Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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11. Kapitel
In der Königskammer

Trotz des packenden Abschlusses voll poetischer Gerechtigkeit – in diesem Lichte sah ihn Buchwald – bedauerte Thinker den peinlichen Zwischenfall lebhaft. Er schien etwas von der Weihe zu nehmen, die der wackere Doktor so gerne mit dem ersten Besuch des Pyramideninneren verbunden hätte. Er vergaß, eine wie gewöhnliche Erscheinung es ist, daß sich das Allzumenschliche um so hartnäckiger aufdrängt, je feierlicher der Augenblick ist, an dem wir es aus unserem Gesichtskreis zu verbannen wünschen. Unter diesem Zeichen war auch der heutige Tag angebrochen.

Doch hatte die ägyptische Sonne, die in ihrer gewohnten Strahlenpracht aufgestiegen war, die leichten Morgennebel längst zerstreut, als zwei Stunden später Thinker und Buchwald, begleitet von den vier Arabern, die mit ungewohnter Pünktlichkeit erschienen waren, am Eingang der Pyramide ihre Vorbereitungen für den Abstieg in das Innere trafen. Man konnte sofort bemerken, daß es sich nicht um einen jener nichtssagenden Besuche einer Gesellschaft von Vergnügungsreisenden handelte, die mit fröhlichem Gelächter und törichten Scherzen zu beginnen pflegen und mit kräftigem Schimpfen über ›wenig lohnende‹ Mühseligkeiten enden, Forschungsfahrten, für welche der ernstere Teilnehmer, der seinen Baedeker studiert hat, höchstens eine Pistole, des Knallens wegen, und ein paar belegte Butterbemmen mitnimmt. Zwei der Beduinen erhielten Fackeln, die andern, Buchwald und Thinker große, dicke Wachskerzen, als sollte eine feierliche Prozession veranstaltet werden. Der eine der Araber hatte, anfänglich wenigstens, zwei Meßstangen zu tragen, die er nach kurzer Zeit heimlich zurückließ. Eine kleine Leiter wurde schon am Eingang im Stich gelassen. Der andere trug einen Thermometer und einen Kompaß. Der erste Fackelträger, den man stets im Auge behielt, war mit hinreichendem Mundvorrat bepackt, um bis gegen Abend im Innern bleiben zu können; der andere trug zwei wohlgefüllte Kullahs, die beide nach einer halben Stunde zerbrochen waren. Buchwald mußte auf die dringende Bitte Thinkers sein großes Skizzenbuch mitnehmen und der Doktor selbst waffnete sich mit einem gewaltigen Notizbuch und zwei Maßstäben. Doch sollte dies alles nur einen vorbereitenden ersten Überblick ermöglichen und im allgemeinen zeigen, ob und wie sich die Erwartungen, welche die jahrelangen Vorstudien in Europa erweckt hatten, weiter verfolgen ließen.

Thinker warf einen letzten, traumverlorenen Blick auf die sonnige Wüstenlandschaft zu seinen Füßen und rief dann feierlich: »Vorwärts, in Gottes Namen!« Buchwald gab, in Ermangelung des unpäßlichen Dragomans, dem ersten Fackelträger einen sanften Stoß, so daß er mit einem erschreckten Ausruf die steile, glatte Kalksteinfläche gegen die Mündung des Eingangs hinabglitt, sich aber noch rechtzeitig bückte und in der viereckigen, schachtartigen Öffnung verschwand. Die andern folgten vorsichtiger; voran Thinker, brennend vor Wißbegierde, aber trotzdem langsam fortkriechend und entschlossen, sich nichts von der kleinsten Bedeutung entgehen zu lassen. Ihm folgte der Maler, kaum weniger neugierig, denn Thinkers wunderliches Gedankenleben war ihm nach und nach ins eigene Blut gedrungen. Er war in den letzten Tagen nahe daran gewesen, das alte: »Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!« in dieser unpassenden Verbindung ärgerlich vor sich hin zu brummen. Dann kamen die zwei Araber mit den Lichtern und zum Schluß der zweite Fackelträger: ein ansehnlicher Aufzug, dessen Teilnehmer jetzt in tiefgebückter Haltung, sich vorsichtig gegen die glatten Seitenwände stemmend, in dem steil abfallenden Gang hinunterglitten.

Der tunnelartige Schacht senkt sich unter einem Winkel von annähernd dreißig Grad nach unten, eine Neigung, die es nahezu unmöglich macht, auf den glatten Steinplatten ohne seitlichen Halt zu stehen. Die Höhe des Ganges ist kaum vier Fuß, die Breite etwas über drei. Decke, Seitenwände und Boden bestehen nicht aus dem Numulitenkalk des Gesamtbaus, sondern aus gewaltigen Blöcken eines besonders harten Kalksteins, der in weit entfernten Steinbrüchen der östlichen Wüste gefunden wird. Die Blöcke sind in rechtwinkligen Fugen so genau aneinandergepaßt, daß sich kaum eine Federmesserklinge in die Ritzen stecken läßt. Diese Fugen schienen Thinkers Aufmerksamkeit ganz besonders zu fesseln; er konnte an keiner vorüber kommen, ohne sie mit seinem Licht zu verfolgen und sein Taschenmesser in die dünne Linie einzuführen. Die Fortschritte, die auf diese Weise gemacht wurden, waren sehr gering. Aber schon etwa fünfzehn Meter vom Eingang kam die Gesellschaft überhaupt zum Stillstand, da der Doktor entlang der glatten, schwärzlichen Wandfläche ängstlich nach etwas suchte. Plötzlich legte er mit einem lauten Freudenruf die eine Hand gegen den Stein, und hielt mit der andern den erstaunten Fackelträger fest, so daß er die Stelle grell beleuchten mußte.

»Sehen Sie, Buchwald«, rief er erregt, »hier ist es! Vergessen Sie nie in Ihrem Leben, daß ich Ihnen heute diese Stelle gezeigt habe.«

Buchwald sah nichts als an den sonst glatten, fast poliert aussehenden Seitenwänden des Ganges, die hier vom Boden bis zur Decke von einem einzigen Felsblock gebildet werden, sowohl zur Rechten, als zur Linken, eine senkrechte, wie mit einem Meißel eingeritzte Linie, die Thinker mit strahlenden Augen und mit einem vom roten Fackelschein förmlich verklärten Gesicht betrachtete.

»Sehen Sie denn nicht?« flüsterte er, wie wenn er Buchwald das tiefste Geheimnis mitzuteilen hätte. »Das sind Zeitmaße. Jede dieser Fugen hat ihre Bedeutung in der Geschichte der Menschheit. Ihre räumliche Entfernung voneinander mißt die zeitliche Entfernung der Ereignisse. Ein Pyramidenzoll ist ein Sonnenjahr. Der Anfang dieses Ganges ist für immer zerstört; der Anfang der Menschheit wird uns für immer in Dunkel und Zweifel gehüllt bleiben. Die Kante des ersten Steins des Ganges aber, an der wir vorüberkamen und die heute aufgedeckt im freien Sonnenlichte liegt, bedeutet die Zerstreuung des Menschengeschlechts beim Turmbau zu Babel. Damals versuchten die irrenden Kinder der Welt ein ähnliches Denkmal ihrer Größe und Weisheit aufzurichten. Heute sucht man seine Trümmer vergeblich an den Ufern des Phrat. Hier am Nil, an dieser heiligen Stätte, hat eine andere Macht und Weisheit einen Bau errichtet, der stehen wird, so lange die Welt steht. Und diese zwei wunderbaren Linien, die einzigen, die genau senkrecht zum Erdhorizont gezogen sind, denn alle übrigen Fugen stehen senkrecht zur Richtung des Ganges, bezeichnen das Jahr des Heils, in dem die Pyramide gebaut wurde. – Dreihundert Zoll, dreihundert Jahre seit dem Turmbau zu Babel. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen dies sagte. Sie halten jetzt den Schlüssel zu dem, was ein vergessener Prophet in diesen Bau gelegt hat.«

Es war nicht wahrscheinlich, daß Buchwald den Augenblick dieser Mitteilungen vergaß, denn zum erstenmal seit längerer Zeit fragte er sich wieder, und diesmal mit wirklichem Entsetzen: ›Ist mein armer Thinker in der Tat verrückt?‹

Doch sie stiegen oder glitten vielmehr weiter und der Doktor gestattete ein etwas rascheres Fortschreiten, wenn es ihm auch schwer fiel, auch nur eine der Fugen, über die seine Hand glitt, ohne einen kurzen Aufenthalt zu verlassen.

