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XII.

Am nächsten Tag feierte man Christi Himmelfahrt.

Zum erstenmal saßen Wilms und Hedwig in der Fliederlaube beim Kaffee.

Schwüle, dumpfig-warme Luft strich über die Erde, Bäume und Blumen standen regungslos, als sähen sie furchtsam zu den grauen Wolken empor, die sich dort oben zu gewaltigen schwarzen Bergen zusammenballten, die Hofschwalben umkreisten die Scheunen in schrägem, niedrigem Flug, dumpfe Gewitterstille ließ Menschen und Vieh verstummen, nur die Heuschrecken und Frösche auf der Wiese summten und quakten lauter als je.

Und still und schwül türmte sich auch etwas zwischen den beiden Menschen auf, die lautlos einander in der Laube gegenüber saßen. Geschäftig und leidenschaftlich für ihn besorgt, hatte Hedwig dem Pächter alles bereitet und zurecht gemacht, er hatte auch manchmal wie zum Dank mit dem Kopf genickt, jetzt aber brütete er wieder, das Haupt in die Hand gestützt, düster in das brauende Unwetter hinein, das wie an ungeheuren schwarzen Seilen bereits vom Himmel herunterhing. Schon klatschten einzelne, schwere Tropfen von der Höhe auf den Rasen.

Da erhob sich der Landmann, und Hedwig vernahm, wie er nach dem Kutscher rief, zugleich bemerkte sie auch, daß vor der Einfahrt bereits das Korbfuhrwerk wartete.

»Willst du fortfahren?« begann sie befangen.

Wilms nickte.

»Geschäftlich?«

Wieder neigte der Pächter schwerfällig das Haupt.

»Wirst du lange fort bleiben, Wilms?«

Noch immer suchten die Augen des Mannes scheu den Boden, aber zum erstenmal seit Tagen erteilte er doch eine Antwort. Gepreßt kam es heraus: »Ja, es kann woll – ein paar Tage dauern.«

Da freute sich das Mädchen, daß sie die erste war, die wieder seine Stimme vernahm, und im überwallenden Gefühl streckte sie ihm beide Hände entgegen, um sich von ihm zu verabschieden.

Aber er rührte ihre Finger nicht an. Düster stand der große Mann vor ihr. Wohl blieben seine überbuschten Augen groß und starr an ihrer rosigen Haut haften, wie wenn sie sich von dem Anblick nicht trennen könnten, als er aber scheu den Kopf hob, da umfaßte er das Mädchen mit einem so jammervollen, so verängsteten und geistig zerrütteten Ausdruck, seine breiten Lippen zitterten derartig krampfhaft, daß das Mädchen in jähem Entsetzen zurückbebte.

Ein kalter Schrecken rann durch alle ihre Glieder.

Sah sie nicht, daß der gequälte Mann mehrfach ansetzte, als wollte er dennoch ihre Hand ergreifen, um bald darauf seine Rechte wieder sinken zu lassen?

Was hinderte ihn nur?

Etwas Unsichtbares, Unerklärliches mußte sich regelmäßig vor ihm erheben, und mit einem plötzlichen Entschluß riß er sich jäh von dem Mädchen los und lief, ohne ein weiteres Wort, wie gehetzt zu seinem Wagen.

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, und bald hörte die Zurückbleibende, wie der Wagen davonrollte.

Matt lehnte sie sich an die Wand der Laube und sah abgespannt in den grauumzogenen Himmel hinauf, von dem der Gewitterregen noch immer nicht auf das lechzende Land niederrauschen wollte.

»Das also ist das Ende?« dachte sie. Sie griff sich an die Stirn und fuhr auf. Ihre ganze Umgebung schien ihr plötzlich so fremd; wie konnte sie nur in diesem öden, verwunschenen Gehöft so lange gesäumt und geharrt haben, sie, die doch mit ganz anderen Hoffnungen in die Welt hinausgetreten war?

