Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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21. Kapitel
Die Märchenschlacht

Sakuntala war ganz in der Nähe. Sie kam von einem Feuerwerk eigener Art, bei dem sie nicht weniger glücklich gewesen war als ihre Freundin.

Während der Erstürmung des großen Speisesaals war es Buchwald gelungen, seine Dame mit der ihm eigenen sanften Gewalt vor jeder Berührung mit der ums Dasein ringenden Volksmenge zu schützen und einen genügenden Teil vom Besten zu erbeuten, das Morgen- und Abendland zu bieten vermochten. Ein verlassenes Eckchen des Tanzsaals war im Nu in ein reiches arabisches Nomadenzelt verwandelt, in dem er eine Fürstin hätte bewirten können. Später, nachdem beide einen Teil ihres Maskenanzugs in der Garderobe ausgetauscht hatten, waren auch sie in den Garten hinausgetreten, hatten sich aber rasch von dem lärmenden Strom getrennt, der sich nach links dem großen Kiosk entgegenwälzte. Das Spiegeln des Mondes in dem gewaltigen Marmorbecken vor dem Schloßportal zog Sakuntala nach rechts. Sie wollte die Wasserfläche umkreisen, an deren Rand, fast allzu symmetrisch, vier Gruppen von je drei Palmbäumen aufstiegen. Auch die Palmetten und Aloes am Ufer hätten bei Tag gezeigt, daß sie in dieser Erde noch nicht Wurzel geschlagen hatten und die Zementgruppe in der Mitte des Teichs, die provisorisch einen das Land segnenden Nilgott vorstellte, war bei dem ersten Anlassen der Wasserkunst zur Hälfte weggespült worden, so daß der Gott mit verdrehtem Kopf hilfeflehend gen Himmel sah.

Enttäuscht lächelte Sakuntala und wandte sich ab. Hundert Schritt nilabwärts schimmerten die alten niederen Haremsgebäude aus Mohamed Alis Zeiten hinter dichtem Buschwerk hervor. Es war sicher nicht bloße Neugier, die sie weiter zog. Buchwald folgte ihr, kaum weniger froh, den leeren Lärm des allzu künstlichen Festes hinter sich lassen zu können.

Durch eine Öffnung in dem halbzerfallenen Bretterzaun, der die neuen Anlagen abschloß, betraten sie den älteren Teil des Parks. Hier war es still. Neben den schlecht gepflegten Wegen schimmerte da und dort das Mondlicht aus dem Grund, das sich in kleinen, verwachsenen Gräben spiegelte, welche dem verwilderten Garten Wasser zuführten. Das Buschwerk war echt genug; schlecht gepflegt und staubbedeckt, dabei üppig wuchernd, als wollte es den Fußpfad ersticken. Es wäre leicht gewesen, jede Richtung zu verlieren, wenn nicht von Zeit zu Zeit der weiße Schimmer der Haremsmauern hinter dem verschlungenen Geäste sichtbar geworden wäre. Dies leitete Sakuntala, die vorwärtsschritt, wie wenn sie mit klarer Absicht ein bestimmtes Ziel verfolgte.

Jetzt standen sie vor der fast fensterlosen Vorderseite des Gebäudes. Ein großer, schmuckloser Torweg, über dem ein ausgestopftes Krokodil hing, stand offen und gestattete einen Blick durch die schwarze Höhle in den mondhellen Hof des scheinbar völlig verlassenen Hauses. Doch regte sich jetzt etwas. Links unter dem Torweg saß auf einem niederen Stühlchen ein alter Neger, welcher halb schlafend auf den Festlärm lauschte, der aus der Ferne herüberklang. Rechts, in seinem Burnus gewickelt lag der Boab, der völlig eingeschlafen zu sein schien. Sakuntala war im Begriff, ruhig zwischen beiden weiter zu schreiten.

Da erhoben sich die lässigen Wächter fast gleichzeitig. Der Eunuche linkerhand machte ein höfliche Verbeugung und eine sanft abwehrende Gebärde. Der Nubier rechts sprang erschrocken in die Höhe, knurrte wie ein Schloßhund und hielt seinen langen Stock quer über den Weg. Es war nicht weiterzukommen.

»Wollen wir die Wache überrumpeln? Es sind nur zwei«, fragte Buchwald, bereit jedem Wink Sakuntalas zu gehorchen.

»Nein«, antwortete sie. »Wir sehen hier, was ich sehen wollte. Mehr ist, glaube ich, auch drinnen nicht zu finden.«

Sie blickte lange in den stillen Hof, dessen einfache Arkaden eine Reihe tiefschwarzer Nischen bildeten und lauschte auf das schwache Plätschern eines kleinen Springbrunnens, das mit seiner Einförmigkeit die tiefe Stille doppelt fühlbar machte.

»Mir ist wunderlich zumute«, sagt sie leise. »All das berührt mich wie eine Erinnerung. Auf der Zenana meiner Mutter lag der Mondschein wie hier. Auch dort murmelte ein Springbrunnen alte Geschichten, Tag und Nacht. Und doch war alles etwas anders; – so ähnlich – und ganz anders. Wie wenn uns ein liebes Auge aus einem fremden Gesicht entgegenlächelt.«

»Mir ist alles fremd, Gesicht und Auge«, sagte Buchwald, »und doch zieht mich's wie mit tausend Fäden«.

»Erinnerung!« flüsterte Sakuntala. »Es gibt eine Erinnerung an Dinge, die wir nie erlebt haben.«

»Gehen wir zurück!« schlug der Maler vor; »ins Freie, an den Nil. Es ist nicht gut, sehnsüchtig durch ein offenes Tor zu sehen, hinter dem nichts liegt.«

»Ist unsere Sehnsucht nichts?« fragte Sakuntala. Aber auch sie wandte sich um. Schweigend schritten sie nebeneinander in Richtung des Ufers weiter, beide in Gedanken versinkend, die sich schwer in Worte hätten fassen lassen und die sie, wenn ihnen dies gelungen wäre, nicht auszusprechen gewagt hätten.

Miss Thinker war eine junge Dame, deren Erziehung sie mit allem vertraut gemacht hatte, was ein Mädchen in den besten Ständen Englands oder Deutschlands zu wissen pflegt. Sie liebte und bewunderte die neue Heimat, die durch ihren Vater die ihrige geworden war. Und doch war ihr vieles kalt und fremd geblieben, was dort dem Leben seine Bedeutung und seinen Wert gibt; vieles hatte sie vermißt, das ihr wie das Glück eines verlorenen Paradieses erschien. Seitdem sie noch als halbes Kind Buchwald kennengelernt hatte, schien etwas aus jener fast vergessenen Welt zurückgekehrt zu sein. Er war anders als die Männer, denen sie in ihren englischen Kreisen begegnet war. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, seit er ihr das erste Märchen unter den Palmetten von Stoke-Newington erzählt hatte. Und doch – wie konnte sie ihn verstehen? Er war ein Weißer, ein blonder, fremder Mann. Sie fürchtete den Europäer.

