen war, und was noch geschehen könnte. Er selbst war weit fort von der Villa, und seine Frau war allein zu Hause. Die. Dienstmädchen schliefen im andern Ende des Hauses, und dann das Telephon – das Telephon, das abgestellt war! Er wurde auf einmal furchtbar erregt, und stürzte in das Nebenkontor.
»Den Fahrplan,« rief er.
Der Bürochef, der begriff, daß etwas Ungewöhnliches los sei, kam in aller Eile mit dem Fahrplan. Es zeigte sich, daß gerade in einigen Minuten ein Zug ging. Es wurde rasch nach einem Automobil telephoniert, es kam sofort, und ohne dem Bürochef eine Erklärung zu geben, sprang der Advokat hinein und fuhr zum Bahnhof. Als er auf den Bahnsteig stürzte, kam er gerade zeitig genug, um den Zug an den letzten Signalstangen vorbeigleiten zu sehen – und da stand er, atemlos und verstört. Was sollte er jetzt machen?
Er war keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß er einen Versuch machen müsse, den Badeort zu erreichen, aber wie? Der Fahrplan, den er wieder hervorzog, bestätigte ihm nur, daß an diesem Abend keine Züge mehr zum Badeort gingen. Die Vorstellung, daß Gefahr drohe, war indessen so stark in ihm, daß er beschloß, alles zu versuchen, um nach Hause zu kommen. Vor dem Bahnhof warteten eine Menge Automobile. Er musterte sie, und eines machte ihm einen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Es war groß und schlank und schien recht kräftig zu sein.
Er ging zum Chauffeur und fragte:
»Wann können Sie im Bad Trinacria sein?«
Der Chauffeur sah ihn forschend an.
»Das ist eine lange Tour,« antwortete er zögernd.
»Einerlei,« antwortete der Advokat, »ich habe Sie gefragt, wann Sie dort sein können.«
Der Chauffeur war offenbar nicht sehr willig, die Fahrt zu machen.
»Die Wagen leiden furchtbar auf diesen Landstraßen,« sagte er, »außerdem ist es sehr dunkel, und es wird eine teure Fahrt.«
»Wieviel?«
»Unter hundert Kronen kann ich es nicht machen!«
»Wann können Sie für einhundertfünfzig Kronen dort sein?«
Das Gesicht des Chauffeurs belebte sich.
»Hallo,« rief er, indem er vom Wagen sprang, »wenn es Geld dabei zu verdienen gibt, bin ich der letzte, der nein sagt. Wenn Sie mir hundertfünfzig Kronen geben, werde ich Punkt ein Uhr dort sein.«
Der Advokat warf einen Blick auf die andern Wagen.
»Das ist zu spät,« sagte er.
»Ich könnte wohl schneller fahren, aber –«
»Was, aber –«
»Es kostet Strafe, wenn ich zu schnell fahre, und außerdem kann der Wagen dabei draufgehen.«
Der Advokat zog seine Visitenkarte aus der Tasche, und indem er sie dem Chauffeur gab, sagte er:
»Ich übernehme das Risiko für den Wagen und bezahle die Strafe.«
Gleichzeitig drückte er dem Chauffeur einige Geldscheine in die Hand. Das entschied die Sache.
»Gut, ich werde versuchen, um zwölf dort zu sein,« antwortete der Chauffeur, stieg in den Wagen und ergriff das Steuer.
Zwölf Uhr, dachte der Advokat, das ist gut, das ist die Mitternachtsstunde, die Stunde der Verbrecher. Vielleicht komme ich noch rechtzeitig. Jedenfalls konnte er nicht schneller kommen, und er hatte keine Ruhe in der Stadt zu bleiben. Er wollte es versuchen. Gleich darauf sauste das Auto über die Landstraße. Leute drehten sich um und sahen ihm nach und wunderten sich über die enorme Schnelligkeit. Einige Schutzleute notierten die Nummer des Autos. Es schien eine teure Fahrt werden zu sollen.
Hier finde ich folgende aufklärende Notiz in Asbjörn Krags Papieren:
»Die Autofahrt kostete mit Strafen, Reparaturen und allem 450 Kronen.«
Während dies in Kopenhagen vor sich ging, herrschte vollkommene Ruhe in dem Badeort, und nichts geschah, was darauf deutete, daß etwas Besonderes im Anzuge sei.
Der Polizeileutnant spazierte mit Frau Sonja und nahm ihr noch einmal das Versprechen ab, daß sie ihn um zwölf Uhr empfangen solle. Der Grund dieser späten Zusammenkunft ist noch immer ein Geheimnis; aber wir haben ja die beiden Erklärungen, an die wir uns halten können, und wir neigen der Auffassung zu, daß Frau Sonja den Polizeileutnant so spät empfangen wollte, weil sie ihm dann ungestörter eine Erklärung für ihre merkwürdige Angst beim Anblick des Apachen mit dem blauseidenen Halstuch geben konnte. Das, was später geschah, deutet auch mit Bestimmtheit daraufhin, daß dies der Grund war.
In dem düsteren »Café Babylon« war es den ganzen Nachmittag still und friedlich gewesen. Die Menschen, die sonst dort verkehrten, waren offenbar müde nach den Vergnügungen des gestrigen Tages. Der Wirt ging gelangweilt umher und spähte nach Gästen aus. Endlich gegen Abend kamen ein paar Gäste vom vorhergehenden Tage. Es waren die beiden fremdartig aussehenden Personen. Sie schienen beide mit dem Zug gekommen zu sein, denn sie fanden sich unmittelbar nach Ankunft des Zuges im Kruge ein. Tatsächlich war nur der eine von ihnen mit dem Zug gekommen, der andere war ihm entgegengegangen; es waren der Mann mit dem Halstuch und sein Kamerad. Sie setzten sich still in eine Ecke und bestellten sich Schnaps. Es hatte den Anschein, als ob sie wichtige Geschäfte miteinander zu verhandeln hätten, denn sie sprachen sehr leise. Der Wirt erlaubte sich einmal, ihrem Gespräch zu lauschen, und bemerkte, daß sie eine komische Sprache redeten, die weder dänisch noch schwedisch noch deutsch war, die aber etwas an die Sprache erinnerte, die von den eingewanderten Polacken auf den Gehöften gesprochen wurde. Daraus schloß der Wirt, daß sie Polacken wären, die in die Gegend gekommen seien, um Arbeit zu suchen. So sahen sie auch aus.
Inzwischen verstrich die Zeit. Da bezahlten die beiden Polacken, erhoben sich und gingen fort. Der Wirt sah ihnen nach. Sie verschwanden zwischen den dunklen Bäumen. Die Uhr war jetzt elf. Zu dieser Zeit saß der Polizeileutnant in seinem Hotelzimmer und zählte die Minuten. Auf den öden und dunklen Landstraßen in Nordseeland fuhr das Automobil des Advokaten in rasender Eile dahin. Die Uhr ging auf zwölf. Die Mitternachtsstunde näherte sich. Der Polizeileutnant verließ sein Hotelzimmer. In der Villa waren die Dienstboten zu Bett gegangen. Durch die Fenster in Frau Gades Boudoir leuchtete die dunkelrote Ampel. Der Advokat fuhr und fuhr auf weiten Landstraßen.
Und hier finde ich wieder die Frage in Asbjörn Krags Notizen:
»Wo waren jetzt die beiden Apachen?«