»Es ist nutzlos, heute all dies erfassen zu wollen«, sagte er, sich selbst ermahnend. »Hier liegt Arbeit für Monate, denn die Länge jedes dieser Felsblöcke muß aufs genaueste gemessen werden. Sie werfen eine Flut von Licht auf eine Geschichte, die für unsere Gelehrtesten in nebelhaftem Halbdunkel hin und her schwankt. Hier liegt sie, in Stein gemeißelt, für alle Zeiten. Man muß sie nur zu lesen verstehen.«

Sie waren jetzt an der Stelle angelangt, wo der von dem Kalifen Mamud eingesprengte, annähernd waagerechte, aber heute verschüttete Kanal die seitliche Wand des Pyramidenganges durchbrochen hatte. Es war hierdurch eine unregelmäßige mit Trümmern und Felsblöcken verlegte Kammer entstanden. Der weiter nach unten führende Pyramidengang, die unmittelbare Fortsetzung des bisherigen Tunnels ist von hier an in den gewachsenen Felsgrund eingesprengt, auf dem die Pyramide steht, und endet, etwa dreiunddreißig Meter unter der Oberfläche, in einer ausgemeißelten, nicht vollendeten Totenkammer, die ihrem Zweck nie gedient haben konnte. Denn noch heute ist ihr Boden roher, unbearbeiteter Fels und infolge hiervon die Kammer, deren Decke eine fertige horizontale Fläche bildet, in der unregelmäßigsten Weise ein bis vier Meter hoch.

»Lassen wir die Toten ihre Toten begraben!« sagte Thinker, indem er sich mit einem Schauder von dem Loch abwandte, das dieser Unterwelt zuführte. »Das ist das dunkelste Geheimnis, dieser Gang nach unten. Von hier an geht unser Weg aufwärts. Aber werfen Sie zuerst einen Blick durch den Schacht empor, in dem wir bisher herabgestiegen sind.«

In einer Entfernung von etwa dreißig Meter von ihrem jetzigen Standpunkt sah man die kleine, fast quadratische Öffnung des Eingangs wie einen leuchtenden, wasserhellen Bergkristall.

»Und sehen Sie den Polarstern! Dort, nicht ganz in der Mitte; etwas unten, links!« rief Thinker entzückt. »Das ist der Stern Delta des kleinen Bären! Am hellen Tag wie in tiefer Nacht zeigt er an, auf welchem Punkte der Erde und des Weltalls die Pyramide steht. Und vor viertausend Jahren stand hier der Stern Alpha des Drachen, so daß dieser scheinbar finstere Gang durch seine Neigung für ewige Zeiten die Jahreszahl feststellt, in der der heilige Bau von übermenschlicher Weisheit errichtet wurde. Ich fürchte mich nicht mehr, lieber Buchwald, Ihnen all dies zu sagen. Ihr alter, verbildeter Adam mag sich noch ein wenig sträuben. Aber Sie sind auf dem richtigen Weg. Sie glauben schon, ohne es selbst zu wissen.«

Der Maler konnte mit dem besten Willen den Stern nicht sehen, den Thinkers erregte Phantasie ohne alle Schwierigkeit entdeckte, aber er hielt es für überflüssig, diesen Punkt des weiteren zu erörtern. Auch kletterten die Araber, die die Pyramide noch nie in so bedächtiger Weise besucht hatten, bereits eifrig über den mächtigen Felsblock, der den Weg nach oben versperrte und begannen halblaut ihr »Gentlemen satisfied, bakshish very good« zu singen, bis Buchwald mit einem energischen Pst! die weihevolle Stille wieder herstellte.

Hier war der Punkt, wo der aufsteigende Hauptgang durch die Decke des absteigenden bricht und der erstere mit riesigen Granitblöcken sorgfältig versiegelt war. Der Kalif Al Mamun hatte, um das Hindernis zu umgehen, einen seitlichen Durchgang hergestellt und auch heute noch muß man über einen rauhen, gewaltigen Felsblock klettern, um die richtige Fortsetzung des Hauptgangs der Pyramide wieder zu gewinnen. Dann geht es zunächst in diesem genau unter dem gleichen Neigungswinkel, den der absteigende Gang gezeigt hatte, nach oben. Auch die Höhen- und Breitenmaße des Gangs bleiben dieselben, und die dumpfige Luft, die hier seit viertausend Jahren eingeschlossen ist, trägt nichts dazu bei, den Aufstieg leichter und angenehmer zu machen. Selbst der schwächste Lichtschimmer vom Eingang her ist nun infolge der Biegung des Ganges verschwunden. Man ist jetzt wirklich im Innern des Baus und drängt, tiefgebückt, langsam und mühevoll nach oben, während der Rauch der Fackeln um jedes Licht einen rotgelben Heiligenschein bildet und qualmend an der geschwärzten Decke hinzieht. Noch immer griff auch hier Thinker nach den feinen Fugen der Wände und Decke bildenden Felsblöcke, und versicherte Buchwald, daß sie an der Biegungsstelle die Zeit Moses verlassen hätten und nun inmitten der griechischen und römischen Geschichte emporstiegen.

Mit einemmal ändert sich das Bild. Die niedere Decke ist verschwunden. Eine elf Meter hohe, nur zwei Meter breite, aber noch immer unter demselben Winkel von sechsundzwanzig Graden steil aufsteigende Halle öffnet sich vor den Forschern. Mit dem Gefühl der Erlösung richten sie sich auf, ihr Auge sucht vergeblich nach dem fernen Ende der Halle, die sich in der schwärzesten Nacht verliert. Unmittelbar vor ihnen liegt die Mündung eines in horizontaler Richtung weiter ins Innere leitenden Ganges von der ihnen wohlbekannten unbehaglichen Höhe und Breite, welcher zur sogenannten Kammer der Königin führt. In der Wand zur Rechten ist ein rohes Loch zu erkennen: die Mündung eines fast senkrechten Schachtes, der mit dem in die unterirdische Grabkammer führenden Gang zusammenhängt. Durch diesen Gang konnten sich die Arbeiter entfernen, die seinerzeit mit den erwähnten Granitblöcken das untere Ende des aufsteigenden Ganges verschlossen hatten. Nach aufwärts endlich führt die schmale aber hohe Halle, in der sich Thinker mit einer Mischung von Ehrerbietung und Stolz umsah.