Und Buchwald? Er war sich klar bewußt, was er liebte, was er wollte. Aber er wußte auch, was er war: ein junger deutscher Maler, der noch immer seine Stellung im Leben zu erringen hatte. Es war ihm fast spielend gelungen, sich in der reichen englischen Gesellschaft, in die ihn ein glücklicher Zufall geworfen hatte, geltend zu machen. Aber nun stand er vor einer Schwierigkeit, der man auch in der englischen Gesellschaft nicht alle Tage begegnet. Miss Thinker war zweifellos eine Prinzessin. Man konnte es in den Archiven der ostindischen Kompagnie mit Dokumenten auf Palmblättern beweisen. Was konnte, was durfte er einer Fürstin bieten? Die Frage klang fast komisch. Er liebte Sakuntala, daß ihm das Herz zu zerspringen drohte, aber er fürchtete die Prinzessin.

Sie gingen nebeneinander her, Sakuntala träumend, Buchwald mit seinen Gedanken kämpfend, bis sie am Ende des verwilderten Pfades einen kleinen Kiosk erreichten, der auf der Brüstung einer Mauer steht, die senkrecht in den Nil abfällt. Es war ein lauschiges Plätzchen, das sich Franz Bey, der Architekt, zu eignem Gebrauch eingerichtet hatte, wenn er den Sorgen des Palastbaus auf ein Stündchen entfliehen wollte. Wilde Weinranken und anderes großblättriges Schlinggewächs bedeckte den zierlich phantastischen Bau und umrahmte die Fenster mit fremdartigen Blumen. Der Blick in die mondhelle Nacht hinaus bot in wunderbares Bild: den Nil, in dessen spiegelndem Glanz da und dort ein schwarzes Boot hinglitt; drüben die Lichter von Bulak und Alt-Kairo; in der silbernen Dämmerung die Spitzen von hundert Moscheen der großen Stadt und hinter ihnen, wie ein Nachthauch, die Felsberge des Mokattam.

»Ein Maler könnte zufrieden sein vor einem solchen Bild«, sagte Buchwald nach einer langen Pause, während beide das Auge auf dem Strom ruhen ließen und den kühlen Duft der Nacht einsogen.

»Sind Sie es nicht?« fragte Sakuntala.

»Es ist nicht immer Mondnacht am Nil«, versetzt Buchwald. »Ich fühle mit jedem Tag mehr, daß ich diesem Lande fremd bleiben werde. Und in der Fremde kann man nicht aus dem Vollen schaffen.«

»Muß es ›geschaffen‹ sein?« fragte Miss Thinker lächelnd.

»Ja«, antwortete der Maler. »Es ist das Lebenselement von uns Nordländern. Können wir es nicht, so werden wir Taugenichtse. Ich glaube, dies ist anders im Süden.«

»Aber Sie schaffen.«

»Mein großes Bild? Das ist's eben«, entgegnet Buchwald verstimmt. »Es bleibt mir fremd. Anfänglich glaubte ich, die Richtung in ihm gefunden zu haben, in der mich mein innerstes Wesen zieht. Doch es war nur Ihr Onkel, der mich zog, wie er es mit jedem macht, der in seiner Nähe kommt. Das Bild wird fertig werden und wird vielleicht nicht das schlechteste sein, das in den letzten Jahren gemalt wurde. Aber es ist nicht mein Bild.«

»Mir geht es ähnlich mit dem ganzen Land«, sagte Sakuntala. »Erst glaubte ich mich zu Hause zu fühlen: der Himmel, die Sonne, die Luft – das war mein Süden. Aber es ist nichts. Es ist nicht mein Osten.«

»Was Sie zieht, kann man verstehen. Es sind die Erinnerungen einer glücklichen Kindheit.«

»Wer weiß, vielleicht haben auch Sie Erinnerungen, die Sie weiter ziehen.«

»Wo sollten sie herkommen? Meine Kindheit war einfach genug. Im Odenwald wachsen keine Palmen.«

»Aber Sie träumen in Ihrem Vaterland mehr als anderswo, wurde mir gesagt. Wenn ich Onkel Joe ansehe, der länger dort war, als gut für ihn gewesen sein mag, so kann ich's glauben. Das ist anders in England. Dort verstehen sie das traumlose Schaffen. Dort muß jeder Schritt ein Ziel haben, jeder Gedanke einen Zweck. Das ist das Schreckliche des Landes. Es macht die Leute vernünftig und reich. Ja; aber die Natur und Gott in der Natur schaffen anders und sind auch reich geworden, über die Maßen reich. Sie brauchen keine Stauwerke! – Wie mir die Stauwerke wehtun!«

»Ich glaube, Sie zu verstehen. Bei Frauen sind solche Gefühle natürlich. Doch an das Leben des Mannes haben Träume und Erinnerungen kein Anrecht.«

»Das verstehe ich nicht. Wir haben alle das Recht, Träume und Erinnerungen zu pflegen. Die meisten sind Grüße aus einer besseren Welt.«

»Manchmal mag dies so sein!« sagte Buchwald nachdenklich. Nach einer langen Pause, wie man sie genießt, wenn man in fließendes Wasser oder brennendes Feuer blickt, fuhr er fort:

»Hören Sie drüben die Musik?«

»Kaum. Man hört nur die Paukenschläge«, versetzt Sakuntala. »Wie öd, wie handwerksmäßig dies klingt.«

»Vergnügungsküfer, die härter arbeiten als Taglöhner«, lächelte Buchwald. »Dabei freuen sich die armen Leute.«

»Freuen wir uns in unserer Weise, bis sie's drüben müde sind!«

»In Erinnerungen?« neckte der Maler.

»Ja«, versetzte Miss Thinker ernsthaft. »Wissen Sie noch, wie es in Stoke-Newington war? Dort hatten wir keine wundervollen Mondnächte nötig, keinen ägyptischen Sternenhimmel, keinen Nil. Erzählen wir uns Märchen!«

»Scheherazade, meine Fürstin!« rief Buchwald, den die Poesie des Bildes ringsumher zu überwältigen drohte.

»Das nicht! Wir sind nicht in Bagdad«, sagte Sakuntala, indem sie sich auf einem kleinen Diwan niederließ und den Kopf nachdenklich auf die Fensterbrüstung stützte. »Auch sind Sie noch lange kein blutdürstiger Kalif. Wir wechseln ab. Wer das schönste Märchen erzählt, gewinnt.«

»Was?«

»Eine Lotusblüte, wenn noch eine im Nil gefunden werden kann. Aber nichts erfinden, nur erinnern sollten wir uns. Daraus sind in den ältesten Zeiten Märchen geworden.«

»Erinnern Sie sich schon??« fragte Buchwald, indem er sich über die Brüstung lehnte und in die Ferne blickte.

