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Bevor wir von Frau Sonjas Tod erzählen, müssen wir noch etwas von dem merkwürdigen Gespräch mitteilen, das zwischen den beiden Freunden, Polizeileutnant Helmersen und Asbjörn Krag, am Donnerstag abend stattfand. Es war in Asbjörn Krags Wohnung. Keiner von ihnen ahnte, daß zur selben Stunde die Kopenhagener Zeitungen bereits eine neue Sensationsnachricht brachten: die Nachricht von Frau Sonja Gades plötzlichem, unerklärlichem Tod!
Sie sprachen von dem Signalement, das Frau Sonja von der mystischen Person gegeben hatte, die ihren Mann auf der Treppe überfiel, und Asbjörn Krag erschreckte den Polizeileutnant durch die Andeutung, daß Frau Sonja vielleicht gelogen habe.
Es dauerte eine Weile, bevor der Polizeileutnant sich von diesem Schreckschuß erholte. Überhaupt besaß Krag ein einzig dastehendes Talent, vollkommen schonungslos zu sein. Wenn er an einer Sache arbeitete, schob er alle persönlichen Rücksichten beiseite. Er rechnete ohne Bedenken mit allen Möglichkeiten, die es nur gab, und nahm entschlossen das Schlimmste von den besten Menschen an. Damit weckte er hin und wieder Erbitterung, aber er riß dadurch auch oft eine Wand von unbegründeten Vorurteilen ein.
Er sah wohl, daß seine Worte den Polizeileutnant aufs Peinlichste berührten, aber dennoch verrieten seine Züge keine Spur von Gewissensbissen.
Er setzte seinen Gedankengang fort, als ob der andere gar nicht zugegen sei. Es war, als ob er mit sich selbst spräche.
»Ich finde es unwahrscheinlich,« sagte er, »daß ein verkommenes Individuum einen solchen Racheakt begehen sollte. Frau Gade hat ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß der Mann dürftig gekleidet war. Dabei war er, wie aus den Mitteilungen der Zeitung hervorgeht, mit einem erstklassigen Browning bewaffnet. Die Dürftigkeit des Mannes und sein Browning scheinen mir nicht recht übereinzustimmen. Sollte der Mann verkleidet gewesen sein? Wenn man eine solche Möglichkeit in Betracht zieht, müssen auch gewisse mystische Umstände bei diesem Drama mitspielen. Ich bin Ihrer Erzählung, lieber Helmersen, genau gefolgt und habe den bestimmten Eindruck bekommen, daß Frau Gade die beiden Apachen sehr gut kannte. Es waren ja Ausländer, wahrscheinlich Landsleute von ihr. Hätte der Attentäter sich verkleidet, dann würde sie ihn höchstwahrscheinlich trotz seiner Verkleidung erkannt haben. Also, wenn wir Frau Sonjas Bericht glauben sollen, müssen wir außer Betracht lassen, daß der Mann verkleidet war. Wir müssen mit dem rechnen, womit auch die Zeitungen rechnen, daß ein verkommener Mensch, eben aus dem Gefängnis entlassen, die wahnsinnige Tat begangen hat. Damit aber befinden wir uns ebenfalls mitten in einer Reihe von Unwahrscheinlichkeiten, an die ich für meinen Teil kaum glauben möchte. Bedenken Sie, auch ich kenne Verbrecher aus einer langjährigen Praxis. Die treten anders auf. Und der sonst gerechte und vorsichtige Gade hat wohl kaum eine so große Ungerechtigkeit begangen, daß ein Verbrecher ihm deshalb jahrelang seinen Haß nachtragen würde. Ich möchte behaupten, was vielleicht etwas paradox klingt: ein Verbrecher hat nicht genug Ehrgefühl im Leibe zu solcher Tat. Wenn ein armer Bursche hundert Kronen hat, wird er sich dafür lieber Branntwein und etwas zu essen kaufen, anstatt einen Revolver, um alte Geschichten zu rächen. Und wenn er schon einen Revolver hat, wird er ihn lieber verpfänden, als ihn zu solch törichtem Geschäft zu gebrauchen. Außerdem – ein Rächer will gern, daß man von seiner Rache erfährt, sonst fühlt er keine Befriedigung dabei. Und hier weiß man nur von zwei sinnlosen Schüssen im Treppenhaus. Denken wir uns dagegen die Möglichkeit, daß Frau Sonja gelogen hat, dann ist es sofort auffallend, wie mehrere Umstände stimmen.