»Nunmehr sind wir in die Zeit des Christentums eingetreten«, sagte er, tief aufatmend. »Die Nordwand dieses erhabenen Raums, der uns eine wahre Erlösung von der drückenden Enge unseres bisherigen Fortschreitens bringt, diese senkrechte, gewaltige hohe Nordwand bezeichnet das Jahr des Heils. Von hier nach rückwärts und nach vorwärts weisend wird uns die Geschichte der Menschheit klarer, als sie dies alle Gelehrsamkeit der Welt zu machen vermochte. Sehen Sie hier unten die Mündung des horizontalen Ganges, der uns den Aufstieg recht unangenehm erschwert. Das ist die Abzweigung der Geschichte der heidnisch gebliebenen Menschheit und von allem späteren, was der christlichen Entwicklung entgegenstand. Der Gang endet in der schönen, aber fast sinnlosen Kammer der Königin, wie das Gemach von den verblendeten Ägyptologen getauft wurde. Diese Toren! Ihre Kammer hat so viel mit einer Königin zu tun; als der Kristallpalast von Sydenham mit Nebukadnezar. Lassen wir sie vorläufig liegen. Excelsior muß unser heutiger Wahlspruch sein. Er muß uns damit versöhnen, daß wir manches Wunderbare am Wege liegen lassen müssen.«

Das Klettern über die senkrechte Wand, in der sich die Öffnung des horizontalen Gangs befindet, den Thinker so verächtlich behandelte, war nicht ganz einfach. Doch sind in den Seitenwänden Löcher eingehauen, die den Aufstieg erleichtern, und nun hatten die Forscher den steil ansteigenden, eigentlichen Boden der großen Halle erreicht. Es ist dies ein meterbreiter schmaler Gang, an dessen Seiten sich erhöhte Rampen befinden, auf welchen es sich etwas leichter gehen läßt als auf dem völlig glatten Boden zwischen denselben. In diesen Rampen, ihrer ganzen Länge nach, befinden sich auf jeder Seite zweiundzwanzig viereckige tiefausgemeißelte Vertiefungen, deren Zweck oder Bedeutung heute noch unerklärt ist. Mit ärgerlichem Unbehagen versicherte Thinker, daß diese Löcher ihn manche schlaflose Nacht gekostet hätten, ohne daß die ersehnte Erleuchtung eingetreten sei.

Ungefähr sechzig Meter weit konnte nun ohne wesentliche Schwierigkeiten weitergeklettert werden, obgleich sich erst in diesem hallenartigen Raume zeigte, wie gefährlich steil der Aufstieg über die glatten Felsblöcke war, so daß sich selbst die Fellachin, trotz ihrer nackten Füße, manchmal die Hände reichten, um nicht auszugleiten. Schließlich endete die bisher ununterbrochene geneigte Ebene mit einer meterhohen Stufe. Ihre Entfernung vom untern Endpunkt der Halle, dem Anfang der christlichen Zeitrechnung, ist, wie Thinker fast flüsternd mitteilte, 1878 Pyramidenzoll – 1878 Jahre!

»Hier, lieber Buchwald, stehen wir mitten in den Geheimnissen der Zukunft. Ich maße mir nicht an, ihre Zeichen zu deuten. Daß aber eine derartige Stufe, die sogar Sie nicht überwanden, ohne zweimal auszugleiten, eine Weltkatastrophe andeutet, darüber bin ich mir vollständig klar. Denn in einer weiteren Entfernung von nur achtundsechzig Zoll stehen wir am Ende der großen Halle der christlichen Zeitrechnung. Sie schließt mit einer nicht ganz senkrechten, mit einer leicht, aber drohend überhängenden Wandfläche, durch die ein niederer Durchgang, der engste in der ganzen Pyramide, in die innersten, die heiligen Kammern des Baus führt. Doch ich bedarf der Stärkung, ehe wir weiter gehen. Hier wollen wir eine kleine Weile rasten. – Wo ist der Speisekorb? – Es ist unrecht, das Leibliche, die sinnliche Welt, allzusehr zu verachten. Stehen wir nicht gerade hier an einer Stelle, wo das Wunderbarste greifbar geworden ist? Wer weiß, ob der Schöpfer nicht öfter als wir glauben, seine erhabensten Gedanken in Stein und Erde, in Wasser und Feuer, kurz in Stoffen ausdrückt, die gering zu schätzen wir uns törichterweise oft den Anschein geben. – Wo ist der Speisekorb?« –

Buchwald setzte sich neben Thinker auf die Stufe der so nahe bevorstehenden Weltkatastrophe und zerlegte nach wenigen Minuten zwei Hähnchen kunstgerecht auf einer englischen Zeitung älteren Datums. Auch eine Flasche Rotwein und zwei Gläser fanden sich. Geduldig, wie schwarzbraune Statuen, saßen die vier Fellachin rechts und links auf den Rampen, und warteten nicht vergeblich auf die Brosamen, die von ihrer Herren Tisch fallen mußten. Die zwei Fackeln warfen ein trübrotes Licht auf die Gruppe und erhellten das obere Ende der Halle, die steil abfallend sich in einem schwarzen Abgrund verlor. Von dort herauf hörte man gelegentlich das leise, schrille Pfeifen einer Fledermaus, die wie zornig plötzlich die Köpfe der Dasitzenden umschwirrte, um wieder ebenso schnell in dem tiefen Schacht zu verschwinden. Es war, so weit die Umgebung in Betracht kam, das wunderlichste Gabelfrühstück, das Buchwald in seinem Leben eingenommen hatte.

»Wir befinden uns hier fast im Mittelpunkt der Pyramide«, sagte Thinker, indem er den abgeschälten Schlegel seines Hähnchens sinnend betrachtete, »in der Mitte der gewaltigsten Masse toter Materie, die je der Mensch zusammengeschleppt hat, und doch ist diese tote Masse, wo man sie anfaßt, voll von Gedanken. Wissen sie, wie viel die Pyramide wiegt? 5 273 000 Pyramidentonnen; und das Gewicht unseres Erdballs ist 5 273 000 Quadrillionen Tonnen! Das Verhältnis des Gewichts der Pyramide zum Gewicht unserer Erde ist wie eins zu 10 15 oder anders ausgedrückt, wie eins zu zweimal fünf auf der dreimal fünften Potenz. Sie bemerken die Wiederkehr der Grundzahl alles Geschaffenen – von Fünf!«

Buchwald seufzte. Dies war vielleicht richtiger und um ein kleines vernünftiger als die historische Fugenrechnung in den Gängen. Aber die Weltgeschichte in Steinblöcken war ihm noch immer lieber als dieses Hexeneinmaleins der Wissenschaft unserer Tage. Thinker ließ sich jedoch nicht stören.

»Wissen sie, wie groß der Kubikinhalt der großen Pyramide ist?« fragte er eifrig weiter. »Hunderteinundsechzigtausend Millionen Pyramiden-Kubikzoll. Und so viel ist nach den besten uns möglichen Berechnungen die Zahl der Menschen, die bis in unsere Zeit die Erde bewohnten. Jeder Kubikzoll ein Menschenleben! Sie denken, diese Berechnung muß im nächsten Jahrhundert falsch sein, und mit jedem Tage unrichtiger werden. Wer aber bürgt ihnen dafür, daß die Menschheit das nächste Jahrhundert erleben wird? Fühlen wir nicht, unter dieser drohend überhängenden Steinwand, daß wir dem Ende nahe sind? – Ah, mein Freund, da glauben wir armen Erdenwürmer, mit unserem Verstand, der in einem Fingerhute Platz hat, und unseren fünf Fühlhörnchen, den Sinnen, die am nächsten Strohhalm ihre Grenze erreichen – da bilden wir uns ein, daß unsere Sprache, das Lallen mit vierundzwanzig Buchstaben, das einzige Mittel sei, Gedanken auszudrücken, Wahrheiten zu verkündigen! Sprechen nicht Steine eine größere, eine deutlichere Sprache, und dazu von Dingen, die wir kaum mehr zu fassen vermögen?«

Er warf zornig das Zeitungspapier weg, das ihm als Tischtuch und Serviette gedient hatte und sprang auf.