»O gewiß! Aber Sie dürfen nicht lachen. Kann ich für meine Erinnerungen? Die kommen woanders her.«

»Nie lag mir's ferner, zu lachen«, versetzte der Maler gepreßt. »Lassen Sie hören!«

Sakuntala begann: »Vor ungefähr hundertundfünfzigtausend Jahren –«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis!« unterbrach sie Buchwald wieder lächelnd. Er klammerte sich gewaltsam an den scherzhaften Ton ihrer gewöhnlichen Unterhaltung.

»Das habe ich von meiner Mutter«, versetzte Sakuntala fast traurig. »Es liegt in der Luft meiner Heimat.«

»Und wie heißt die Geschichte?« fragte der Maler, indem er sich auf ein Polster niederließ, das von dem Diwan herabgeglitten war. »Sie wissen, Scheherazade gab all ihren Märchen einen Namen auf den Weg.«

»Sagt ich's Ihnen nicht –: ich bin keine arabische Prinzessin!« rief Sakuntala etwas ärgerlich. »Doch ich weiß, die Deutschen wollen alles gründlich und pünktlich und ordnungsgemäß numeriert haben. Gut! Aber unterbrechen Sie mich nicht mehr, sonst reißt der Faden meines Erinnerns. Er ist ein Sonnenfädchen, zehnmal feiner, als ihn die Seidenraupe spinnt. Und die Geschichte heißt:


Die Schlange und das Äffchen

In den Dschungeln des oberen Ganges, am Teiche Kurukschetra, von wo man an hellen Tagen schon die Spitzen des Himalaya sieht, stand viele tausend Jahre, ehe Menschen waren, ein uralter Brotfruchtbaum, der alles in der Wildnis überragte, so daß ihn jedes Tier meilenweit im Umkreis kannte. Am Fuße des Baumes wohnte seit undenklicher Zeit eine Königsschlange und hatte sich unter den mächtigen Wurzeln und in den Höhlungen des Stammes mit der Zeit einen Palast gebaut, wie es keinen zweiten im Walde gab. Sie selbst, so alt sie war, war noch immer eine Schönheit, rund und lang, mit blaugrünen Schuppen, die ins rötliche schillerten, wenn sie erregt wurde, mit Augen wie Rubinen, auf dem Kopf ein goldenes Krönlein, dessen Spitze ein blitzender schwarzer Diamant zierte, der einzige, der je in Indien gefunden worden war. Die Wände ihrer Wohnung waren mit Edelsteinen ausgelegt und der Boden mit Goldstaub gestreut. Das war aber das Wenigste, das sie besaß. Sie wußte alles. Ihrer Weisheit wegen suchten sie die wildesten Tiere auf, wenn sie in Not waren, und kamen aus weiter Ferne. Daher mochte es auch kommen, daß sie von allem unterrichtet war, obgleich sie selbst nie umherstreifte. In der Nähe ihres Baumes kannte sie natürlich alles aus eigener Beobachtung, das Kleinste wie das Größte: die Sterne, die über ihm funkelten, die Kräutchen, die um ihn wuchsen. In den Sternen verstand sie zu lesen, und die Kräutchen gaben ihr Säfte von geheimnisvoller Kraft. Und wenn sich ein schweigender Königstiger über all das wunderte, so sprach sie: ›Wundere dich nicht. Warum bleibst du nicht an deinem Ort und baust dein Haus wie ich? Du findest alles, was die Welt zu bieten vermag, wenn du liebst, was dir am nächsten liegt: dein Heim.‹

So hatte sie auch ganz in der Nähe, aber tief im Boden, eine siebeneckige Erdnuß gefunden, die sie auszupressen verstand. Wenn sie von dem scharfen Saft ein Tröpfchen nahm, wurde sie um zehn Jahre jünger. Zehn Tröpfchen machten hundert Jahre. Wäre der Saft nicht so furchtbar bitter gewesen, so hätte sie sich wohl einmal aus Versehen über ihren ersten Geburtstag hinaus verjüngt und wäre dadurch in die größten Schwierigkeiten geraten. So erreichte sie ohne Schaden ein unglaubliches Alter und blieb jung dabei. Ihr Mann war gestorben und ihre Kinder den Ganges hinuntergezogen, als sie die merkwürdige Eigenschaft der Nuß entdeckte.

Daher kam es, daß sie allein blieb in ihrer Schönheit und Jugend; denn sie war schon zu klug, wieder einen Mann zu nehmen.

Ihr Palast wurde immer prachtvoller, ihre Schätze häuften sich, die Besuche kamen aus immer weiterer Ferne und verehrten sie aufs höchste. Trotz alledem wurde sie nachgerade mißmutig. Die Jahrhunderte schienen ihr länger zu werden und was sich ereignete war schließlich immer dasselbe. Nur wurde die Welt sichtlich schlechter. So nahm sie nichts mehr von dem Erdnußsaft, wurde wirklich alt und immer verdrießlicher.

Eines Abends, als sie müde vom Zählen ihrer Smaragde den Mondschein noch ein wenig genießen wollte, fand sie am Fuß des Brotfruchtbaums ein Geschöpf, das einem Äffchen auffallend ähnlich sah. Es war sicher einmal ein hübsches Tierchen gewesen, hatte einen wunderschönen schwarzweißen Schweif und die zierlichsten spitzen Öhrchen. Doch es sah jämmerlich aus und lag im Sterben. Sprechen konnte es kaum mehr und was es sagte, konnte sie nicht verstehen. Nur so viel war klar, daß es aus Schwäche vom Baum heruntergefallen war. Wie es dorthin gekommen, wußte sie nicht zu sagen.

Sie ließ es waschen und kämmen und, was das Nötigste war, füttern. Nach ein paar Tagen hatte es sich soweit erholt, daß es versuchte, in der Sprache der Gegend sich zu verständigen. Doch lernte die alte Schlange die Sprache des Äffchens rascher als umgekehrt, und das Kauderwelsch, das sie zusammen sprachen, belustigte sie ganz besonders. Dabei stellte sich heraus, daß das Äffchen aus einer guten Familie auf der Insel Lanka stammte, aber mit einer so unwiderstehlichen Wanderlust geboren worden, daß es trotz aller Warnungen auf und davon gegangen war, um sich in der Welt umzusehen. So war es bis an den oberen Ganges gekommen.