Ein langes blendendes Leuchten ging über den Horizont, ein dumpfes fernes Murren schob sich dazwischen, und ein kurzer Regenguß pfiff über das Land.

Die Bäume schüttelten sich und richteten sich auf. Auf Blättern und Halmen perlten große Tropfen.

Aber auch Hedwig war aufs neue erfrischt, sie hatte ihre Schwäche überwunden. – Spielend dehnte sie ihre Gestalt und schritt mit ihrem kräftigen Gang in die Wirtschaftsgebäude, um ruhig und sicher, wie früher, das Gesinde zu leiten und in Wilms Abwesenheit die Geschäfte des kleinen Gutes zu besorgen.

»Nimm die leeren Säcke dort vor dem Fenster fort, Dörthe,« ordnete sie mit ihrer frischen Stimme an.

»Ja Fräulen, die liegen man noch da, damit die sel'ge Frau nich durch das Wagengerassel gestört werden sollt.«

»Nun ja – aber meine Schwester braucht sie jetzt nicht mehr, wir aber könnten die Säcke vielleicht noch nötig haben.«

Die Leute gehorchten ihr. Unbedingte Ordnung und widerspruchsloser Gehorsam waren in das Gehöft eingekehrt.

Und Hedwig selbst hatte ihre ganze Sicherheit zurückgewonnen.

Sie wußte jetzt, daß über Wilms der finstere Geist der Schwermut schwebe, daß die Tote dennoch aus dem Grabe auferstanden sei, um unversöhnt die beiden, die nach einander verlangten, auseinander zu scheuchen. Aber sie scheute die Frau im weißen Hemde nicht. Die Lebende war vor ihr gewichen, und deshalb wollte sie alle Kraft einsetzen, um auch den blutlosen Schatten aus dem Hause zu jagen.

Draußen schlugen harte Tropfen gegen das Wirtschaftsgebäude, aus den grauen Nebelwänden rollte und polterte es dumpf heran.

Eine zischende Windsbraut wirbelte über das Gehöft.

§§§

Wilms fuhr die Landstraße entlang. Sein Ziel waren ein paar große Güter in der Umgegend von Greifswald. Als er an der Kirche von Boltenhagen vorüberkam, schallte Orgelklang und Gesang heraus, so daß er aus seiner Versunkenheit aufgestört wurde.

Er wunderte sich.

»Jochen, was is heut für ein Tag?« fragte er seinen Kutscher.

»Ja Herr, weiten Se dat nich? Hüt hewwen wi ja unsen Herrn Christ sin Himmelfahrt.«

Wilms faßte sich an den Kopf.

Hatte er denn alle Zeitrechnung verloren, daß er von dem hohem Festtag gar nichts wußte? Früher hatte er an diesem Tage stets neben Else im eichenen Kirchenstuhl gesessen und andächtig mitgesungen. – Seitdem aber Hedwig auf dem Gehöft wirkte – – – nein, nein, er wollte nicht weiter denken.

Rasch sprang er vom Wagen herab und schritt hastig über die Treppen in das Gotteshaus hinein.

Vielleicht wohnte hier doch das Heil, vielleicht konnte hier die unselige, feige Angst von ihm genommen werden.

Die Kirche war gedrängt voll. Eben schwieg die Orgel, und der kleine Pastor Schirmer begann von der Kanzel zu predigen. Rührend und beweglich schilderte er die Leiden und göttliche Sanftmut des Gottessohnes, und wie er nach seiner Auferstehung den Jüngern, die ihn nicht kannten, in seinem weißen Gewande am See Tiberias erschienen sei, um sie den gesegneten Fischzug tun zu lassen.

»Und seine Gestalt war wie der Blitz, und sein Kleid weiß wie der Schnee.«

Da zuckte Wilms, der auf der hintersten Bank Platz genommen hatte, erbleichend zusammen. Das Wahnbild, das ihm vorschwebte, trat wieder vor seine Augen, es wurde schwarz vor ihm, Kirche und Menschen drehten sich im Kreise.