»Sehen Sie dort oben am höchsten Punkt dieser Abschlußwand, fast nicht mehr zu erkennen in der Dämmerung, und heute jedenfalls für uns nicht erreichbar: dort oben führt ein Gang nach fünf Höhlen – fünf – fünf – eine über der anderen, die über der Decke der Königskammer liegen, um dieselbe zu entlasten. Geben Sie zu, daß diese alten Baumeister klug genug gewesen wären für unsere Tage? – Und wer weiß, was diese abgelegenen Höhlen des weiteren zu erzählen wissen? Dieses gewaltige Buch öffnet sich uns nicht mit einem Mal. – Nun aber weiter, in Demut!«

Er fiel auf die Knie. Es war für eine lange Gestalt, wie die Thinkers, die bequemste Art, durch die niedere Öffnung zu kommen, die ihm in der Abschlußwand der Halle entgegengähnte. Sie bildet zum Glück nur einen Durchgang von einem Meter Länge. Dann konnte er sich wieder aufrichten und stand in dem granitnen Vorgemach der Königskammer.

Es ist keine imposante Halle; nur etwa drei Meter lang, eineinhalb breit und dreidreiviertel Meter hoch. Aber schon der sorgfältig bearbeitete Granit im Gegensatz zu den Kalkwänden, zwischen denen man sich bisher bewegt hatte, war für Thinker ein Beweis, daß er hier den bedeutsamsten Teilen des Innern nahe war. Die Nordwand, durch die man hereingekrochen war, besteht noch aus dem harten Kalk, der die Wände der großen Halle bildet. Dann aber, gegen Süden, ist alles mit Granit verkleidet.

Das erste Unerklärliche in diesem Raum ist ein tafelförmiger Granitblock, der, wie ein aufgezogenes Falltor, in halber Höhe quer von der Ost- nach der Westwand durch die Kammer gezogen ist. Auf der sonst glatten Nordseite dieser auffallenden Tafel befindet sich ein hervorragender halbkreisförmiger Knauf. Dies war nach Thinkers Erklärung die unmittelbare Darstellung des Pyramidenzolls, der Maßeinheit für den ganzen Riesenbau. Denn dieser Knauf hatte eine Höhe von einem Pyramidenzoll und einen Durchmesser von genau fünf Pyramidenzoll, oder von einem Fünftel eines Pyramidenmeters.

»Hier«, rief er triumphierend, »haben Sie in sichtbarer und greifbarer Gestalt jenes Urmaß, das wir in der großen Pyramide überall wiederfinden und das den Abmessungen unseres Erdballs und unseres Sonnensystems zu Grunde liegt. Weshalb kommen Sie mir wieder mit ihrem alten Lächeln? Scheint ein Zoll Ihnen zu klein zu sein für solche Messungen? Dem Baumeister, der dieses Maß gebrauchte, ist ein Tag so lang wie tausend Jahre und ein Zoll nicht weniger bedeutsam, als die Länge von tausend Erddurchmessern oder hundert Lichtjahren. – Über dem niederen Eingang in das Allerheiligste, vor dem wir stehen, und der uns noch einmal auf die Knie zwingen wird, sehen Sie die Südwand dieser Kammer durch vier senkrechte Gruben von der Decke bis zur Oberkante der Ausgangsöffnung in fünf gleichbreite Streifen geteilt. Dies ist ein Wink, daß die heilige Fünf, die Grundzahl auch dessen, was die Gelehrten des Unglaubens und der Rebellion ihr vielgepriesenes Dezimalsystem nennen, überall zu finden ist, wo wir in der Pyramide oder im Weltall einen Maßstab anlegen. Beachten Sie diese wunderbar ineinander gefügten Felsblöcke der Wände! Sie alle kommen aus weiter Ferne, denn nichts war zu kostbar für diese Räume. Es muß Jahre und Jahre gekostet haben, die fast diamantharten Steine mit den Werkzeugen jener Zeit in dieser Weise zu bearbeiten und in messerdünnen Fugen aneinander zu fügen. Dafür sehen wir heute noch das fast viertausendjährige Werk so vollkommen, als wäre es gestern unter der Polierscheibe unserer Maschinenzeit hervorgegangen. Aber glauben Sie mir eins! Man hat diese Steine nicht aus eitler Spielerei so fein geschliffen. Jede dieser Fugen hat ihre tiefe Bedeutung. Doch es handelt sich in dieser Kammer nicht mehr um die Geschichte des Menschen, des blinden Erdenwurms, dem all dies ein verschollenes Buch ist und wohl auch bleiben wird, sondern um das Weltgebäude des Schöpfers, der hier in unverwüstlichen Zeichen zu seinen Geschöpfen spricht. Heute ahnen wir nur, was er sagt. Aber ehe ich von diesen Räumen Abschied nehme, werde ich mehr davon verstehen. Bücken Sie sich!«

Zum zweiten Mal sank Thinker auf die Knie und kroch allen voran unter den riesigen Granitblock in der Südwand der Kammer, der über dem Durchgang in die Königskammer hängt. Dieser Durchgang ist etwas länger als der nördliche Eingang in die Vorkammer. In der pechschwarzen Finsternis, welche der Schein der Fackeln aus der Vorkammer in gespenstischer Weise durchbrach, richtete sich der Doktor auf. Seine Knie zitterten; er mußte sich an der glatten Wand stützen. Aber es war nicht die ungewohnte Anstrengung des Kletterns und Kriechens, die ihn erschütterte, es war das Gefühl, an der Stelle zu sein, von der er seit Jahrzehnten geträumt hatte und die für ihn eine Bedeutung hatte wie keine zweite auf dem Erdenrund.

Tiefgebückt, einer dem andern folgend, kamen Buchwald und die Araber mit ihren Fackeln und Lichtern aus der viereckigen Öffnung hervor und beleuchteten schweigend Wände und Decken des Gemachs. Es ist nicht überwältigend groß: zehneinhalb Meter lang, fünf Meter breit und sechs Meter hoch, um annähernde Maße zu geben. Wände, Decken und Boden sind aus geschliffenem rotem Granit in riesigen Blöcken, die mit einer immer aufs neue Bewunderung erregenden Genauigkeit aneinandergepaßt sind. Kein Bildnis, keine Inschrift, kein Zierat irgendwelcher Art stört die ergreifende Einfachheit der Halle. Es ist Mathematik im Stein, die Verkörperung der absoluten Wahrheit in ihrer einfachsten Form, soweit dies mit irdischen Mitteln je möglich sein wird. Das war der erste Eindruck, den die Königskammer selbst auf Buchwald machte, dessen Sinn für das Schöne in mathematischen Wahrheiten nicht sehr rege war. Erst Minuten später dachte er an das erstaunliche Werk der Menschenhand, das ihn umschloß.

Der erste Blick fällt naturgemäß auf die Wände des Gemachs. Sie sind aus fünf waagerechten Steinschichten aufgebaut, in denen die riesigen Granitblöcke übereinanderliegen, deren Fugen in dem unsteten Licht der Fackeln kaum zu entdecken sind.

»Sie sehen – fünf! Das immer wiederkehrende Fünf!« sagte Thinker leise. »Die Decke allerdings besteht aus sieben gleich breiten und zwei schmaleren Felsblöcken, die alle über fünfeinhalb Meter lang sein müssen, um dieses gewaltige Dach zu bilden. Daß nicht auch hier fünf Blöcke Verwendung fanden, muß eine Bedeutung haben, die zu ergründen noch nicht gelungen ist. Wir sind umgeben von Geheimnissen, aber es wird licht. Seitdem das Rätsel der granitnen Truhe gelöst ist, des Heiligsten, das diese Kammer bringt, dürfen wir an nichts mehr verzweifeln.«

Keine Frage, es macht einen eigentümlichen Eindruck, entlang der Westwand dieser leeren, schmucklosen Kammer im Halbdunkel des Fackellichts den einsamen Felsblock liegen zu sehen, der seit Menschengedenken für den Sarkophag eines der ältesten Könige der Menschheit gehalten wird. Er ist so schmucklos, wie jeder andere Stein in der Kammer: ein einfacher, ausgehöhlter Block aus poliertem Granit. Der Hohlraum in seinem Innern ist leer und nach oben völlig offen; nirgends eine Spur von einem Deckel. Die obere Kante der Truhenwandungen ist nicht mehr scharf und namentlich an der östlichen Langseite schwer beschädigt. Hunderte von törichten Neugierigen haben es seit bald zwei Jahrhunderten für passend gefunden, auch hier Stückchen von dem Granit abzuschlagen, um sie neugierigen Freunden nach Hause zu bringen, die sie im besten Falle nach ein paar Jahren auf den Kehrichthaufen warfen.