Anfänglich war es ihm nicht schlecht ergangen. Es konnte sich noch verständlich machen. Sein gesittetes Betragen, sein Mut, sein prachtvoller Schweif gewannen ihm alle Herzen. Dann aber kam es anders. Die Waldbewohner weiter im Norden konnten es nicht mehr verstehen und überlegten, wenn es schüchtern um Nahrung bat, ob es wohl selbst eßbar sei. Fremde rohe Affen warfen mit Steinen nach ihm, um es hüpfen zu sehen und schreien zu hören. Bald genug sah es verkommen und zerlumpt aus. Ratlos, halb verhungert irrte es schließlich wochenlang in der Wildnis umher, bis es ohnmächtig von dem Brotfruchtbaum fiel, auf dem es sich verstecken wollte. Das war denn doch zu schändlich für ein gebildetes Äffchen aus einer der besten Familien von Lanka, meinte es, und wedelte selbstgefällig mit seinem wieder wohlfrisierten Schweif.

Die Schlange, die in ihrer Freude an dem komischen Bürschlein vor wenigen Stunden zum erstenmal wieder nach langer Zeit ein ganzes Kaffeeschälchen von ihrem siebeneckigen Erdnußsaft getrunken hatte, sagte mit mütterlicher Zärtlichkeit: ›Auf deinen Schwanz brauchst du dir nicht zuviel einzubilden. Da kannst du bei mir denn doch etwas ganz anderes sehen. Aber deine spitzen Öhrchen sind zum Küssen, kleiner Knirps, das muß ich sagen.‹ ›Ich heiße Bibidschinka‹, sprach das Äffchen mit einigem Stolz. Am Abend aber trank die Schlange noch etwas Erdnußsaft.

Man hätte sie nicht mehr erkannt, wenn das goldene Krönlein auf ihrem Kopf und der strahlende schwarze Diamant auf ihrem Krönlein nicht dieselben geblieben wären. Ihre blaugrünen Schuppen fielen ab; dafür wuchsen rosafarbene und weiße Sterne kamen an beiden Seiten zum Vorschein. Es war eine Pracht. Gleichzeitig erholte sich Bibidschinka wunderbar und bekam ein glänzendes Fell. Auch sproßten die ersten Barthärchen über seinen Lippen, was ihn viel beschäftigte.

Übrigens war er ein gutartiges Kerlchen, das sich die mütterliche Sorgfalt seiner Retterin gnädig gefallen ließ und manchmal versuchte, sich nützlich und unterhaltend zu machen, indem es z. B. einen wertvollen Edelstein versteckte und nach einiger Zeit wieder brachte, oder sonst Mittel erdachte, seine Freundin zu erfreuen. Ganz behaglich war es ihm jedoch nie, wenn sie ihn umschlang, so daß fast nichts mehr von ihm zu sehen war. Erst als sie noch ein Täßchen Erdnußsaft getrunken hatte und darauf auffallend kleiner geworden war, fühlten beide, daß Sie zusammengehörten fürs Leben. Die übrigen Tiere im Wald mißbilligten das Verhältnis. ›Paßt auf, das wird schon noch schief gehen‹, sagte ein alter Bär, der aus dem oberen Himalaya gekommen war, um wegen seiner Frau, die sich für unverstanden hielt, mit der alten Schlange zu sprechen und dafür ein junges rosafarbenes Ding fand. Entrüstet ging er wieder heim.

Man sollte nun glauben, Bibidschinka, der wie der Vogel im Hanfsamen saß und alles hatte, was das Herz begehren konnte: Honig zum Essen, Palmwein zum Trinken, Bewegung auf dem prachtvollsten Brotfruchtbaum und Ruhe auf Seidenkissen, dazu eine zärtliche Freundin von wundervoller Schönheit, sei zufrieden und glücklich gewesen. Dies war auch anfänglich der Fall. Zehnmal des Tags mußte er der Königsschlage versichern, daß er nicht mehr daran denke, nach Lanka zurückzukehren oder gar seine tolle Wanderschaft fortzusetzen und tat dies auch mit den aufrichtigsten Gefühlen. Nach einigen Monaten aber, als es ihm wieder ganz wohl war, blieb er abends länger auf dem Gipfel des Baumes, als es die Königin für recht hielt und mehrmals mußte sie selbst hinaufklettern, um ihn zur Abendtafel zu holen. Dort fand sie ihn, sehnsüchtig nach Norden blickend, wo man den Schnee der Berge im Abendrot schimmern sah. Er wollte wissen, was das sei: Silber oder Gold.

›Und wenn es Silber und Gold wäre: Hast du nicht genug Edelmetall in dem Wurzelprunkschlafgemach, das ich dir einrichten ließ?‹ fragte die Schlange besorgt: ›Geht dir's nicht über alle Maßen gut, seitdem du bei mir bist? Erinnerst du dich, wie dir das Wandern bekam?‹

Sie umschlang ihn zärtlich und zog ihn hinunter. Nach einigen Tagen aber saß er wieder auf dem höchsten Gipfel bis tief in die Dämmerung. ›Man sieht den Schnee selbst beim Mondschein!‹ sagte er, als sie ihn vorwurfsvoll ansah. Darüber wurde sie zornig und sagte: ›Es ist weder Gold noch Silber, sondern ein weißer Teig, kalt und naß. Wenn du ihn je berühren solltest, würdest du wahrscheinlich sterben. Ich weiß es von dem alten Bären, der mich früher öfter besuchte.‹ Bibidschinka lachte in sich hinein, denn er glaubte ihr nicht. Er wollte ihr zwar nicht widersprechen, aber sein Entschluß war gefaßt. War das ein Leben, auf einem Baum!

Als sie nach etlichen Wochen wieder einmal stundenlang auf das Äffchen gewartet hatte und hinaufkletterte, um es zu suchen, fand sie nichts als ein trockenes Palmblatt, das mit einem Dorn am höchsten Zweig befestigt war. Auf dem Blatt stand in der kaum leserlichen Hand Bibidschinkas und mit vielen Fehlern:

Lebewohl, meine Süße! – Für immer, lebt wohl – ihr Küsse, ihr Grüße! – Es war mir zu wohl – Ich brauch' meine Füße – brauch Hände und Arm – Lebewohl, meine Süße – hier ist es zu warm. – Wie ist mir's geworden – So wund und so weh! – Es zieht mich nach Norden, – ich muß in den Schnee. 

Dein ewig dankbarer Bibidschinka.

›Dummes Zeugs!‹ sagte die Schlange und warf das Palmblatt in den Wind. ›Er wird bald genug wiederkommen, zähneklappernd.‹ Dann ging sie hinunter in ihren Wurzelpalast, stopfte die Türe zu und weinte lang und bitterlich. Denn das Äffchen kam nicht wieder.

Ob es gestorben und verdorben ist?

Jahrelang hielt sie sich an einen wunderlichen Trost. Sie hatte entdeckt, daß Bibidschinka ein Fläschchen aus Nephrit, dem kostbaren Zauberstein, mitgenommen hatte, das mit siebeneckigem Erdnußöl gefüllt war. ›So lange er das bei sich hat, wird er nicht zu Grunde gehen‹, sagte sie sich, ›und wer weiß, was noch aus ihm wird!‹ Sie hatte mittlerweile erfahren, daß er vom Stamme Hanumans war, des großen Heldenaffen, der viele tausend Jahre später für den heiligen Rama gegen die Rakschasateufel zu Feld zog und sie aufs Haupt schlug. Aber der Trost erbleichte nach und nach. Bibidschinka ließ nichts mehr von sich hören.

