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Asbjörn Krag konnte sich nicht verhehlen, daß ihm die Maskierungskunst des Franzosen imponiert hatte. In tiefster Bewunderung betrachtete er ihn fast eine ganze Minute. Der Typ war wirklich außerordentlich gut getroffen.
»Ich mache Ihnen mein Kompliment,« sagte er, »Ihre Maske ist wirklich ganz vortrefflich.«
Der Apache betrachtete Krag kritisch. Schließlich nickte er gnädig anerkennend, als ob er sagen wollte, daß der andere auch nicht so übel sei.
»Ich erkannte Sie nicht gleich,« sagte er. »Als Sie aber Ihre unverhohlene Verwunderung dem Schaffner gegenüber nicht verbergen konnten, wußte ich natürlich sofort, wer es war, der in dieser neuen Gestalt hereinkam. Sie wollten mich wohl überraschen?«
Asbjörn Krag antwortete der Wahrheit gemäß, daß es nicht der Fall sei. Wohl habe er die Absicht gehabt, sein Gegenüber zu verblüffen, aber sein Hauptzweck sei doch gewesen, sich vor seiner Ankunft in Christiania unkenntlich zu machen. Diese Erklärung leuchtete dem Franzosen ein.
»Aber Sie selbst,« fragte Krag, »warum haben Sie sich verkleidet?«
»Aus demselben Grunde,« antwortete der Apache. »Ich will nicht mehr in meiner vorigen Gestalt auftreten. Ich habe bereits gewisse Aufmerksamkeit in Norwegen erregt. Die Verhältnisse sind verflucht klein dort. Im allgemeinen finde ich, daß jede Verkleidung beschwerlich ist, so daß ich am liebsten so auftrete, wie ich von der Natur geschaffen bin. Aber ich will Ihnen was sagen. Jede polizeiliche Nachforschung nach einem Verschwundenen oder Verfolgten beginnt auf dem Bahnhof. Nun ist mir aufgefallen, daß sehr wenig Menschen in diesem Zuge sind, so daß man einen Mann mit meinem charakteristischen Aussehen zwischen so wenig Passagieren leicht erkennen würde. Jetzt kann man auf den Eisenbahnstationen in Christiania so viel nach einem Menschen mit südländischem Typus fragen, wie man Lust hat; man wird stets die Antwort bekommen, daß ein solcher nicht im Zuge war. Wer weiß, vielleicht steht sogar irgendeine unangenehme Persönlichkeit da und wartet auf mich! Sie wird vergeblich warten. Außerdem, lieber Freund, merken Sie nicht, daß ich in Mellerud ausgestiegen bin?
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin in Mellerud ausgestiegen.«
»Ich verstehe Sie nicht recht. Ich weiß ja, daß Sie sich in Mellerud verkleidet haben, und zwar vorzüglich, aber ich verstehe nicht, wie Sie beweisen wollen, daß Sie den Zug verlassen haben.«
»Sie haben den Schaffner ja selbst gefragt. Was hat er geantwortet?«
»Das ist allerdings wahr,« antwortete Krag, »wie ist es Ihnen gelungen, ihm das vorzutäuschen?«
»Das war sehr leicht,« sagte der Franzose, während er sich eine neue Zigarre anzündete. »Als ich bemerkte, daß Sie mit Ihrer Handtasche in den Toilettenraum gingen, begriff ich sofort, daß es Ihre Absicht war, sich zu verschönern, und gleichzeitig sah ich ein, daß es für mich selbst Zeit war, etwas für meine Sicherheit zu tun. Da ich allein im Abteil war, zog ich die Gardinen vor und öffnete meine Handtasche. Darin habe ich alles, was ich brauche. Diese Arbeit beansprucht nur eine Minute. Meine Maskierung ist außerordentlich praktisch eingerichtet. Wenn ich meine Handtasche bei mir habe, kann kein Teufel mich erwischen. Kein Verwandlungskünstler kann seine Sache besser machen. Bevor also der Zug in Mellerud einlief, war ich fertig. Damit der Schaffner mich nicht sehen sollte, ging ich auf die Plattform hinaus und blieb dort stehen, bis der Zug auf dem Bahnhof einlief. Im Halbdunkel sprang ich ab. Auf dem Bahnsteig waren fast keine Menschen, jedenfalls keine, die mich bemerkten, denn unser Wagen ist einer der letzten im Zuge. Dann lief ich zum Billettschalter und löste ein Billett von Mellerud nach Christiania. Nach all diesem kann der Schaffner bezeugen, daß der dunkelhaarige Herr in Mellerud ausgestiegen ist. Den neuen Passagier, der eingestiegen ist, wird keiner mit ihm in Verbindung bringen. Auf diese Weise ist es uns geglückt, ungesehen nach Christiania zu kommen. Und wenigstens in der ersten Zeit kann ich dort in völliger Sicherheit leben. Denn ich bin ja gar nicht da, lieber Freund, ich bin ja in Mellerud.«
»Glänzend,« sagte Krag, »ich glaube, wir beide werden prächtig zusammen arbeiten.«
»Vielleicht,« sagte der Apache, »ich habe einen Helfershelfer nötig. Bevor ich Sie aber benutze, muß ich mit tödlicher Sicherheit eines wissen.«
»Und das ist?«
»Ich muß wissen, ob Sie mutig sind.«
»Ich weiß eigentlich nicht, was das heißt, mutig sein,« antwortete Krag, »nur soviel weiß ich, daß ich mich nie fürchte.«
Der Franzose nickte nachdenklich und sah ihn aufmerksam und forschend an.