Hat sie gelogen, so muß sie eine bestimmte Absicht damit verfolgen und außerordentlich wichtige Gründe für ihre Lügen haben. Wenn wir davon ausgehen, daß Frau Sonja lügt, können wir gut und gern annehmen, daß der Apache mit dem blauseidenen Halstuch der Attentäter war. Lassen Sie uns die Sache mal von dieser Seite betrachten: Zwischen Frau Sonja und dem Apachen besteht ein Geheimnis, noch dazu ein furchtbares Geheimnis. Als die Apachen im Badeort in ihrer Nähe auftauchten, ahnte sie ihre Anwesenheit nicht, und sie wußten nichts von der ihren. Sie erkannte zuerst den Mann mit dem Halstuch, und vom selben Augenblick fürchtete sie sich. Er erkannte sie erst bei dem Einbruch in der Villa, als er über die Dame mit dem schönen Haar so erstaunt war. Als sie merkte, daß sie erkannt war, wußte sie, daß es ihr nichts nützen konnte, sich länger zu verbergen, und darum begab sie sich freiwillig zu dem Stelldichein mit dem verdächtigen Burschen. Warum? Was war es für eine Verabredung? Wollte sie um Gnade bitten? Und weswegen? Wir wollen diese Frage vorläufig unerledigt lassen. Indessen können wir als sicher annehmen, daß es für die Verbrecher von größter Wichtigkeit war, sie zu sprechen, da sie alles aufs Spiel setzten, um nach ihrer Flucht in den Badeort zurückzukehren. Sie erinnern sich ja Frau Sonjas letzter Begegnung mit dem Banditen, nicht wahr? Na also, und Sie hatten den bestimmten Eindruck, daß sie sich trennten, ohne sich geeinigt zu haben. Man kann annehmen, daß er Frau Sonja gedroht hat. Sie hat Ihnen ja auch gesagt, daß sie sich von einer großen Gefahr bedroht fühle, und daß sie nichts dagegen habe, unter gewissen Umständen sich Ihrer Hilfe zu bedienen. Wir wissen nichts von Frau Sonjas Leben und Treiben seit jenem merkwürdigen Tage. Vielleicht ist sie in einer ewigen Angst umhergegangen. Vielleicht auch nicht. Ich rechne auch mit der Möglichkeit, daß sie mit den Verbrechern unter einer Decke steckt.«
Der Polizeileutnant sprang auf.
»Nein,« rief er, »jetzt gehen Sie zu weit!«
Asbjörn Krag hob abwehrend die Hand.
»Beruhigen Sie sich! Ich pflege alle Möglichkeiten zu erwägen. Wir sind jetzt so weit, daß wir wissen, daß Frau Sonja die beiden Verbrecher fürchtete, daß sie aber vielleicht nicht wußte, wann und wie ihr Angriff sie treffen würde. Dennoch bleibt die Vermutung offen, daß sie ein geheimes Spiel treibt. Nur die eine Möglichkeit können wir uns nicht denken: daß sie sich ihrem Mann anvertraut hat. Denn in dem Fall würde er höchstwahrscheinlich, seinem Charakter nach, die Polizei sofort benachrichtigt haben. Und in dem Fall würde die Polizei den Überfall besser durchschaut haben, als sie es anscheinend tut.
Dann kommen wir zu dem Attentat. Frau Sonja ist anscheinend eine sehr kluge Dame, aber dennoch hat sie einen Fehler begangen.«
»Einen Fehler?« fragte der Polizeileutnant.
»Ja, wenn es ihr darauf ankam, den wirklichen Verbrecher zu verbergen – wir gehen jetzt davon aus, daß es der Mann mit dem Halstuch war – dann hat sie einen Fehler begangen. Wie aus ihrer Beschreibung hervorgeht, hat sie Gewicht darauf gelegt, daß der Attentäter Dänisch spricht. Er sprach reinstes Dänisch, steht da. Warum aber hat sie darauf Gewicht gelegt? Um die Untersuchung von der richtigen Spur abzubringen und auf den Unsinn von Rache und dergleichen hinzuleiten. Und warum wieder hat sie das getan? Wenn wir das Beste von ihr annehmen wollen, und dazu neige ich in diesem Augenblick, so hat sie es getan, weil sie die Apachen noch immer fürchtet, und weil das Ganze vielleicht für sie und ihren Mann noch schlimmer würde, wenn sie sie verriete.
Das ist vorläufig alles, was ich in dieser merkwürdigen Sache sagen kann,« schloß Asbjörn Krag, »und hiermit haben wir alle Seiten in Betracht gezogen. Allerdings sind wir der Lösung des Rätsels nicht viel näher gekommen.
Vorläufig fehlt uns noch ganz und gar die Erklärung für drei Dinge:
Wer ist Frau Sonja?
Wer sind die Apachen?
Was wollen die Apachen?
Ich glaube, wenn eine dieser Fragen beantwortet ist, haben wir auch die Antwort auf die beiden anderen. Vorläufig aber tappen wir vollkommen im Dunkeln.«
Der Polizeileutnant erhob sich.
»Es ist sehr wahrscheinlich,« sagte er, »daß Ihre Darstellung richtig ist. Wie dem auch sei, ich habe das bestimmte Gefühl, daß Frau Sonja ehrlich ist, einen verzweifelten Kampf kämpft, und daß sie in Gefahr ist. Ich will reisen.«
»Nach Kopenhagen?«
»Ja. Würden Sie an meiner Stelle nicht auch reisen?«
»An Ihrer Stelle hätte ich Dänemark überhaupt nicht verlassen,« antwortete der Detektiv. »Jetzt aber möchte ich Ihnen einen guten Rat geben.«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Warten Sie bis morgen!«
»Warum?«
»Weil Sie dann vielleicht Reisegesellschaft bekommen,« antwortete Krag.
Der Polizeileutnant ergriff seine Hand und drückte sie warm.
»Schön,« sagte er, »dann geht in Erfüllung, was sie gesagt hat, daß zwei stärker sind als einer. Wir sehen uns morgen.«
Von trüben Grübeleien und bangen Ahnungen niedergedrückt, verließ der Polizeileutnant seinen Freund.
Das war am Abend gewesen. Nachts um zwei Uhr läutete Asbjörn Krag in der Privatwohnung des Polizeileutnants.
Helmersen begriff sofort, daß etwas geschehen sei.
»Sie müssen sich bereit halten, um sechs Uhr abzureisen,« sagte Krag, »es ist wirklich die unheimlichste Sache, mit der ich seit langem zu tun gehabt habe. Frau Sonja ist tot.«