Sie selbst schauderte jetzt, wenn sie den Erdnußsaft nur sah, so daß sie wieder blau und grau wurde und steinalt. Doch konnte sie nicht sterben aus Sehnsucht nach dem Äffchen, das wohl längst erfroren sein mochte. Sie würde vielleicht heute noch leben, wenn der alte Brotfruchtbaum nicht umgefallen wäre. Dabei wurde sie erdrückt. Ihre Seele aber ward endlich frei und zog, wohin sie das Herz zog.«

Sakuntala schwieg. Sie stützte das Kinn auf die Hand, die lässig auf der Fensterbrüstung lag. Ihr sinnender Blick folgte der Lichtbrücke, die der Mond über das Wasser spannte und verlor sich in der Dämmerung des jenseitigen Ufers. Aber es war klar: sie sah und hörte nichts. Sie besann sich mit aller Macht, als ob sie fürchtete, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Eine so alte Geschichte haben Sie noch nie erzählt«, sagte Buchwald endlich leise. »Man fürchtet sich fast.«

»Ja«, versetzte Sakuntala, »vor den dämmernden Ewigkeiten, die dahinter liegen. Was sind die Pyramiden dagegen!«

»Sprechen wir hiervon nicht!« sagte der Maler, als ob ihn etwas peinlich berührt hätte. »Nun aber – wo soll ich das Gedächtnis hernehmen, um etwas zu erzählen, das sich an alte indische Geschichten anschließt?«

»Tausend Jahre sind wie ein Tag und ein Tag wie tausend Jahre in meinem Land«, entgegnete Sakuntala. »Denken Sie zurück; es wird schon kommen.«

Buchwald begann langsam und zögernd:

»Hunderttausend Jahre waren vergangen.«

»Und die Geschichte heißt?« fragte Sakuntala.


»In Nacht und Eis

Bei uns nennt man es die Urzeit. Damals war meine Heimat ein weiter See, von der Gegend, wo sich jetzt der Rhein durch das Binger Loch drängt, bis gegen die Hügel bei Basel und Schaffhausen, vom Fuß des Schwarz- und Odenwalds, bis ins Wasgau hinüber. Gewaltige Eisinseln, umgeben von tausend weißen Schollen, die von den Gletschern losgebrochen waren, unter denen die Alpen begraben lagen, zogen auf den stillen schwarzen Wassern langsam nach Norden. Auch die milderen Höhen des Odenwalds, der Hardberg, der Melibokus, der Königsstuhl, wie man sie später nannte, waren durch lange Wintermonate mit Eis und Schnee bedeckt, und nur am Ufer des Sees und an den südlichen Halden der Täler sproßten während des kurzen Sommers, wenn die Sonne heiß durch die ewigen Nebel brach, Gras und Blumen in rasch vergänglicher Pracht. Doch kaum gekommen, war die Sommerzeit wieder vorbei und die kahlen Bäume, die kümmerlichen Stauden, das spärliche Moos verschwanden unter der weißen Decke.

Sie lebten vom Fischfang und von der Jagd, die wenigen Leute, welche an dem ungastlichen Ufer hausten. Nur ein rauhes tapferes Geschlecht konnte ertragen, was die harte Natur ihnen auferlegte. Ihre Hütten standen auf Pfählen im seichten Wasser. Sie hatten dann wenigstens im Sommer und solange sie das Eis brechen konnten, Ruhe vor den Tieren, mit denen sie in täglichem Streit lebten: dem Wolf, dem Bären, dem Ur. Nur der zottige Hund, so wild als der wildeste Wolf, merkte, daß er im Menschen einen Herrn und einen Freund gefunden hatte und focht und starb für ihn in blutigen Kämpfen auf dem Eis und in den Bergschluchten.

Gefährlich wurde der Hunger, wenn der See unter der Eisdecke zu vertrocknen schien, die Bären sich in ihren Höhlen versteckten, um den Jammer zu verschlafen, und nur ein heulender Wolf auf der öden Schneefläche zu sehen war. Auch die köstlichen Buchenkörnchen, die die Weiber im Sommer gesammelt hatten, gingen manchmal zu Ende und in weitem Umkreis war oft keine Rinde mehr zu finden, um den knurrenden Magen zu beruhigen. Aber trotz all dem wuchsen stahlharte Männer auf diesem Boden und die Frauen warfen das Steinbeil wie sie.

Der Winter war länger gewesen und härter als je. Die alten Leute versicherten, daß es mit jedem Jahre kälter werde. Selbst in den besten Hütten, die mit Rentierfellen doppelt verwahrt waren, war die kalte Not eingekehrt. In andern war es still geworden. Dort lagen nur noch Leichen, hart und starr wie Stein, vor dem erloschenen Herdfeuer. Bei Baratas Vater regte sich's noch.

Er hatte Tara, seine Braut zu sich genommen, obgleich die Mutter ihn vor dieser Torheit warnte. Hatten sie doch selbst kaum mehr als ein gedörrtes Stück Bärenfleisch und einen gefrorenen Fisch für die nächsten Tage. Allein er war ein trotziger Junge und der Vater meinte, was er getan habe, sei ebenso gut als schlimm. Schlimm, weil für einen weiteren Mund Nahrung gefunden werden mußte, gut, weil dieser Mund lächelte wie die Frühlingssonne und gelächelt haben würde, wenn er im Wintereis erstarrt wäre. Auch wußte sie die wunderbarsten Geschichten vom Süden, wo es warm sei, jahraus jahrein, und keine Not. Freilich der Süden war mit Eisgebirgen vermauert, die nie ein Mensch überschritten hatte. – Die Mutter lag jetzt krank vor dem Herdfeuer, der Vater war so schwach, daß er kaum mehr zu gehen vermochte. Sie waren nicht fern vom Ende, das die Nachbarn ereilt hatte. Da sagte die Mutter: ›Gerne seh ich's nicht, aber die Not bricht Felsen, Barata. Geh zu der Urahne des Vaters in der Melibokushöhle und hole Rat und Hilfe. Wir sind zu Ende.‹

Barata hing sein dickstes Bärenfell um die Schultern, steckte sein schwerstes Steinbeil in den Gürtel und machte sich auf den Weg. Im tiefsten Tal des Odenwalds ging es hinauf. Wo es von senkrechten Eiswänden verschlossen war, stand eine gewaltige Buche, hinter deren Stamm der Eingang zur Höhle lag, die die alte Frau bewohnte. Der Baum, von dem sie im Sommer ihr Brot pflückte, denn es ist der Brotfruchtbaum des Nordens, neigte sich nach vorn. Die Eiswand war ihm so nahegekommen, daß es aussah, als wollte sie ihn erdrücken.