»Woraus zu ersehen«, sagte Thinker mit Bitterkeit, »daß der Menschenschädel da, wo es sich darum handelt, ein Verbrechen oder eine Dummheit zu begehen, härter ist als Granit. Auch diese Wahrheit muß uns die Königskammer für alle Zeiten erhalten!«

Er setzte sich auf den Rand des Sarkophags, wie Buchwald die heilige Truhe noch immer nannte, und bat den Maler, neben ihm Platz zu nehmen. Die Fellachin mit ihren Fackeln und Lichtern wurden an das andere Ende der Kammer geschickt, wodurch dieselbe in jedem Winkel hell erleuchtet wurde.

»Hier wollen wir uns sammeln und ein wenig ruhen«, begann Thinker sanft. »Kein Pharao hat je in dieser Höhlung gelegen, und doch ist es eine Stätte der Ruhe, an der es sich lohnt, still zu betrachten, wo wir uns befinden und was wir um uns sehen. Hier, buchstäblich im Schwerpunkt des menschenbewohnten Festlandes der Erde hegen sie seit Anbeginn, all die Wahrheiten, die unser irdisches Dasein in seinem tiefsten Grunde bestimmen, an denen – gerade deshalb, möchte ich sagen – zahllose Millionen achtlos vorübergehen; hier liegen sie, nicht begraben, sondern lebendig eingeschrieben in einer Weise, die nur mit dem Erdball selbst vergehen wird. – Haben Sie schon gesehen, wie sie in Paris, in London, wohl auch in Ihrem Berlin die komischen, sinnlosen, falschen Normalmaße ihres Landes in Gewölben eingemauert halten; in Kartenhäuschen, verglichen mit dem was wir hier sehen; und alle fünfundzwanzig Jahre, wenn ich mich recht erinnere, eine Kommission von bebrillten Gelehrten beauftragen, danach zu sehen, ob sie vielleicht länger oder kürzer geworden sind? Diese Herren wissen wohl, wenn sie auch sonst nicht viel wissen, wie vergänglich all ihr Spiel mit Dingen ist, die der Menschengeist immer nur annähernd wissen kann, und alle hundert Jahre wieder anders weiß. An dieser Stelle dagegen wurde ein Normalmaß, das von keinem Schwanken menschlichen Wissens abhängt, vor viertausend Jahren niedergelegt und liegt heute noch hier, wie am Tage, an dem diese Kammer für ewige Zeiten dem Tageslicht verschlossen wurde. Die Polarachse der Erde gibt uns den Pyramidenmeter, den wir in dieser Truhe wiederfinden, im Zusammenhang mit dem Gewicht unseres Erdballs. Und diese Truhe hat ein gottbegnadeter Mensch vor Jahrtausenden mit seinen Händen geformt. Läßt sich ein wunderbareres Verhältnis zwischen unserem menschlichen Wirken und dem Schaffen des göttlichen Baumeisters denken? Könnten wir einen geeigneteren Ort finden, diese erstaunlichen Tatsachen in schweigender Ehrfurcht zu betrachten?«

Buchwald wußte, was es hieß, wenn Thinker eine schweigende Betrachtung ankündigte. Es war dann das Klügste, ihn schweigend weissagen zu lassen. Auch fühlte er mehr und mehr, daß der Doktor am Ende doch recht haben könnte. Die Wucht der Zahlen überwältigte ihn, auch wenn er sie nicht verstand. Überdies saß man ganz behaglich auf der Kante der heiligen Truhe. Weshalb sollte er nicht stille halten?

»Das sind die großen weltumspannenden Wahrheiten, von denen wir sprechen«, begann Thinker aufs neue. »Aber alles in dieser scheinbar leeren Kammer ist voll von kleineren, bedeutsamen Beziehungen zum Leben, das uns der Schöpfer gegeben hat. Jede Fuge, jede Steinlänge hat ihre Bedeutung. Der hochwichtige Inhalt der Truhe ist rings um uns her in der mannigfachsten Weise wiederholt. Ihr äußerer Kubikinhalt ist genau das Doppelte ihres inneren Hohlraums. Der Kubikinhalt der Königskammer bis zur Höhe der ersten Steinfuge in ihrer Wandung ist genau das Fünfzigfache desselben Hohlraums, so daß, wenn die Narren unserer Zeit die heilige Truhe völlig zertrümmert hätten, ihr Maß nicht verloren wäre. – Sie sehen die zwei kleinen Löcher, das eine in der Nordwand, das andere in der Südwand dieser Kammer. Es sind die Mündungen von Kanälen, die durch das ganze riesige Mauerwerk der Pyramide nach Nord und Süd, gegen oben und außen führen. Man hält sie für Ventilationskanäle, welche die Luft in der Königskammer seit Jahrtausenden rein erhalten. Das mag so sein. Aber sie sind gleichzeitig auch unzerstörbare Linien im Raum, die unverrückbar bleiben werden, bis die ganze Pyramidenmasse zerbröckelt ist. Können Sie sich eine weniger der Vernichtung ausgesetzte Weise denken, eine Linie im Raum für alle Zeiten festzulegen? Die nach Süden gerichtete Linie macht den gleichen Winkel mit der Horizontalen, wie alle übrigen Gänge innerhalb der Pyramide, nämlich sechsundzwanzig Grad und achtzehn Minuten, die nach Norden gerichtete hat eine Neigung von dreißig Grad. Wenn das Werk der Finsternis, die langsame Abnutzung und Zerstörung von wichtigen Teilen der Pyramide noch jahrtausendelang seinen Fortgang nehmen sollte, so blieben doch für alle Zeiten die Winkel bewahrt, von denen, wie ich Ihnen früher zeigte, der eine die Lage der Pyramide auf der Erdkugel, der andere das Erbauungsjahr der Pyramide in seiner Beziehung zur Präzession der Tag- und Nachtgleichen festlegt. – Der Boden der Königskammer ist in gleicher Höhe mit der fünfzigsten Gesteinsschicht des Pyramidenbaus, die an der äußeren Oberfläche zu Tage tritt. Der Umfang der Pyramide an jener Stelle ist fünfundzwanzigtausendachthundertsiebenundzwanzig Pyramidenzoll. Fünfundzwanzigtausendachthundertsiebenundzwanzig Jahre ist aber auch die Dauer eines Kreislaufs der Präzession der Tag- und Nachtgleichen, jener wichtigen kosmischen Periode, welche aller Wahrscheinlichkeit nach unsere Eiszeiten, und damit Leben und Tod der Erdbewohner bestimmt. – Sie sehen nach allen Seiten hin Licht, greifbares Licht, wenn auch unsere trüben Augen es noch oft vergeblich zu fassen suchen.«

Thinker atmete auf; aber die innere Bewegung gönnte ihm selbst hierfür kaum die nötige Zeit. Er fühlte, daß sein junger Freund noch immer nicht völlig überzeugt war.

