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Asbjörn Krag war nicht sehr bekannt in der Stadt. Er liebte es nicht, überfüllte Lokale zu besuchen. Und wenn er hin und wieder ausging, war er am liebsten allein. Die wenigen, die er kannte, waren seine nahen Freunde. Und diese wußten, daß er nicht angeredet oder gegrüßt zu werden wünschte, ohne daß er selbst dazu aufforderte. Darum brauchte er keine größere Veränderung mit seinem Äußern vorzunehmen. Er wußte, daß man ihn trotzdem unbehelligt lassen würde.
Da es verhältnismäßig früh am Abend war, waren der Speisesaal und die anstoßenden Räume noch ziemlich leer. Aber es war heute ein Premierenabend, und Krag wußte, daß später noch viele Gäste kommen würden. Die meisten Tische warm auch schon belegt. In der Nähe des Fensters fand er einen leeren Tisch. Der Franzose war noch nicht da. Krag bestellte einen Wermut und verkürzte sich die Wartezeit damit, daß er über den anonymen Brief, den Advokat Gade erhalten hatte, nachdachte. Er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, das Original zu haben. Dann beschäftigte ihn eine Weile der Gedanke, wo Frau Sonja sich wohl hingewandt habe. Allerdings hatte er die Nachforschungen nach ihr eingestellt. Aber man hatte doch bereits Zeit gehabt, die meisten der größeren und kleineren Hotels von Christiania zu durchstöbern, und nirgends eine Spur der schönen Frau gefunden. Es war merkwürdig, daß sie sich so versteckt halten konnte. Ganz unbekannt war sie in einer auffallenden Verkleidung nach Christiania gekommen, und es war ihr gelungen, in dieser verhältnismäßig kleinen Stadt unterzutauchen und zu verschwinden. Aber er zweifelte nicht, daß er sie bald zu sehen bekommen würde. Warum hatte er eigentlich die Nachforschung nach ihr eingestellt? Weil er zu einer Überzeugung gekommen war. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß es Frau Sonja war, die ihrem Gatten den anonymen Brief geschrieben hatte. Sie sehnte sich nach Mann und Kind. Die mütterlichen Instinkte hatten überhand genommen. Und sie war hierhergereist, dem Zentrum der Ereignisse möglichst fern, um ihrem Mann ungestört eine Erklärung ihrer rätselhaften Handlungsweise zu geben.
Während Krag in diese Gedanken vertieft war, kam der Franzose. Er kam so geräuschlos, daß Krag ihn erst bemerkte, als er neben ihm am Tisch saß. Sein leises und lauerndes Erscheinen wirkte auf Krag fast unheimlich. Und der Detektiv stellte fest, daß dieser Mann mit der starken Muskulatur, dem geheimnisvollen Wesen und den suchenden und harten Augen ihm Widerwillen einflößte. Aber er bezwang sein Gefühl und begrüßte ihn freundlich.
Das erste, was der Apache sagte, war:
»Vergessen Sie nicht, daß ich Österreicher bin und Kraus heiße. Ich wohne hier im Hotel auf Nummer 101.«
»Das ist eine komische Nummer,« sagte Krag, »die klingt fast wie eine Prophezeiung.«
Er machte die Beobachtung, daß der Franzose sich etwas verjüngt hatte; sonst war zwischen dem Mann im Abteil und dem, der ihm jetzt gegenübersaß, kein sonderlicher Unterschied.
Sie ließen auftragen und begannen eine leise Unterhaltung. Nach und nach kam das Theaterpublikum und füllte den Saal mit Lärm und Lachen, so daß sie ungeniert miteinander reden konnten, ohne an den Nachbartischen gehört zu werden. Sie sprachen wieder französisch.
»Was haben Sie erfahren?« fragte der Apache.
»Ich bedauere sehr,« sagte Krag, »Ihnen schlechte Nachrichten bringen zu müssen, sehr schlechte Nachrichten.«
Krag sprach so ernst und niedergeschlagen, wie es ihm möglich war, um zu sehen, welchen Eindruck es auf den Franzosen machen würde. Der andere aber warf ihm nur einen gleichgültigen Blick zu und fragte:
»Also?«
»Der Polizeileutnant, den Sie suchen, befindet sich nicht in der Stadt.«
»Das ist fatal.«
»Ja, für Sie, aber wohl weniger für ihn.«
»Was haben Sie sonst erfahren? Wo hält er sich auf?«
»In Kopenhagen, wohin er vor einigen Tagen gereist ist, zusammen mit einem norwegischen Detektiv und Freund, Asbjörn Krag. Man behauptet, daß eine Dame mit im Spiel sei.«
»Wirklich? Wer behauptet das?«
»Seine Kollegen auf der Polizeibehörde. Ich habe heute in einer Pension Wohnung genommen, wo ich das Glück hatte, einem Polizeileutnant aus der Stadt vorgestellt zu werden. Beim Abendbrot leitete ich das Gespräch sehr geschickt auf dieses Thema. Und da erfuhr ich es.«
»Das ist wirklich sehr interessant. Wird er bald nach Christiania zurückkehren?«
»Man nimmt es an. Aber es ist etwas Mystisches dabei. Man behauptet, daß er in eine Dame verliebt sei, und meint, daß sie in eine rätselhafte Affäre verwickelt ist, und daß er aus diesem Grund seinen Freund, den Detektiv, gebeten hat, mit ihm zu reisen. Einige behaupten sogar, daß die Dame unter höchst sonderbaren Umständen ums Leben gekommen sei. Jedenfalls ist es ganz unsicher, wann er zurückkehrt. Finden Sie nicht, daß das fatale Nachrichten sind? Aber ich habe Ihnen leider keine besseren verschaffen können.«
»Ich finde sie durchaus nicht fatal,« antwortete der Apache.