Die stürmische Angst jagte ihn von dannen.

Nur hinaus – in die Luft – ins Freie, daß er atmen konnte. Schwankend erhob er sich.

Allein der Eintritt des Pächters war von seinen Nachbarn bemerkt worden. Leise flüsterten sie sich zu, wie elend, krank und abgezehrt der Landmann aussehe, und Förster Eltze, der in seiner Nähe gesessen, folgte ihm hinaus.

Und gerade als der nach Luft Ringende seinen Wagen erreicht hatte, ergriff der gutmütige Riese die Hand des Pächters und hielt ihn zurück.

»Wilms, sind Sie krank?«

Der Pächter starrte den andern an.

»Ja – Eltze – ich kann – in der Nacht nich mehr schlafen.«

»Ach, Unsinn, alter Freund, warum denn nicht?«

»Weil – weil meine Frau immer bei mir is.«

»Wilms – um Gottes willen – alter Freund, das reden Sie sich bloß ein.«

Der Pächter zuckte die Achseln, und während er sein Gefährt bestieg, antwortete er wehmütig: »Das kann woll sein,« dann grüßte er den Förster noch kurz, und im nächsten Moment rollte das Fuhrwerk in das graue Unwetter hinein.

»Jochen, gib auf den Herrn Obacht,« rief Eltze voller Besorgnis den Abfahrenden nach.

Und er hatte recht mit seiner Warnung, der gutmütige Weidmann.

Der finstere Geist, der den Unglücklichen mit seinen schwarzen Fittichen beschattete, senkte sich immer tiefer auf sein Opfer herab, so daß die Nacht noch düsterer in ihm wurde.

Am Himmel zuckte und leuchtete es, in langen Linien schossen die schmalen Feuerstreifen dahin, aus den dunklen Wolkengründen heraus rollte der Donner und hallte verendend über die weite Ebene.

So waren die Reisenden an einen unbeträchtlichen Landsee gelangt, der mit einem Wasserarm die Chaussee unterbrach, so daß sie an dieser Stelle überbrückt war.

Aus Binsen und Schilf, die das unbewegte Wasser umgaben, quollen feuchte graue Dünste empor, fahl und farblos lag die Fläche, nur an der Brücke erhoben sich ein paar verkrüppelte Silberweiden.

Eben rasselte das Gefährt über das morsche Holz, als Wilms Blick gleichgültig über den schweigenden See schweifte.

Aber dann – der Pächter richtete sich auf und stierte auf das jenseitige Ufer hinüber.

Er mußte etwas Furchtbares erschauen, denn kalter Fieberschweiß brach ihm aus allen Poren, mit der Hand umfaßte er die Schulter seines Knechtes.

»Jochen,« schrie er, »kehr' um.«

»Herr – Herr Jesus – wat is denn?«

»Jochen – Jochen – kehr' um.«

Der Kutscher begann am ganzen Leibe zu zittern:

»Herr, Se sünd woll krank? Wat is denn dor äwern See? – Seggen Se mi's doch – ick fürcht mi.«

Aber der Landmann brachte kein Wort hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er über die graue Fläche, denn der düstere Geist, der über ihm war, malte ein entsetzliches Bild.

Dort drüben stand eine weibliche Gestalt, ihr Hemd war »weiß wie der Schnee«, ihre Augen funkelten wie grelle Blitze, und über ihr entlud sich schmetternd ein krachender Donnerschlag.

Da begann es dem Knecht vor dem hinstarrenden Manne zu grausen, mit aller Kraft warf er die Pferde herum und jagte unter prasselndem Regen mit seinem ohnmächtigen Insassen den Weg, den er gekommen, wieder zurück.

