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Frau Sonja erhob sich und blickte verstört zum Fenster. Sie horchten beide auf das Automobil. Sie hörten es brummend näherkommen. Da hielt es, und es trat wieder Stille ein.
Frau Sonja war in furchtbarer Gemütsbewegung.
»Wenn Sie den Mann näher kennten,« sagte sie, »hätten Sie ihn niemals hierherkommen lassen«.
»Ich kenne ihn recht gut,« antwortete Krag. »Er hält mich für seinen Freund. Ein Zufall hat uns in der Eisenbahn zusammengeführt. Er faßte Vertrauen zu mir, weil er glaubte, mich bei einem Diebstahl ertappt zu haben. Es versteht sich von selbst, daß ich kein Verbrechen beging; es war nur eine Komödie.«
»Wollen Sie hier in meinem Haus noch immer als sein Freund auftreten?«
»Ja, bis meine Arbeit beendet ist.«
»Sind Sie bewaffnet?« fragte sie.
»Ja,« antwortete Krag. »Heute abend bin ich bewaffnet. Ich bin auf alle Überraschungen vorbereitet.«
Sie ging zu einem kleinen Schrank und nahm einen blitzenden Gegenstand heraus. Krag konnte nicht sehen, ob es ein Revolver oder ein Dolch war. Sie verbarg den Gegenstand in ihrem weiten Kleiderärmel.
Und da schien es, als würde sie plötzlich ruhiger. Sie lehnte sich vornüber und sah Krag fast herausfordernd an, indem sie ihre Hände um die Knie verschränkte.
»Jetzt mag er kommen,« sagte sie, »ich bin bereit.«
Von draußen war kein verdächtiges Geräusch zu hören.
»Er kommt nicht herein, bevor ich ihm nicht ein Signal gegeben habe. Bevor ich ihn aber herein lasse, müssen Sie mir noch einige Fragen beantworten.«
»Fragen Sie nur! Da Sie so vieles wissen, können Sie auch das Letzte erfahren.«
»Sagen Sie mir, hatte sein grausames Auftreten gegen Sie einzig und allein pekuniäre Gründe? War es nur eine gemeine Gelderpressung oder auch etwas anderes?«
»Es war auch etwas anderes,« antwortete Sonja. »Wir sind einmal sehr gute Freunde gewesen.«
»Wie lange ist das her?«
»Das mag drei Jahre her sein.«
»Warum kamen Sie damals auseinander?«
»Eine Katastrophe trat ein, die uns alle trennte.«
Asbjörn Krag atmete tief auf.
»Endlich,« murmelte er, »endlich kommen wir zum Kern der Sache. Es handelte sich also nicht nur um Sie und ihn. Es waren auch andere dabei.«
»Ja. Wir waren ein großer Kreis.«
»Und alle diese wurden Ihre Feinde?«
»Nein, nicht alle. Einige sind tot.«
»Sie haben während unserer Unterredung,« sagte Krag, »außer Paris die Namen einiger Städte genannt. Sie haben von Marseille, sie haben auch von Reims gesprochen. An diesen Orten sind Sie also mit dem Menschen zusammengewesen. Ich erinnere mich, daß Reims ein bekannter Zufluchtsort für die Pariser Apachen ist. Ich erinnere mich ferner, daß Marseille das Zentrum der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung ist. Sie haben aber auch noch den Namen einer anderen Stadt genannt. Einer ganz kleinen Stadt in der Nähe von Paris, Asnières – nicht wahr? Ich kann Ihren erschrockenen Augen ansehen, daß ich recht habe. Ich entsinne mich, daß diese Stadt im Frühjahr 1912 der Schauplatz eines unheimlichen Verbrechens war, das mit den Automobilbanditen in Verbindung gebracht wurde. Waren Sie damals in Asnières?«
Frau Sonja erhob sich und trat an den Spiegel. Sie war sehr bleich.
»Wenn Ihr neuer Freund kommt,« sagte sie, »können Sie ihn danach fragen.«
Krag sah sie forschend an.
»Haben Sie jemals aktiv an einem Verbrechen teilgenommen?« fragte er.