Die alte Frau saß zähneklappernd bei einem guten Feuer. Sie hatte seit kurzer Zeit einen Knecht, der ihr mit erfrorenen Füßen zugekrochen war. Erst wollte sie ihn vor der Höhle erfrieren lassen. Da aber sein Gestöhne sie nicht schlafen ließ, so nahm sie ihn auf und das war gut, für beide. Seine Füße wurden wieder leidlich heil. Nun konnte er die harte Arbeit für sie tun: Holz holen, Eis schmelzen und dergleichen.

Sie war eine Frau, vor der sich die meisten fürchteten, weit und breit, denn kein Mensch wußte, wie alt sie war. Ihr Haar war weiß; aber ihre Haut dunkelbraun. Wenn sie jemand darüber befragte, so lachte sie und sagte: ›So wart ihr alle, zu meiner Zeit. Wer weiß ob ihr nicht wieder so werdet.‹ Überdies war sie eine Hexe. Das allein wußte man genau.

Als sie Barata begrüßte, sagte sie spöttisch: ›Kommt unser Königssohn? Sind die Trotzigsten endlich ausgefroren?‹

Barata erzählte ihr, daß seine Mutter im Sterben liege, und sein Vater nicht weit davon sei. Er komme, sie um Hilfe zu bitten.

›Und ihr klammert euch noch immer an das Land von Eis und Schnee?‹ fragte sie.

›Es ist unsere Heimat. Hier sind wir geboren, und groß geworden und stark‹, sagte Barata.

»Und hier wollt ihr erfrieren«, lachte die Alte. ›Wer kennt seine Heimat? Der Mensch ist wie der Wind; niemand weiß, woher er kommt. Wüßtest du wenigstens, was ich weiß.‹

›So sag mir's‹, bat Barata.

›Sieh selbst!‹ rief die Alte, nahm eine Handvoll dürrer Kräuter von der Steinplatte hinter dem Herd und warf sie in das Feuer. Ein blutroter Qualm füllte die Höhle. Barata glaubte zu ersticken. Dann aber wurde ihm plötzlich wohl und warm, wie es ihm noch nie zumute gewesen war. Durch den roten Dampf, der den hinteren Teil der Höhle vollständig verhüllte, sah er in eine sonnige Ferne. Duftige Berge, Palmen, spiegelnde Teiche, grüne Matten, mit tausend Blumen bedeckt.

Die Alte beobachtete ihn mit stechendem Blick.

›Wenn dies deine Heimat wäre: würdest du den Mut haben, sie aufzusuchen?‹ fragte sie.

›Und die alte verlassen? Ich weiß nicht‹, antwortete Barata. ›Wahrhaftig, ich weiß nicht, aber es will mir das Herz zerspringen vor Sehnsucht.‹

›Tu, was du nicht lassen kannst und geh zu den Deinen‹, sagte die alte Frau. › Ich will den Winter nicht überleben. Es ist genug.‹

Dann gab sie ihm ein Fläschchen aus grünem Nephrit.

›In dem Fläschchen sind noch zehn Tropfen‹, sprach sie. ›Sei sparsam. Die alten Eltern werden sie verjüngen. Ihr Jungen müßt Hunger und Kälte tragen, so gut ihr könnt. Und ehe du aus meinem Tal hinaustrittst gegen den See, findest du links am Berghang ein Bärennest. Dort schläft Nahrung für Monate. Es tut mir leid um die alte Bärin. Sie war meine Freundin, seit Jahren. Doch bist du mir lieber, Barata. Vielleicht findest du den Weg in die Heimat: nach Ost, nach Ost, der Sonne entgegen und dann gegen Süden. Dort kannst du wieder werden, was du bist.‹

Barata ging und fand die Bärin. Es war ein kurzer Kampf, denn die Kälte hatte auch die Tiere halb betäubt. Schwerbeladen setzte er seinen Weg fort, aber noch schwerer war es in seinem Sinn: die Palmen, der blitzende See, die Sonne – wenn er mit Tara das Paradies finden könnte!

Als er seiner Eltern Hütte erreichte, fand er ein grausiges Bild. Sie war halb eingestürzt. Rauchende Balken waren auf dem Eis zerstreut. Seine Mutter ruhte starr und still neben dem Herd auf ihrem Lager. Sie war wohl aus Schrecken gestorben. Der Vater lag mit einer klaffenden Wunde auf der Brust im Schnee, regungslos. Und vor dem Herd lag Tara, ein Steinbeil in der Hand, mit geschlossenen Augen, mit tiefgefurchter Stirne, aber ihr Lächeln noch auf den Lippen, wie Sonnenschein. Man sah nur ihren Kopf, ihren Arm, ihre Brust. Denn auf ihrem Leib lag die Pfote eines riesigen weißen Tieres, das Barata zähnefletschend betrachtete und sein blutiges Maul gegen ihn öffnete. Er schleuderte sein Beil und traf das Ungetüm auf die Stirne, daß der Stein im Kopf stecken blieb. Der weiße Bär stand auf und brüllte, wie Barata noch nichts hatte brüllen hören. Dann fiel er um und Barata fiel auf ihn, wie tot. Es war zuviel für ihn gewesen.

Am folgenden Morgen ging er von Hütte zu Hütte und was noch gehen konnte, ging mit ihm. Er erzählte ihnen, was ihm die Frau in der Melibokushöhle gezeigt hatte. Zuerst zogen sie dorthin. Sie wollten sich weitere Weisung holen, ehe sie die große Wanderung antraten. Allein als sie in den Grund des Tals kamen, lag die Buche am Boden. In der Höhle war das Feuer erloschen und die alte schwarzbraune Frau saß vor dem Herd, tot und steif.

›Es macht nichts‹, sagte Barata. ›Ich weiß, was sie mir sagte: der Sonne entgegen und dann rechts.‹

Tausend Männer, hart wie Feuerstein, tapfer wie sie im Eis des Nordens wachsen, zogen mit ihm. Gut war's, daß er das Fläschchen aus Nephrit mitgenommen, sonst hätte er sein Ziel nie erreicht. Drei Menschenalter hielt es ihn aufrecht. Mit den Enkeln seiner Mannen fand er die uralte Heimat, schlug die Rakschasas und die Bhils und Nagas, daß sie vor ihm krochen wie das Gewürm, das sie sind. Er blieb ein Held. In seinen letzten Tagen sagte er sinnend: ›Mir ist als sehe ich Tara neben mir, wie sie mit dem Steinbeil spielt und Blumen in ihr Haar flicht. Hätte sie die Palmen gesehen!‹

Sakuntala sah den Maler fragend an, doch dieser war zu Ende. Sie nickte leise mit dem Kopf und fuhr dann, ohne einen Augenblick zu zögern, fort, als sei es dasselbe Märchen, das sie weitererzählte.