§§§

Zwei lange, bange Wochen verstrichen, dann konnte der Pächter das große Bett in der Wohnstube, an dem Hedwig Tag und Nacht gewacht hatte, verlassen.

Es schnitt allen ins Herz, als sich der ehemals so riesenhafte Mann kraftlos reckte und sich mit einem wehmütig lächelnden Blick im Spiegel beschaute.

»Na, Wilms, nu frische Luft,« rief der dicke Dr. Rumpf – »und dann, Kinding, die Fenster auf und was Ordentliches für den Magen – – paar Buddeln Rotspohn, und Hauptsache: raus, raus!«

Und am Arm des Physikus ließ sich Wilms in den Garten leiten, in dem jetzt die Linden blühten und einen erquickenden, würzigen Duft verbreiteten.

»Ach, hier ist es schön,« sagte der Landmann, als er in der Laube saß, bewundernd, »komm, Heting – und Sie auch, Herr Doktor, wir wollen noch ein bißchen zusammenbleiben.«

Die beiden andern warfen sich einen bedeutsamen Blick zu und gedachten ihn durch ein harmloses Gespräch ein wenig aufzumuntern, jedoch der Pächter ließ sie nicht zu Worte kommen.

Er war so gesprächig, wie seit vielen Jahren nicht. Alles, womit ihn die Natur umgab, erinnerte ihn an Begebenheiten aus seiner Jugend, aus seinen Lehrjahren und erweckte auch das Andenken an seine Mutter.

»Trägst du noch den Ring, Heting? – Nicht wahr, den wirst du doch immer in Ehren halten? Weißt du noch – am Weihnachtsabend?«

Nur Else erwähnte er nicht. Es schien, als ob das Grab sie nun doch festhalte, als ob die Erde sich endlich dauernd über ihr geschlossen hatte.

Als der Physikus nach einiger Zeit seinen Wagen bestieg, folgte ihm Hedwig und fragte rasch und verzweifelt:

»Nun, Herr Doktor, nun?«

»Ja, was soll ich sagen? – Ernährung, mein Kind, Ernährung. Das ist das allereinzigste Mittel.«

»Ja aber, Herr Doktor, er ißt ja fast gar nichts.«

»Heting,« sprach der Physikus ernst und strich dem Mädchen über die heiße Stirn, »jetzt hängt alles von dir ab, verstehst du?«

»Nein.«

»Der Mann ist seelisch krank,« sagte der Doktor langsam, indem er ihr fest in die Augen sah, »verstehst du jetzt, warum alles von dir abhängt?«

Da wurde das Mädchen blaß und wieder dunkelrot und sah vor dem alten Freunde zu Boden.

Sie verstand ihn.

»Und morgen komm' ich wieder,« rief der Physikus in anderem Ton, küßte seiner jungen Freundin im Vorübergehen die Hand und fuhr vom Hofe herunter.

Mit glühenden Wangen lief Hedwig in den Garten, jetzt wußte sie es, was der erfahrene Arzt verlangte, sie sollte den geliebten Mann verlassen. – Sie – sie selbst hielt man für die Ursache, daß er nicht zur Ruhe kommen könnte; war es möglich, daß ihre Gegenwart ihn quälte und peinigte? – Glaubte er sich wirklich sündenbeladen, weil er ihr blühendes Leben der Todverfallenen vorgezogen? – Die Tote siegte, die Tote ging im Hause umher, die Tote behauptete den Platz an seiner Seite. – Nein, so konnte sie sich nicht verscheuchen lassen. – Schmeichelnd setzte sie sich neben Wilms, und als er sie musternd anlächelte, schlang sie ihre weichen Arme um den abgezehrten Mann, und flüsterte mit ihrer angsterfüllten bebenden Stimme: »Wilms, ich liebe dich ja so sehr, nicht wahr, jetzt wirst du auch wieder gesund werden?«

Und wie ihre Lippen sich auf die seinen legten, da war es ihm, als ob ein köstlicher, erfrischender Heiltrank in ihn hinüberströme, der alle seine Glieder mit einer wohltuenden Schlaffheit erfüllte, so daß er sein Haupt müde an ihre Brust lehnte und dort zu schlummern strebte.