»Manches, ich gebe es zu, ist heute nur Vermutung«, fuhr er fort; »aber vieles ist so gewiß, so klar, als daß zwei mal zwei vier macht, heute, gestern und in alle Ewigkeit. Und dieses Viele ist so erstaunlich, so wunderbar, daß wir berechtigt sind, auch das noch Zweifelhafte mit gläubiger Ehrfurcht zu betrachten, und uns der Pflicht nicht entziehen dürfen, zu suchen – zu suchen –! Wo wir irren, sind es unsere mangelhaften Geräte, unsere plumpen Hände, unsere schwerfälligen oder leichtfertigen Sinne, die uns täuschen, nicht die granitnen Wahrheiten dieses Baus. Ist es nicht bezeichnend: Seitdem der alte ehrliche Greaves im Jahr 1637 die ersten genauen Messungen dieser Truhe vornahm, die so einfach mit Händen greifbar vor uns liegt, daß sie jedes Kind zu messen vermag – seit jener Zeit haben meines Wissens dreiundzwanzig Forscher und Gelehrte aus allen zivilisierten Nationen Europas und Amerikas sie in der Tat gemessen und jeder hat ein anderes Maß der Welt in feierlicher Druckerschwärze mitgeteilt. Mühselig mußte mein verehrter Freund Smyth Durchschnittsmaße herausklügeln, wobei er aufs gewissenhafteste die Glaubwürdigkeit der einzelnen Angaben in Rechnung zog, um den Wahrheiten auf die Spur zu kommen, die uns heute in Erstaunen setzen. Und das sind die Weisen unserer Tage, die die Nase rümpfen über den alten Pyramidenbauer, der den Granit schnitt, als ob er ein Tonkloß wäre und mehr von Himmel und Erde wußte, als sie alle zusammen. Sehen wir je in unsern Tagen Form und Gehalt in solcher Vollkommenheit vereinigt? Lohnt es sich – ja oder nein, mein Freund – zu den Alten zurückzukehren, um solchen Meistern zu begegnen? Von den Alten zu den Ältesten? Was ist all unser neues Wissen, unser neues Können, verglichen – Guter Gott, was ist das?«

Der Schreckensruf des Doktors war verzeihlich. Die vier Araber waren unschuldig an den unheimlichen Tönen. Die Betrachtungen ihres Herrn waren ihnen schon längst langweilig geworden. Sie kauerten in der südöstlichen Ecke der Kammer in einem engen hellerleuchteten Kreis und kauten an vier Zwiebeln und den zerrissenen Stücken eines ihrer flachen Brotkuchen. Das geisterhafte Flüstern und Schlürfen kam aus dem Gemäuer. Es wurde lauter. Man hörte gedämpfte Rufe, fernes höllisches Lachen. Und es kam näher. Wenn auch scheinbar noch in weiter Ferne und von wunderlichen Echos hin- und hergeworfen, tönte es jetzt stoßweise aus der Eingangsöffnung der Kammer. Selbst den Maler hatten die unerklärlichen Laute für einen Augenblick erschreckt. Jetzt klärten sich seine Züge auf, während Thinker finster, ein nervöses Zucken um den Mund, in die granitne Truhe starrte. Hier war kein Ausweichen möglich. Ein vielstimmiger Trupp der verwünschten Globetrotter war im Anzug.

Jetzt schalt einer in unzweifelhaftem Englisch über die schwer zu erkletternde Stufe am Ende der hohen Galerie. Jetzt waren sie in der Vorkammer, schwatzend und lachend, weil ein anderer den Kopf an der Decke des niederen Durchgangs angeschlagen hatte und ein dritter nicht auf den Knien rutschen wollte. Gellend schrie eine Frauenstimme: Eine Fledermaus, Hilfe! Eine Fledermaus! Thinker sprang auf, Grimm und Verzweiflung in den rollenden Augen. Man sah es ihm in jeder Bewegung an: er wollte fliehen; er konnte diese Menschen hier nicht sehen. Aber wohin? Es gab nur den einen Ausgang und durch diesen schlüpfte gerade tief gebückt, mit katzenartiger Gewandtheit der führende Araber der Reisegesellschaft.

Dann kam ein Herr auf allen vieren, schlug, da er sich etwas zu früh aufrichtete, an der Kante des Granitblocks über dem Eingang seinen Korkhelm vom Kopf, warf dem Granitblock einige zornige Worte zu und sah sich dann erstaunt in dem erleuchteten Gemach um: ein kleiner Herr in grauem Reiseanzug mit feuerrotem Vollbart und einem Kranz weißer Löckchen um den kahlen glänzenden Schädel, das Gesicht rot und rund. –

»Himmlische Heerscharen! Ein Gespenst oder – oder Bruder Ben!« rief Thinker, mit vorgebeugtem Körper die Gestalt anstarrend.

»Der Teufel auch, Joe!« schrie der Fremde. »Joe, wie er leibt und lebt.« Dann flog ein fröhliches Lachen über sein Gesicht. »Was der Kuckuck machst du in diesem Loch, Joe? Wie geht's, wie geht's? Auf der Papyrusjagd? Na, warte nur! Ich will dir die alten Schmöker schon herausholen. Nur ein bißchen Geduld und keine Angst. Jeden Fetzen, den wir finden, sollst du haben!«

Ben Thinker ging mit ausgestreckten Armen auf seinen Bruder zu, der sich krampfhaft an der Granittruhe festhielt und wie Hilfe suchend auf Buchwald blickte. Dieser war hinter den Steinblock gesprungen und sah kaum weniger entsetzt in die wohlbekannten Züge seines Erfinders von Stoke-Newington. Es war kein Verkennen möglich; nur die Löckchen waren etwas weißer geworden. Aber ein stürmisches Pochen seines Herzens, das ihm fast den Atem raubte, verhinderte jede nähere Prüfung der unerwarteten Erscheinung. Am Eingang des Gemachs stand eine weitere Gestalt: weiß, hoch, schlank wie eine Pharaonentochter und doch nicht aus der ägyptischen Welt. Sie mußte es sein! Das Kind von damals; das Bild all seiner Künstlerträume seit drei langen Jahren, und auch der andern; sonst wäre diese plötzliche Herzbeklemmung unerklärlich gewesen. Sie war es; und an ein Ausweichen in dieser leeren Felsenhalle mit dem einzigen kaum tischhohen Ausschlupf war nicht zu denken. Wozu auch? Buchwald war von Natur kein Feigling. Er raffte sich zusammen und dankte Gott, daß die Königskammer keine zwei Ausgänge hat.

Aber es krabbelte noch immer. Fräulein Schütz streckte den Kopf herein und drehte sich vorsichtig hin und her, wie eine kleine Maus, ehe sie sich weiter wagte. Dann sprang sie auf, stieß ihren Fledermausschrei aus und flog auf den Maler zu.

»Herr Buchwald! Herr Buchwald! Nein, das ist ein Spaß! In Ägypten! In der Pyramide!«

Daß das impulsive Fräulein dem wiedergefundenen Landsmann nicht an den Hals flog, war ein wahres Wunder plötzlicher Selbstbeherrschung. In Deutschland, in England hätte sie sich soweit nie vergessen, natürlich. Aber hier, in diesem wildfremden Lande, in einer vieltausendjährigen Totenkammer durfte man sich jenseits von Raum und Zeit fühlen und konnte sich Dinge erlauben, die in Stoke-Newington nicht auszudenken gewesen wären.

Dann kam Fritschy, in elegantem, grauem Reiseanzug, ein knallrotes, flatterndes Halstuch umgeschlungen. Er hatte sich in vierzehn Tagen merkwürdig verändert, doch ließ sich darüber streiten, ob zu seinem Vorteil. Der kleine, ehrliche Monteur war verschwunden; er sah aus wie ein aus dem Ei geschälter Stutzer, der sich etwas unbehaglich in der ihm neuen Welt umsieht.

Fräulein Schütz hatte jetzt auch Herrn Joe Thinker bemerkt und erkannt. Sie schien durch die völlig unerwartete Begegnung mit alten Freunden das gesellschaftliche Gleichgewicht nahezu verloren zu haben, faßte ihn an beiden Händen und hoffte stürmisch, daß er sich wohl befinde. Dann zog sie ihn gewaltsam hinter der ›häßlichen alten Kiste‹ hervor, wie sie unehrerbietig die Verkörperung des Pyramidenkubikmeters in Verbindung mit dem spezifischen Gewicht der Erde nannte.