»Zehntausend Jahre waren darüber hingegangen –«

»Wie heißt die Geschichte jetzt?« fragte Buchwald.


»Die Doppelheimat

Fast waren die alten Sagen verklungen, die durch Jahrtausende im Lande Hind fortgelebt hatten, von Bharata und seinen blonden Männern, die über die Berge aus dem Norden gekommen waren und die Nagas, die Bhils, die Rakschahsas in die Dschungeln getrieben und sie zu Parias gestempelt hatten. Brahmanen wiegten sich im Stolz ihrer Weisheit, Kschatriyas im Trotz ihrer Waffen, und Waisyas sammelten ihre Schätze. Die Sonne hatte ihre Haut gebräunt, ihr Haar geschwärzt. Sie hatten gelernt, Radsch an Radsch zu gründen, Paläste zu bauen, mit Edelsteinen zu prunken und das Gold zu lieben. Manches was mehr wert ist als Gold, war im Schwinden, und doch war es noch tausend Jahre bis zu den Zeiten der Kauravas und PandavasKauravas und Pandavas sind die zwei feindlichen Zweige einer Herrscherfamilie, deren Kämpfe das älteste indische Heldengedicht, der Maha-Bharata besingt., noch fünfzehnhundert, bis der heilige RamaDas nächstälteste große Sanskritepos, die Ramayana, erzählt von den Schicksalen Ramas, einer Inkarnation Wischnus, bei dessen Kämpfen die Affenvölker des Südens eine merkwürdige Rolle spielen., der Gottgeborene, erschien und das Heer der tapferen Affen aus den Westbergen für ihn und die Seinen kämpfte.

Aber schon damals gab es am Indus und Ganges Hunderte von Hinduradschas, die sich um Ehre und Geld und die Größe ihrer kleinen Fürstentümer bekriegten. Schon damals kannten sie Gift und Dolch, und die Kräfte böser Geister und Sprüche von Zauberern waren ihre Waffen geworden. Sie vergaßen nur zu oft den ehrlichen Kampf der alten Zeit, und hatten völlig vergessen, daß sich Brüder zerfleischten, wenn sie aneinandergerieten. Der Friede schien für immer aus dem Lande gewichen zu sein. Haß und Neid regierte die Herzen der Großen und das Volk verblutete in zwecklosen Kämpfen.

Zwei mächtige Königreiche waren inmitten dieser Wirren entstanden, das eine um den oberen Ganges, das andere am Dschumna und standen sich gegenüber, lauernd, wer den Nachbar verschlingen sollte. Da starben beide Radschas zu gleicher Zeit, das erhobene Schwert in der Hand, von Gott, dem ewigen Erhalter, geschlagen.

Der Radscha am Ganges hatte nur eine Tochter hinterlassen, Gandhari, die ältere, eine mutige stolze Frau, die ohne Zaudern das Schwert ergriff, das ihrem Vater entfallen war. Das Reich am Dschumna fiel an Teutuna, den einzigen Sohn des Königs, einen Jüngling, tapfer und mild zugleich, den schon seit Jahren das Los des Landes seiner Väter bekümmerte. ›Soll alles im Blute untergehen?‹ fragte er seinen Gott. Doch der Gott schwieg.

So, nach einer Woche des Kampfes mit sich selbst, qualvoller, als alles was er je gesehen hatte, denn er war ein geborener Held und kannte niemand im Lande Hind, der seinen Bogen zu spannen vermocht hätte, schickte er Boten an die Fürstin Gandhari, mit den reichsten Geschenken aus seines Vaters Schatz und ließ ihr sagen:

›Sollen alle im Blute untergehen, die wir doch eines Stammes sind? Wir wissen, es soll nur ein Radsch sein, an den beiden Schwesterflüssen; das ist die Botschaft der Vergangenheit. Gott der Schöpfer hat es so bestimmt; Gott der Erhalter will nicht, daß unser Volk durch unsere Sünden zu Grunde gehe. Nicht das Schwert wollen wir befragen. Das Schicksal, das mit den Völkern spielt, als wäre ihr Los ein Würfelspiel, soll entscheiden. Spielen wir, du und ich! Der Gewinnende herrsche am Ganges wie am Dschumna. Der Verlierende ziehe mit seinem Volk woher wir gekommen sind in uralter Zeit; nach Norden, über die Berge.‹

Gandhari war eine kluge Frau, trotz ihrer Jugend, und war's zufrieden. Sie sagte sich: ›Bin ich nicht die Tochter von drei Geschlechtern, die die Kräfte der Zauberei kannten wie niemand im Lande Hind? Steht nicht in meinem Radsch der Zauberbaum am Kuru-kschetra? Ich weiß, es ist uns verboten, die alte Schlange zu rufen, denn sie will seit Jahrhunderten schlafen. Aber Not kennt kein Gebot. Ich muß gewinnen.‹

Sie schickte Boten an Teutuna und ließ ihn fragen:

›Wirst du zu uns kommen, oder sollen wir zu dir kommen, um das Spiel auszutragen? Wer weiß, wo der Verrat lauert?‹

Teutuna schwur einen heiligen Eid, bei dem ältesten Gott den er kannte – man glaubte, es sei der Gott des Eises, starr und klar wie Kristall, unverändert und ewig – und sprach: ›Ich werde zu dir kommen; denn ich traue der alten Treue, die wir fast vergaßen. Aber eins mußt auch du schwören, bei dem ältesten Gott, den du kennst, gleich wie ich es tat: Wer verliert, zieht und wenn ihm das Herz bricht!‹

Gandhari lachte, als sie dies hörte: ›Was meint der Mann mit dem Herzen? Ich schwöre bei der Königsschlange unter dem Brotfruchtbaum. Das ist der älteste Gott, den wir hier kennen.‹

Darauf hieß sie ein großes Fest rüsten, wie noch keines in Indien gefeiert worden war. Es sollte die letzte AswamedhaEin Aswamedha ist ein altindischer Brauch. Ein Pferd wurde in feierlicher Weise in Freiheit gesetzt. Verlief es sich im Laufe eines Jahres in das Gebiet eines Nachbars, so wurde diesem der Krieg erklärt und er, wenn möglich, seines Radschs beraubt. in ihrem Königreich sein. Das weiße Pferd sollte nach dem Dschumna gejagt werden, aber an der Grenze ihres eigenen Gebiets sollten ihre eigenen Krieger es töten. Denn ihr Feind sollte im Frieden auf seine große Wanderung ziehen. Das hatte die Rani sich selbst erdacht, denn sie war voll Siegesgewißheit und ihr Geist lebte auf in alten Liedern und in den Gebräuchen ihrer Väter.