»Ja, Heting,« murmelte er erquickt, »nun werden wir bald sehr glücklich sein.«

»Und nicht wahr, an Else erinnerst du dich nicht mehr so wie damals?«

»Nein, nein, Heting – laß das – an meine Frau denke ich nich mehr – will nich mehr – nur du.«

Waren es die Lindenblüten, die der leise Wind von den Zweigen schaukelte, war es Hedwigs Nähe, der müde Mann schlummerte an ihrer atmenden Brust wie ein beruhigtes Kind sanft und sicher ein.

Eine Schwarzdrossel nistete oben in der Krone der Linde. Die sang das Schlummerlied.

Aber in dem Mädchen zehrte und bohrte der Gedanke an die verlangte Trennung weiter.

§§§

Ein andermal sah der Kranke aufmerksam und nachdenklich auf Hedwigs stolzen, weißen Hals, von dem sich ein schmales, goldenes Kettchen abhob.

»Heting, trägst du da nicht – – –?«

»Ja, Elsens Goldherz.«

»Das besitzt du?«

»Ja, ich hab' es ihr abgenommen.«

Der Pächter stützte das Haupt und blickte sinnend vor sich hin.

»Mir is es doch lieb,« sagte er endlich, »daß sie es nicht mitgenommen hat in die Erde. – Mir wär' es dann immer gewesen, als wär mein Herz mit begraben. – So aber liegt es bei dir.«

Dann streckte er die Arme aus und zog sie an sich. Und beide klammerten sich aneinander, als ob sie Schutz suchten vor dem weißen Schatten, der unerbittlich durch das Haus ging.

Und als sie sich immer leidenschaftlicher in seine Arme schmiegte, da ging es wie ein Beben durch den kranken Körper. »Heting – Heting,« stammelte er, »ich werd' – wohl nie wieder ganz glücklich werden.«

Da fröstelte das liebeglühende Mädchen zusammen und verstand ihn.

§§§

Wilms Seelenzustand wurde immer trübsinniger. Oft, wenn Hedwig unvermutet zur Tür hereintrat, dann traf sie ihn, wie er starr auf die Schwelle hinblickte, auf der einst Else entseelt dahingesunken, und wenn sie dann auf ihn zuflog, um ihn durch ihre Liebe zu ermuntern, dann kam ein Ausdruck von Furcht in seine Augen, als wenn ihn ihre Zärtlichkeit quäle.

Und einmal rang er sich schwer die Worte ab: »Heting, küß mich nich so – mir is es immer, als wenn Else zusäh.«

Da zuckte das Mädchen zusammen, und so oft sie sich ihm in den nächsten Tagen näherte, immer glaubte sie etwas Kaltes, Frostiges zu spüren, das an ihr vorbei strich.

Sie faßte sich an die Stirn und begann schmerzlich zu lächeln. Sie fing an, an Gespenster zu glauben.

Mit der Zeit begann der Kranke auch Elses Namen immer häufiger in seine Reden zu mischen. Bald erinnerte er sich an Worte seiner Frau, bald an allerlei Eigentümlichkeiten, und eines Tages, beim Mittagbrot, merkte Hedwig, daß sie der Pächter mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen beobachtete:

»Was hast du denn, Wilms?«

»Du – du siehst – ihr doch sehr ähnlich,« stammelte der Landmann fassungslos und ließ Messer und Gabel aus seiner Hand klirren.

Und am Nachmittag nahm Hedwig aus der Nebenstube wahr, daß Wilms, anstatt zu schlafen, bitterlich vor sich hin schluchzte.

Dagegen vermochte sie nichts. Die Tote siegte.