»Haben Sie das gehört, Buchwald!« rief Joe Thinker erregt. »Alte Kiste, sagte Fräulein Schütz. Fällt Ihnen hierbei nicht ein schönes Wort Ihrer Heimat ein: Was kein Verstand der Verständigen sieht, das ahnet in Einfalt ein kindlich Gemüt! Sehr richtig, Fräulein Schütz, sehr wahr! Sie sagten: eine alte Kiste. Das ist es wahrhaftig: eine Kiste, eine Truhe, ein Hohlmaß – alles eher als ein Sarkophag!«

»Au!« schrie Fräulein Schütz, denn Thinker drückte ihr so dankbar die Hand, daß dieselbe kirschrot wieder zum Vorschein kam. »Und Sie glauben wirklich, Herr Joe«, fuhr sie mit jugendlicher Lebhaftigkeit fort, und schielte dabei mit einem kleinen Schauder der Neugierde nach dem Granitblock, »Sie glauben, daß wir keinen Pharao mehr in der schwarzen Bahre finden werden? Wie schade! Ich hatte so darauf gehofft. Doch nachdem wir Sie gefunden haben, ist es fast noch besser. Ich weiß aus den Zeiten in Glenisloch und Sydenham, wie Sie sich ganze Nächte lang mit diesen gruslichen Dingen beschäftigten. Sie müssen wissen, wo der alte Pharao liegt und wann die Pyramide gebaut wurde und wie viel sie wiegt und all das. Nicht wahr, Sakuntala, Sie erinnern sich, wie viel Papier Ihr Herr Onkel voll Zahlen schrieb, daß einem angst und bange wurde. Jetzt bitte, erklären Sie uns! Aber ohne Zahlen, nicht wahr! Sakuntala bekommt so leicht Kopfschmerzen.«

Sie plauderte in der Freude ihres Herzens wie ein kleines Mühlrad, während Buchwald und Sakuntala sich ansahen, ohne ein Wort zu reden. Beide hatten die zweite waagerechte Steinfuge an der Südwand der Königskammer aufmerksam verfolgt, sie von Osten, er von Westen, bis sie zusammentrafen. Dann sagte Buchwald, mit bebender Stimme:

»Wie genau diese Steine zusammenpassen, Fräulein Thinker! Niemand könnte es heutzutage besser machen.«

»Es ist wunderbar«, sagte sie; »vor viertausend Jahren, meint Onkel Joe.«

»Sakuntala!« sagte er, »vor drei Jahren –«

»Ja«, sagte sie und seufzte. »Es war eine lange, lange Zeit!«

Er merkte nicht, daß sie in diesem unbewachten Augenblick alles gesagt hatte, was er zu wissen wünschte, denn er war noch halb betäubt. Aber so war es und es ging ihr um kein Haar besser als ihm. Vorläufig kamen sie in ein stoßweises, flüsterndes Gespräch, in dem die ganze Pyramidenwelt wie in einer Wolke von indischem Rosenduft versank. So war es nicht allzu verwunderlich, daß sie eine halbe Stunde später in ruhigerem Gespräch über alte Dinge aus der Zeit von Stoke-Newington plauderten und fast den alten Ton wiedergefunden hatten. Auch daß sie, jeder für sich, sich fragten, ob sie in jenem ersten Augenblick nicht zu viel gesagt oder gehört hätten. Es war ja kaum möglich, vor der ganzen Gesellschaft!

Mittlerweile war es auch Ben gelungen, die Hände seines Bruders Joe zu ergreifen und herzlich zu schütteln, während Fritschy einen Maßstab aus der Tasche zog. Er war trotz seines unnatürlich eleganten Reiseanzugs doch noch der ehrliche Monteur vom vorigen Monat, der, wachend oder schlafend, bereit war, seinen Maßstab hervorzuziehen. Fräulein Schütz mußte ohne Verzug die Länge, Breite und Höhe der heiligen Truhe kennenlernen, die übrigens von ihr nun wieder zum Sarkophag degradiert wurde und beide machten sich mit Ernst und Eifer an die nötige Vermessungsarbeit. Später wollte sie sich zur Probe hineinlegen, um zu sehen, wie es einem Pharao zumute sei, sobald Fritschy den schwarzen Boden des Hohlraums mit seinem Taschentuch säuberlich ausgestäubt hatte. Sie war ohne Frage eine mutige kleine Dame, die mit Wölfen spielte und in Sarkophagen schlafen konnte und den verhärtetsten Weiberfeind zu jedem Ritterdienst heranzuziehen wußte.

»Begraben wir alle Dummheiten, Joe, mit denen wir uns in früheren Zeiten das Leben sauer gemacht haben«, begann Ben Thinker mit fröhlicher Herzlichkeit. »Donnerwetter, Mann! Wir begegnen uns hier in einem Grab, das hoffentlich groß genug dazu ist. Darin wäre der alte, eckige Maulwurfshaufen doch auch einmal zu etwas gut, in seinem tausendjährigen Dasein. Wie, Joe, beide Hände her! Wie in der guten, alten Bubenzeit am Loch Murdoch, wenn du mir mein Patentfischgerät verwirrtest oder ich dir deine Bücher an den Kopf warf.«

Joe war zurückhaltender; doch war ein versöhnliches Lächeln auch über seine ernsten, etwas scheuen Züge geglitten. Als aber Ben von dem Maulwurfshaufen sprach, war die alte, mißtrauische Bitterkeit in seinem Blicke wieder aufgetaucht.

»Versündige dich nicht«, sagte er hastig; »du weißt nicht, was du sprichst. Wir stehen hier an einer heiligen Stelle.«

»Unsinn!« rief Ben lachend; »was kannst du Heiliges an dem alten Mauerwerk sehen? Nichts ist heilig, was wir mit Hammer und Meißel bearbeiten können. Ich glaube etwas dergleichen steht auch in deiner Bibel. Gute Arbeit, mächtige Steine; Donnerwetter ja; das lasse ich gelten. Aber heilig ist nichts daran; eher das Gegenteil. Wenn die alten Könige, die diese Blöcke zusammenschleppen ließen, nichts Nützlicheres zu tun wußten, als ihre Leichname in solchen halben Riesenoktaedern unterzubringen, waren sie eher miserable Sünder und Taugenichtse als Heilige.«

»Ben, du weißt wirklich nicht, was du sprichst«, sagte Joe sehr ernst. »Doch lassen wir das! Eins aber wirst du mir zugeben müssen. Die Jahrtausende, von denen uns diese Steine erzählen, haben auch auf dich ihren tiefen Eindruck gemacht. Was hätte dich sonst hierhergeführt? Selbst der Widerwilligste muß fühlen, wieviel uns diese große Vergangenheit wert ist.«

»Na, na!« lachte Ben, »streiten wir uns nicht. Sagt nicht eines deiner alten Sprichwörter: Ein lebendiger Hund ist mehr wert, als ein toter Löwe. Vielleicht lernst sogar du noch einsehen, daß es sich in unserem Jahrhundert nicht um Hundezeug handelt. O Joe, wenn ich dich nur dazu bringen könnte, die Augen aufzumachen, anstatt wie ein blinder Maulwurf im Moder herumzustöbern. Der Mensch hat Pflichten, Joe! Wir müssen für die Zukunft bauen. Ist es dir noch nie durch den Sinn gegangen, daß so ungefähr dein alter verehrter Ägypter schon gedacht haben muß, als er den Grundstein zu seiner Pyramide legte.«