In der Nacht aber vor dem Spiel zog sie in das Tal, wo der Brotfruchtbaum stand. Am Felseneingang ließ sie ihr Gefolge zurück. Allein trat sie in den Schatten seiner Zweige und rief die Schlange. Dreimal mußte sie rufen, in Zauberworten, die kein Sterblicher mehr verstand. Es war die Sprache, die die Geschöpfe der Erde gesprochen hatten, ehe Menschen waren. Dann regte sich etwas, unter den moosigen Wurzeln, müde und langsam.

Sie kam herauf. Sie konnte kaum den Kopf mehr heben und war sehr verdrießlich.

›Du hast mich tausend Jahre zu früh geweckt‹, sagte sie. ›Sprich schnell, sonst schlafe ich wieder ein.‹

›Ich weiß‹, sprach Gandhari, ›daß du Würfel segnen kannst, so daß sie jederzeit gewinnen. Hier sind die Würfel. Segne sie!‹

›Mit wem wirst du spielen?‹ fragte die Schlange.

›Mit Teutuna, dem Fürsten vom Dschumna‹, antwortete Gandhari. ›Wir spielen um unsere Königreiche. Du wirst selbst wünschen, daß das Land, in dem du wohnst, und wo man dich anbetet, den Sieg gewinnt.‹

›Mir ist das gleichgültig‹, sagte die Schlange, schläfrig. ›Willst du den Fluch tragen, der an dem Segen haftet?‹

›Ich trage alles!‹ sprach die kühne Rani. ›Ich will herrschen.‹

Da träufelte die Schlange von der Spitze ihrer Zunge einen Tropfen Gift auf jeden Würfel, ließ den Kopf sinken und schlief ein. Gandhari aber nahm die Würfel mit einem freudigen Griff vom Boden und eilte zu ihrem Gefolge zurück.

Am folgenden Tag zog Teutuna mit einer auserwählten Schar seines Volks in der Gangesstadt ein. Nie hatte man einen stolzeren Zug gesehen. Zehn Elefanten voran – doch was soll ich beschreiben, was vor sechstausend Jahren aller Augen entzückte und heute im Winde zerstäubt ist? Herrlicher als alles war der Führer des kleinen Heeres; ernst und mild sein Antlitz und die Kraft seiner Väter in jeder Bewegung der mächtigen Glieder. Sieben Tage dauerte das Fest: Spiele und Kämpfe, Tänze und Gelage wechselten ohne Aufhören, so daß die Leute vom Dschumna gestehen mußten, daß sie an Glanz und Reichtum und sinniger Kunst nichts Ähnliches hätten bieten können.

Der Abend des siebenten Tags war für das entscheidende Spiel bestimmt. Dreimal hatte Gandhari, dreimal Teutuna die Würfel zu werfen. Die einfache Summe der Augen sollte das Schicksal von Fürst und Volk entscheiden.

›Ich habe goldene Würfel mitgebracht, würdig von deiner Hand berührt zu werden‹, sprach Teutuna. ›Jedes Auge ist ein Edelstein.‹

›Ich habe uralte Würfel aus heiligem Nephrit‹, sprach Gandhari, und ein wunderliches Zittern lag in ihrer Stimme. ›Wir sind beide kaum würdig, sie zu berühren, denn sie sind das Heiligste im Schatzhaus meines Vaters. Mit diesen wollen wir spielen.‹

›Wie du willst!‹ sagte Teutuna milde und blickte auf Gandhari herab, die vor ihm stand wie ein Mädchen, das mit der Lotusblume spielt. Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Wo war der Stolz der Fürstin?

Des Radschas oberster Rat ergriff die Würfel und prüfte sie von allen Seiten, während die Fürsten zusammen sprachen, als ginge sie die Sache nichts mehr an. Er versuchte sie wohl zwanzigmal, als ob er mit sich selbst spielte, und sagte endlich, noch immer mißtrauisch: ›Ich kann nichts Bedenkliches an den Steinen finden; mögen die Götter uns schützen.‹

Dann wurde ein Tischchen herbeigebracht und Teutuna und Gandhari würfelten. Bei jedem Wurf ging ein Zittern durch den Saal. Männer wandten sich ab mit bebenden Lippen, Frauen weinten in ihrer Angst; alte Krieger sanken auf die Knie. Zweimal verlor Gandhari um ein Auge. Sie war bleich wie der Tod; man sah, wie es in ihr schwankte und wogte. Teutuna lächelte ruhig. Beim dritten Wurf siegte sie um drei Augen. Sie hatte das Königreich gewonnen.

Ein dumpfes Murmeln ging durch den Saal. Da und dort brach eine Frau von Teutunas Gefolge in laute Klagerufe aus. Der Fürst bot Gandhari die Hand, ohne zu zittern.

›Bleibe!‹ sagte ihr Auge, denn kaum regten sich die bebenden Lippen.

›Lebewohl, Rani vom Ganges und Dschunma!‹ sprach Teutuna ruhig. ›Ich habe geschworen beim ältesten Gott, den ich kenne, starr und klar, wie Kristall, ohne Wechsel und ewig. Ich werde meine Eidestreue halten und er wird mich geleiten – Lebewohl!‹

Am andern Tag zogen sie ab. Er selbst kehrte nicht mehr nach seiner eigenen Hauptstadt zurück. Durch das ganze Land aber sandte er Boten und ließ verkündigen: ›Teutuna, euer Fürst, geht und sucht eine neue Heimat. Wer ihm folgen will, möge sich sputen!‹ Tausende zogen gegen Norden, und ein mächtiges Heer verschwand mit ihm in den Pässen des Himalaya. Monatelang, jahrelang hörte man noch von ihnen aus Kaschmir, aus Bokara und Merw, wie die Wildnisse von Bergen und Wüsten später genannt wurden. Dann ward es still.

Gandhari wurde die größte Rani zwischen dem Indus und dem Bramaputra, aber nichts gab ihr die alte Freude am Leben, am Genießen und Herrschen wieder. Einsam lag sie nachts auf dem Dach ihrer Zenana und sah nach Norden. Dort, wo selbst im Mondlicht die weißen Spitzen der fernen Berge erschienen, starr und klar, ohne Wechsel und ewig, suchte ihr schwarzes Auge Ruhe. So fanden sie ihre Frauen eines Morgens mit halbgeschlossenen Lidern tot.«

»Geschieht ihr recht!« sagte Buchwald, als Sakuntala schwieg, mit fast kindlicher Befriedigung.

»Vielleicht wußte sie nicht, an was sie sich versündigt hatte«, versetzte Sakuntala. »Die Leute vom Ganges und die vom Dschumna hatten längst vergessen, daß sie zusammen gehörten.«

»Das darf man eben nicht vergessen«, meinte der Maler. »Es steigt immer wieder auf und dann gibt es bitteres Herzeleid. Davon weiß ich etwas zu erzählen.«

»Um so besser. Fangen Sie an. Wie heißt die Geschichte?«


»Der verirrte Kreuzfahrer!«

antwortete Buchwald und begann:


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