Ihr wunderbarer, prachtvoller Körper blühte neben ihm, und der Kranke koste und scherzte mit der Verwesten.

§§§

»Onkel Doktor,« weinte Hedwig vor sich hin, als sie mit dem weißbärtigen Physikus, den sie hatte holen lassen, in der Laube saß, »was soll ich dagegen tun?«

Sie hatte dem alten Freunde alles gebeichtet, was sie seit dem einen Jahre auf diesem Gehöft erlebt hatte.

»Was du tun sollst?« fragte der alte Herr und legte die beiden Hände des jungen, fiebernden Geschöpfes in die seinen. »Heting, mein Kind, ich hab' dich lieb und habe Wilms lieb, und deshalb sag' ich, du mußt fort.«

Sie starrte ihn mit ihren großen, braunen Augen an, und der Physikus fühlte an ihren Händen, wie das Blut in den Adern hämmerte und schoß.

»Still, Kind, still,« sagte er, »du willst ihn doch nicht zugrunde richten, und sieh, so oft er dich anblickt, immer wird er in dir die Ursache sehen, die die Verstorbene in den Tod getrieben. – Nein, nein, mein Kind, bleib ruhig, ich weiß ja, du liebst ihn sehr, aber eben deshalb, Heting, bitt' ich dich, befrei' den armen Kerl von all' den bösen Erinnerungen. Glaub mir, so lange du hier bleibst, bleibt auch die Tote bei ihm. – Nicht wahr, das hast du doch selbst schon bemerkt?«

Hedwig senkte das Haupt, aber sie nickte leise. Dann sah sie mit sehnsüchtigem Blick auf den blühenden Garten hinaus, auf die anstoßende, saftige Wiese, auf die fernen Äcker, auf denen sonnendurchleuchteter Staub dahinzog.

Überall hatte sie hier gewirkt und geschafft. Ordnung und Wohlstand hatte sie zurückgezwungen. Das hatte die Tote doch nicht vermocht.

Unter ihren Tränen zog ein trotziges Lächeln über das blasse Gesicht.

»Nun, Heting,« fragte der Physikus und stand auf: »Weißt du nun, was du zu tun hast?«

Sie nahm noch immer das Bild der blühenden Felder in sich auf, mit bebender Brust sog sie die frische Landluft in sich ein. Ja, sie hatte alles für eine glückliche Zukunft vorbereitet, aber einwandern sollte sie nicht in das gelobte Land.

»Heting?« fragte der Arzt dringender.

»Sehen Sie, Herr Doktor,« rief das Mädchen, indem sie mit der Hand nach dem schönen Gut zeigte: »Diese Saat habe ich bestellt, sehen Sie dort drüben die grünen Halme? Aber ernten mag sie ein anderer,« flüsterte sie mit erstickter Stimme.

Da streichelte der alte Herr dem jungen Geschöpf die welligen braunen Haare aus der heißen Stirn, nahm sie in seine Arme, und während ihr Schluchzen zu ihm heraufdrang, sagte er wie zu einem kleinen Kinde:

»Recht – recht – du bist ein tapferes, kleines Ding, es wird auch alles wieder gut.«

§§§

»Heting,« sagte Wilms an einem der nächsten Tage, als sie nach dem Kaffee in der Wohnstube zusammen saßen, »du bist ja so vornehm angezogen, willst du ausfahren?«

Das Mädchen sah ihn lange und ernsthaft an, als wollte sie sich jeden seiner Züge einprägen, dann schüttelte sie trübe lächelnd das Haupt, aber sie wandte sich ab und ließ ihren Blick lange auf dem Hof ruhen und sah grüßend zu den Pappeln der Landstraße hinüber.

Nach einer Weile kehrte sie dem gebeugten Mann ihr schönes Gesicht zu und fragte einfach und doch voll verschlossenen Wehs:

»Wilms, hast du mich wirklich ein bißchen liebgewonnen?«

»Wie kannst du nur so fragen, Heting.«

»Und mehr – mehr als Else?«

»Ich bitt' dich, Kind – daran mußt du nicht rühren – laß sie doch ruhen.«

Er verzog die Stirn und schüttelte matt den Kopf.