»Und was bringt dich hierher, Ben?« fragte der ältere Bruder triumphierend. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr freue ich mich, daß wir uns gerade hier wiederfinden müssen. Ist es nicht das instinktive Gefühl, das selbst du nicht loswerden kannst: die Verehrung, die uns das Altertum abzwingt, das Große und Schöne, das Weise und Gute, kurzum die idealen Güter, die uns nur die längst vergangenen Zeiten in ihrer Reinheit zeigen. Das ist es, Ben. Du weißt es nicht, aber es ist so. Trotz eurer Maschinen und eurer Erfindungen, immer eine toller als die andere, könnt ihr ihn nicht loswerden, den besseren Menschen in euch, den ihr ersticken wollt. Was der in seiner Jugendzeit ersann und schuf, müssen wir in vergangenen Jahrtausenden suchen. Das hat dich heute in die Königskammer getrieben.«

»Joe, wir sind Brüder und dürfen uns ein ehrliches Wort sagen«, versetzte der Jüngere, jetzt auch ernst werdend, indem er sich gegen die Granitwand lehnte, als wolle er sich für alle Fälle den Rücken decken. »Ich habe dich von jeher für verrückt gehalten. In diesem Punkt; natürlich nur in diesem Punkt. Und es ist dies keine Schande. Ich möchte dir diese Versicherung ausdrücklich geben. Es ist ein Unglück, aber keine Schande. Du hast zu viele Genossen in der merkwürdigen Nebelwelt, in die ihr euch einzuschließen wißt, so daß man den einzelnen nicht allzu hart beurteilen darf. Solche Dinge sind ansteckend und namentlich erblich. Ganze Zeitperioden, ganze Nationen haben darunter gelitten. Es ist mit dir in diesem heißen Land offenbar eher schlimmer, als besser geworden. Du hättest einen Arzt fragen sollen vor deiner Abreise oder mich, deinen einzigen Bruder, der es wahrhaftig gut mit dir meint.«

»Du siehst, Ben«, unterbrach ihn hier der Gelehrte, »ich höre deinen Unsinn ruhig und geduldig an. Das sieht nicht danach aus, als ob du einen Verrückten vor dir hättest. Wer weiß, wo mehr ruhige Lebensweisheit zu finden ist, wenn ich das Treiben um mich her betrachte, in dem auch du deine Kräfte, deine Zeit und dein Geld bisher vergeudet hast. Auch dein Geld, Ben. Man darf das wohl erwähnen, wenn man das Kapitel der vernünftigen Lebensführung berührt.«

»Mein Geld? Donnerwetter, ja!« rief Ben, wieder belustigt. »Siehst du hierin nicht etwas von deinem Idealismus? Lächerlich! Als ob wir den nicht auch hätten: größer, sonniger und vor allem lebenskräftiger, als ihr?«

Joe nahm keine Rücksicht auf diese Unterbrechung.

»Das Jagen und Treiben nach Besitz und Macht in der niedersten Form, das Ringen und Drängen nach Genuß und Vergnügen der leersten Art; denn worauf anders zielt all das schließlich ab, wenn auch der Genuß Euch immer wieder unter den Fingern zerrinnt. Ihr fühlt es, ihr seht's, ihr könnt es greifen und doch könnt ihr nicht davon lassen, von diesem Treiben und Drängen ohne Ziel und ohne Zweck. Merkst du jetzt, Ben, wo sich die Narren tummeln? Merkst du, was dich getrieben hat, wenn auch nur für einen Augenblick, Ruhe zu suchen in dem, was für ewige Zeiten feststeht – in der Vergangenheit.«

»Tu mir den einzigen Gefallen, Joe«, lachte Ben etwas unbehaglich, »und komm zu mir herunter, auf den Boden, auf dem sich Menschen bewegen. Dann will ich dir ehrlich und aufrichtig sagen, weshalb ich hierhergekommen bin. – Diese Pyramide muß abgebrochen werden!«

Joe Thinker taumelte ein paar Schritte zurück und hielt sich mit bebender Hand am Rand der Granittruhe, gegen die er angestoßen war. Er war todesblaß geworden aber seine Augen sprühten Feuer. Die Szene hätte ein fast tragisches Aussehen angenommen, wenn nicht Fräulein Schütz in ihrem weiblichen Forschereifer in der Truhe gesessen hätte, wie in einer Badewanne. Sie sah nur noch mit dem Kopf hervor und stieß einen kleinen Schrei aus, in der Befürchtung, Joe Thinker werde im nächsten Augenblick über sie herfallen. Dieser Schreckensruf aus der Tiefe des spezifischen Erdgewichts veranlaßte den Gelehrten, wieder aufzuschnellen und sich umzusehen. Eine neue Art von Schrecken spielte auf seinem Gesicht.

»Fräulein Schütz, wissen Sie, wo Sie sitzen?« stöhnte er.

Fräulein Schütz glaubte es zu wissen, stand lachend auf und kletterte mit Hilfe Fritschys aus dem Sarkophag.

Joe Thinker starrte minutenlang in die finsterste Ecke der Kammer.

»Gehen wir«, sagte er dann, sich endlich umdrehend. »Gehen wir, Bruder Ben. Ich habe dich falsch verstanden. Ich habe – glaube ich – überdies eine Art von Halluzination gehabt. Eine Frauenerscheinung in – in –.«

»Ich sagte es ja!« rief Ben, nicht ohne eine gewisse Befriedigung.

»Aber ich bin gefaßter. Gehen wir! Es muß mich ein kleiner Schwindel gepackt haben. Vielleicht ist es die Luft in dieser Kammer.«

»Viertausendjährige Luft«, lachte der jüngere Bruder. »Es sollte mich nicht wundern, wenn sie dir zusetzt, auf die Länge. Machen wir, daß wir hinauskommen, sonst wird es auch mir noch übel.«

Er nahm den Doktor unter den Arm, der sich etwas widerstrebend fügte.

»Sei vernünftig Joe,« fuhr er fort, »sei so vernünftig, als es dir möglich ist. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen und werden uns so wie heute nie mehr begegnen. Ich freue mich von Herzen, dich gefunden zu haben.«

»Auch ich freue mich, Ben«, versetzte der Ältere nachdenklich. »Vielleicht werde ich dich noch heute überzeugen. Es ist wie eine Fügung. – Es ist der fünfzehnte Tag, der dreimal fünfte Tag, seitdem wir hier sind.«

»Was?« fragte Ben, die Augen aufreißend.

»Du wirst das heute noch verstehen, Bruder. Nur hinaus für jetzt. Wir sind keine Gesellschaft für diese Kammer, und ich fürchte mich förmlich vor Halluzinationen wie die eben erlebte. Ihr werdet Euch in unserer Gräbervilla etwas ausruhen und erfrischen. – Darf ich dir meinen Freund Buchwald vorstellen.«

»Kenne den Herrn schon«, lachte Ben Thinker, dem Maler die Hand schüttelnd – »und wünsche Ihnen Glück, Herr Buchwald. Sie malen jetzt wohl Mumien! Das ist vielleicht gescheiter als kleine Mädchen.«

Dann bückte er sich fast bis zur Erde und kroch zur Königskammer hinaus. Die andern folgten; eine stattliche Prozession, alle auf den Knien in nicht gerade imponierender Haltung, aber mit dem eigenen Gedanken in einer Weise beschäftigt, daß dies niemand bemerkte. Nur Fräulein Schütz konnte sich nicht enthalten, Fritschy darauf aufmerksam zu machen. Unten, beim Abstieg über den Felsblock, den der Kalif Mamun im Wege hatte liegen lassen, und der heute noch jeden nicht sehr gewandten Pyramidenbesucher vor eine fast halsbrecherische Aufgabe stellt, fiel Sakuntala dem hilfsbereiten Buchwald auf einen Augenblick in die Arme, so daß auch Fräulein Schütz ihre Würde als ehemalige Erzieherin wieder fand, ehe sie das Licht des Tages begrüßte.

Es war herrlich: der blaue Himmel, die reine Luft, die strahlende Sonne, mit einem Wort: das Heute, nach diesen Stunden in der ewigen Nacht der Vergangenheit. Selbst Joe Thinker atmete auf, wenn auch nur heimlich.


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