»Wie beliebt? Ich verstehe Sie nicht. Sind Sie nicht einzig und allein hergekommen, um diesen Polizeileutnant zu treffen?«
»Der Ansicht war ich auch, als ich in der Eisenbahn saß. Später aber hat sich etwas ereignet, was meine Pläne verändert hat. Ich habe jetzt anderes zu tun bekommen.«
»Meine Mitteilungen haben also kein weiteres Interesse für Sie?«
Durchaus kein Interesse.«
»Sie setzen mich in Erstaunen. Und warum nicht, wenn man fragen darf?«
»Weil alles, was Sie mir erzählt haben, gelogen ist« sagte der Apache.
Im selben Augenblick drehte er sich zu dem großen Saal um, in dem jetzt dichtgedrängt ein lebhaft plauderndes und festlich gekleidetes Publikum saß.
Der Detektiv bekam wirklich einen Schreck. Gelogen? Sollte der Apache in der Zwischenzeit etwas erfahren haben?
Um Zeit zu gewinnen, spielte Krag den Beleidigten.
»Ich berichte ja auch nur, was andere mir erzählt haben,« sagte er. »Woher wollen Sie übrigens wissen, daß es gelogen ist? Sie haben ja mit niemandem von der Polizei gesprochen. Davor werden Sie sich schön hüten.«
Der Franzose wandte sich ihm zu. Er lächelte wieder mit jenem seltsamen Lächeln, das Krag schon früher unangenehm berührt hatte. Es schien alles mögliche zu bedeuten. In dem merkwürdigen Glanz der Augen glomm sowohl Hohn wie List.
»Ich weiß es,« antwortete er, »weil ich es weiß. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich mich bereits einen ganzen Tag in dieser Stadt aufgehalten habe. Glauben Sie, daß ich nur auf meinem Sofa gelegen und Zigaretten geraucht habe? Ich habe mich in drei verschiedenen Verkleidungen in der Stadt herumgetrieben.«
»Und was haben Sie entdeckt?«
Statt zu antworten, ließ der Franzose seine Augen wieder über den großen Saal und die festlich gekleideten Menschen gleiten. Das frohe Geplauder schwoll und schwoll. Der Laut der vielen Stimmen vermischte sich mit dem Klappern des Geschirrs. Es glitzerte in Spiegeln, Porzellan und Champagnerkühlern.
Der Franzose machte eine fast unmerkliche Kopfbewegung zu einem der Tische hin.
»Kennen Sie den Herrn dort?«
»Den dort am Tisch mit dem grünen Lampenschirm?«
»Ja.«
»Den großen, mageren Herrn mit dem vorgeschobenen Kinn und dem dunklen Knebelbart?« fragte Krag erstaunt.
Der Franzose nickte.
»Wären Sie Norweger,« sagte Krag, »so würden Sie diese Frage nicht gestellt haben. Er ist einer unserer bekanntesten Dichter. Botolfsen.«
»Ah, Dichter. Das paßt gut. Aber kennen Sie die Dame, mit der er speist?«
»Nein.«
»Die kenne ich,« sagte der Franzose, »und das ist der Grund, weshalb ich behaupte, daß die Geschichten, die Sie mir von dem Polizeileutnant erzählt haben, gelogen sind.«
»Wer ist denn die Dame? fragte Krag – er hatte eine merkwürdige Vorahnung, wie die Antwort ausfallen würde.
»Sie ist es,« antwortete der Franzose.
»Dadurch bin ich noch nicht klüger geworden.«
»Es ist Sonja,« sagte er.
Es entstand eine fast minutenlange Pause. Krag rührte sich nicht. Er blickte die ganze Zeit zu dem Paar hinüber und vermied die Augen des Apachen. Aber er wußte, daß gerade jetzt diese Augen intensiv forschend auf ihn gerichtet waren. Er begriff, daß hier eine Falle liegen konnte.
Darum wandte er sich ruhig und etwas erstaunt an sein Gegenüber und sagte:
»Ich kenne keine Sonja. Wer ist das?«
»Das ist die, die ich jetzt suche,« antwortete der Franzose.