»Das ist eine vernünftige Antwort,« sagte er, »aber noch bin ich nicht überzeugt. Ich muß es mit Bestimmtheit wissen.«
»Haben Sie denn so gefährliche Dinge vor? fragte Krag. »Soll es hier oben in diesem kühlen Breitengrad wirklich ausnahmsweise um Tod und Leben gehen?«
»Ich habe einen Mann nötig, der den Tod nicht fürchtet,« antwortete der Franzose so gleichgültig, als ob er eine Bemerkung übers Wetter machte. »Aber,« fügte er hinzu, »ich verachte Menschen, die sich unnötig in Gefahr begeben.«
Dazu meinte Krag, er finde das Leben so voll von Möglichkeiten und Überraschungen, daß er nicht die geringste Lust verspüre, es ohne erbitterten Widerstand zu verlassen.
»Wenn Sie willig sind, mir zu helfen,« antwortete der Apache, »werde ich Sie auf die Probe stellen. Vorläufig aber haben Sie ja Ihre Aufgabe. Brauchen Sie Geld?«
»Nein.«
Der Zug hatte jetzt die norwegische Grenze erreicht. Der Morgen war schon vorgeschritten, und mehr und mehr Reisende stiegen ein. Die beiden Männer bekamen nicht mehr Gelegenheit, allein zu sein. Wie nach stillschweigender Übereinkunft beendeten Sie ihre Unterhaltung. Von jetzt ab waren sie Fremde. Nach der Ankunft in Christiania schieden sie mit einem fast unmerklichen Kopfnicken vor dem Ostbahnhof. Der Apache nahm im Omnibus des »Grand Hotel« Platz, und Asbjörn Krag nahm ein Auto und fuhr in seine Wohnung.
Den ganzen Tag war Krag in der Detektivabteilung beschäftigt. Er sandte Kollegen nach allen Richtungen, um einen jungen Burschen von näher bezeichnetem Aussehen ausfindig zu machen, der vor einigen Tagen in Christiania angekommen sein sollte. Alle Hotels wurden aufs Gründlichste untersucht. Als er sich gerade angekleidet hatte, um den Franzosen im Speisesaal des »Grand Hotel« zu treffen, erhielt er einen Eilbrief. Er sah gleich am Poststempel, daß er aus Kopenhagen sei, und erkannte Boyesens Handschrift. Er war mit dem Abendzug gekommen und sofort ausgetragen worden.
Ihm ahnte, daß sich wieder etwas ereignet habe. Der Brief enthielt folgende Mitteilung:
»Eben,« schrieb der dänische Detektiv, »ist der Advokat Gade, vollständig gebrochen, bei mir gewesen. Er kann den Verlust seiner Frau nicht verwinden. Der Kummer scheint ihn ganz nervös und verstört gemacht zu haben. Jetzt hat er auch einen anonymen Brief bekommen, der ihn noch mehr außer Fassung gebracht hat. Diesen Brief hat er mir überlassen. Er lautet folgendermaßen:
»Wenn Sie etwas über Ihre Frau zu erfahren wünschen, müssen Sie sich sofort in Christiania im Hotel Viktoria einfinden. Es ist wünschenswert, daß Sie auch Ihr Kind mitbringen. Sie müssen allein kommen. Jeder Betrug wird unnütz sein.«
Ich habe das Original behalten. Aber wenn Sie es für Ihre Untersuchung brauchen, werde ich es Ihnen gern senden. Ich habe dem Advokaten von der Reise abgeraten, da ich der Ansicht bin, daß es sich um eine Mystifikation oder um einen schlechten Spaß handelt. Die Sache hat ja gewisses Aufsehen in der Presse gemacht, und da kommt es oft vor, daß verrückte Leute sich hinsetzen und solche Briefe schreiben. Er aber hat Lust zu reisen. Er spricht von dem Verschwinden seiner Frau, als ob sie nicht tot sei. Und er sagt, daß er nichts unversucht lassen will. Was tun? Er wollte warten, bis ich Ihnen die Sache vorgelegt habe. Außer mir und Helmersen weiß niemand etwas von diesem neuen Brief.
Krag telegraphierte sofort: »Lassen Sie ihn reisen.«
Dann gab er auf dem Detektivkontor den Generalbefehl: »Das Nachforschen nach dem jungen Burschen einstellen.«
»Warum?« wurde gefragt.
»Weil er sich wahrscheinlich von selbst melden wird,« antwortete Krag.
Als er auf dem Weg zum »Grand Hotel« war, dachte er:
Es sieht fast so aus, als ob wir uns alle in Christiania wiedersehen sollen.
Die Uhr war jetzt elf, und er wußte, daß der Apache wartete.