»Ja,« anwortete sie. »Gerade in der Stadt, die Sie nannten. Aber ohne mein Wissen und meinen Willen. Wie Sie wohl aus meinen Bekanntschaften und dem, was ich Ihnen erzählt habe, entnommen haben, interessiere ich mich für Literatur. Meine Freunde haben mich allesamt betrogen. Es begann so hübsch mit einer Bewegung, die nur ideale Ziele hatte. Nach und nach aber wurden meine Kameraden in verbrecherische Unternehmungen hineingezogen. Ich brauche Ihnen nicht viel mehr zu erzählen, wenn ich Ihnen sage, daß Bonnet, der große Autobandit, zu unserem Kreis gehörte. Er war der Eifrigste bei unseren Zusammenkünften. Er schrieb glühende Artikel für unser Blatt. Anfangs hätte keiner von unserem Kreis sich denken können, daß das Ganze mit jenen verbrecherischen Ausschreitungen enden würde, die später die Welt in Erstaunen gesetzt haben. Unser Wahlspruch aber war ja der der unbegrenzten Freiheit. Ich bekam ziemlich bald einen Verdacht, was da werden würde. Dennoch blieb ich mit ihnen noch eine Zeitlang verbunden. Es waren so viele prächtige Menschen darunter, die sprachen so schön. Diese Abende, wo wir uns in irgendeinem geheimnisvollen Lokal, einem Zimmer in einem Hinterhof oder in einem Keller, versammelten, gehören trotz allem zu dem Merkwürdigsten und Schönsten, was ich erlebt habe.
Dann aber kam es. Ich vergesse nie den ersten Abend, als wir den kalten Hauch eines Verbrechens über uns spürten. Es war ein Raub begangen worden, um Geld für unser Blatt zu schaffen. Der Mann, den ich damals für meinen besten Freund hielt, derselbe Mann, der jetzt draußen wartet, hatte an dem Verbrechen nicht teilgenommen, aber er verteidigte es. Später bekamen unsere Zusammenkünfte etwas Unheimliches. Wohl sprachen wir wie sonst von idealen Dingen, aber dennoch war alles von geheimnisvollen Begebenheiten umhüllt, die um uns herum vorgingen, und bei denen wir auf gewisse Weise mitspielten. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten und flüchtete. Meine Flucht fand gerade zu einem Zeitpunkt statt, wo es wichtig war, daß alle zusammenhielten. Das wußte ich. Ich wußte auch, daß mein unvorhergesehener Schritt die andern in Gefahr bringen könnte. Aber ich war gezwungen so zu handeln. Ich wollte nicht noch tiefer in Verbrechen hineingezogen werden, die von Tag zu Tag zunahmen. Doch ich wußte auch, daß ich mich einer Rache aussetzte, die furchtbar sein würde, wenn sie mich eines Tages erreichte. Ich erzähle Ihnen dies alles, erzähle es einem, der mir unbekannt ist, obwohl Sie mir ein gewisses Vertrauen einflößen. Aber ich weiß, daß ich jetzt vor einer Entscheidung in meinem Leben stehe, und darum will ich gern alles klar legen. Das Schicksal wollte nicht, daß ich der Rache entrinne. Ich habe so lange wie möglich dagegen anzukämpfen versucht. Jetzt habe ich es aufgegeben. Ich überantworte mein Leben und mein Schicksal der Entscheidung, die nun getroffen werden soll. Rufen Sie jetzt Ihren Freund herein! Ich habe den Mut, ihm in die Augen zu sehen.«
Krag erhob sich.
»Ist das ein Revolver, was Sie in Ihrem Kleiderärmel versteckt haben?« fragte er.
»Auf diese Frage möchte ich Ihnen die Erwiderung schuldig bleiben.«
»Ist es eine Waffe?« fragte er weiter.
»Ja,« antwortete sie, »es ist eine Waffe.«
Krag ging zu dem Knopf des elektrischen Lichts. Er drehte es ein paarmal auf und zu. Dann wartete er.
Es waren noch nicht viele Minuten vergangen, als draußen vom Flur Schritte erklangen. Die Tür wurde geöffnet. Es war der Apache. Er lächelte auf seine sonderbare Weise. Er legte seinen Hut und Mantel auf einen Stuhl, ging auf Frau Sonja zu und sagte: »Ich liebe dich noch immer.«
Im selben Augenblick ertönte draußen wiederum das Geräusch eines Automobils, das näher kam. »Das ist der Ehemann,« dachte Krag.