»Bist du mir böse?« rief Hedwig plötzlich leidenschaftlich, und während sie sich vor dem Stuhl des gebeugten Mannes in die Knie warf, umschlang sie den Kranken und hob sich selbst zu ihm empor: »Nicht wahr, du bist nicht böse auf mich?« flüsterte sie mit schwankender Stimme und schmiegte sich an ihn, »ich habe doch alles bloß aus Liebe zu dir getan, das weißt du doch, Wilms?«

Der Landmann wurde gerührt. »Ja, mein Kinding, ja,« sprach er liebevoll und streichelte ihr das goldglänzende, braune Haar.

Da stand Hedwig langsam auf und sah sich noch einmal aufmerksam in der Stube um. Dann schritt sie rasch zum Klavier, um Wilms, wie sie das um diese Zeit schon gewöhnt war, etwas vorzuspielen. Müde und erschlafft, wie er war, wiegten ihn die Töne noch immer am leichtesten in den ersehnten Schlummer.

»Was soll ich spielen?«

»Ganz gleich, es is ja alles schön.«

»Nein, was du gern hast.«

»Nun, dann das von Weihnachten, du weißt ja, Heting.«

Sie schloß die Augen, ein süßer Schauer durchfuhr sie zum letztenmal. Und dann spielte sie das alte Volkslied, das schon so unendlich viel Müde eingesungen.

Draußen rollte ein Wagen auf der Chaussee heran, Hedwigs Herz klopfte zum Zerspringen, aber sie ließ sich nichts merken und spielte tapfer den alten Sang, so leise und wehmütig und klagend, daß dem Kranken, der doch nicht wußte, was ihm bevorstand, die Tränen in die Augen traten.

Und er schlummerte wirklich sanft und lächelnd ein, während das Abschiedslied leise austönte. Als er erwachte, war das Zimmer leer. Alles war still, nur von der Landstraße hörte man dumpfen Hufschlag und das Rollen eines enteilenden Gefährts.

§§§

Der Förster hatte Hedwig in seinem Wagen zur Bahn gebracht, und sah zu ihr bewundernd in das Coupé hinauf.

Feurig und blutrot ging am Himmel die Sonne zur Rüste, davon mochte das Mädchen so rosig übergossen sein, als sie zum Fenster hinaus nach der Gegend spähte, wo Wilmshus lag.

Aber das Gehöft war längst hinter dem Tannenschlag versunken, und merkwürdig, wie Hedwig jetzt am Fenster lehnte, war sie wieder die vornehme, junge Dame, die vor mehr als einem Jahr an dieser Stelle angekommen war.

Sie begriff sich selbst nicht; seit der öde Pachthof hinter ihr verschwunden war, strömte ihr frischere Luft entgegen, ihr war es, als hätte sie selbst ein Jahr lang siech gelegen und sollte jetzt zum erstenmal wieder in die lachende, sonnenfunkelnde Welt hinaus.

»Wohin gehen Sie jetzt, Fräulein Hedwig?« fragte der Förster.

»Ich weiß nicht. – Überall, wo es für mich etwas zu tun und zu schaffen gibt. – Die Welt ist groß.«

»Da haben Sie recht. – Und kommen Sie vielleicht bald hierher wieder zurück?«

»Auch das kann sein. Wir Menschen wissen ja nie, was die nächste Stunde bringt.«

Die Glocke klang. – Der Förster schwenkte seinen grünen Hut.

»Grüßen Sie Wilms,« rief Hedwig mit hervorbrechenden Tränen.

Der Zug bewegte sich, und rascher und rascher fuhr er in die rotgoldene Abendglut hinein.

Hedwig sah nicht mehr zurück.


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