Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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»Fünftausend Jahre waren vergangen wie eine Nacht. Da dämmerte es wieder.

Wo in meiner Heimat der Odenwald steil nach dem Rheintal abfällt, nicht weit vom höchsten Gipfel des Gebirges und am Eingang seines tiefsten Tals, stand vor Zeiten eine Burg, die heute spurlos verschwunden ist. Im Mund des Volks hieß sie Rattenstein. Ihre Herren hatten sich selbst an den Namen gewöhnt und nannten sich wie ihr Schloß, obgleich in den ältesten Urkunden die Namen Bartenstein, Barattenstein und Baratastein gefunden wurden, von denen niemand wußte, woher sie stammten. Es war schon vor Jahrhunderten ein reiches und stolzes Geschlecht gewesen und kannte Geschichten, die über die Zeit hinausgingen, in der sich die Leute der Nibelungen erinnerten, die in den gleichen Bergen gehaust hatten. Seit Menschengedenken war es allerdings mit den Herren von Rattenstein rückwärts gegangen. Kein Wunder! sagten die Nachbarn. Sie waren allzu wunderliche Leute, diese Rattensteiner. Schön und kräftig genug, der Sohn wie der Vater, so lang man sich erinnern konnte und in allen ritterlichen Künsten von niemandem übertroffen. Aber schon ihre schwarzen Augen, ihre tiefbraune Haut stimmte nicht mit den flachshaarigen Franken und Schwaben der Gegend. Nie konnten sie zur Ruhe kommen. Es war ein ewiges, zweckloses Reiten; nicht auf Raubzüge, die Rattensteiner haßten den ritterlichen Erwerb jener Tage; nicht um die Feste und Gelage der Nachbarn zu besuchen; sie gingen ihnen aus dem Weg, denn sie waren keine Trinker. Sie zogen umher, als suchten sie etwas und wüßten selbst nicht was. Ihr Wappen glich einem Buchenzweiglein in goldenem Feld. In früherer Zeit, hieß es, habe sich ein Schlänglein um den Zweig gewunden, bis die Mönche vom St. Vincentius zu Worms einen ihrer Vorfahren überredet hätten, das Heidensymbolum wegzulassen. So war nur das Zweiglein geblieben.

Schlimmer als ihr Wandern war ihr Hang zum Würfelspiel. Sie hatten keine Freude daran, aber sie konnten's nicht lassen und mußten mitansehen, wie ein schönes Land, das sie sich ehrlich mit dem Schwert in der Hand erstritten hatten, Dorf um Dorf, Hof um Hof dahinschwand. Kein Enkel besaß mehr als die Hälfte von dem, was der Großvater besessen hatte. Den schönsten Weiler am Rhein hatte der Vater des Junkers Bartolf auf seinem Totenbett an den Abt von St. Vincenz verspielt, der gekommen war, ihm die letzte Wegzehrung zu geben. Dabei waren sie nicht wild und ausgelassen wie so viele der Herren am Rhein und Neckar, sondern spielten wie im Schlaf. Nur wenn es zum wirklichen Schlagen kam, stellten sie ihren Mann, so daß es niemand wagte, ein Wort des Spotts, selbst nicht der Warnung an die Träumer von Rattenstein zu richten.

Doch das Schlimmste hing mit ihrem Wappen zusammen, dem Buchenzweiglein, sagte man. Im tiefsten Grund des Waldtals hinter ihrer Burg stand eine uralte Buche von einer Art, die sonst nirgends in der Gegend angetroffen wird. Dies war ihr ›Stammbaum‹, hieß es. Anstatt nach dem Rechten zu sehen und Haus und Leute zu pflegen, wenn sie von ihren Wanderzügen zurückkehrten, saß ein echter Rattensteiner stundenlang unter diesem Baum und träumte. Fragte man ihn, was dies zu bedeuten habe, so wurde er zornig. Es hieß, sie wüßten es selbst nicht, und jeder dritte Stammhalter sei unter der Buche tot gefunden worden. Trotzdem konnten sie es nicht lassen.

Der Vater des Junkers Bartolf war ein schöner Mann und ein Ritter, wie kein zweiter am Rhein zu finden war. Auf seinen Kreuz- und Querzügen hatte er auch die Stauffenburg angeritten und eine Nichte der großen Stauffen heimgeführt, die seine ritterliche Schönheit gefangen genommen hatte. Sonst hätte er sie wohl nicht bekommen. Sie war eine fromme kluge Frau, und als sie sah, wie es auf dem Rattenstein stand, beschloß sie, ein anderes Wesen in der Burg einzuführen. Auch war ihr Gemahl gerne dazu bereit, denn er liebte sein Weib und fühlte wie Fesseln, was auf seinem Hause lag. Sein Großvater war unter der Buche gestorben. Seine Frau ließ eine Messe für ihn lesen, so oft er dem Drang nicht widerstehen konnte, in das Buchental zu schleichen. Da wurde es nach und nach besser, und auch Rattenstein, das alte Nest, hob sich und blinkte und glänzte, als ob es eine zweite Jugend erleben sollte. Ein schweres Unglück kam dennoch. In einem Streit mit den Nürnbergern, die ein Dorf, das sein Vater verspielt hatte, gegen gutes Geld nicht zurückgeben wollten, wurde der brave Rittersmann erschlagen.

Die Witwe verlor den Mut nicht; doch wandte sie sich noch mehr als bisher dem Himmel zu. Der sollte auch ihr Söhnlein in seinen heiligen Schutz nehmen und die Mönche von St. Vincenz, die dafür sorgen mußten, kamen nicht von der Burg. So wurde Junker Bartolf erzogen, fast als ob er für den Himmel bestimmt wäre. Nie durfte er das Buchental betreten; kein Würfel war auf der ganzen Burg zu finden und sein einziges Wandern ging an den Festtagen der Kirche nach dem Kloster des heiligen Vincentius. Doch lernte er Reiten und Fechten nach Ritterart, wenn er auch wenige Freunde seines Alters um sich sah.

Es ging nach der Mutter Meinung alles vortrefflich, bis der Junker achtzehn Jahre zählte. Da, bei einer Jagd in den Bergen, verloren ihn seine Gesellen, und erst nach tagelangem Suchen in den fernsten Schluchten des Gebirgs fand man ihn in nächster Nähe, unter der Buche. Seitdem war kein Halten mehr. Seine Mutter weinte und flehte. Er verstand sie nicht und gehorchte einem Trieb, den er ebensowenig verstand. Zweimal versuchten sie mit Gewalt, ihm den Weg zu verlegen. Er erschlug einen Knecht; es war eine böse Geschichte. Er selbst wußte nicht, wie ihm geschah. Ließ man ihn gewähren, so war er der mildeste freundlichste Junker weit und breit, fromm und gehorsam, fast wie ein Mädchen.

Nun versuchte die Mutter ein anderes Mittel. Sie schickte ihn zu seinen Verwandten nach dem Stauffen. Er ging mit großer Freude. Der erste Ritt in die blaue Ferne! Danach hatte er sich schon längst gesehnt. Und es ging wieder alles vortrefflich. Er fand, was seine Mutter für ihn wünschte: eine Braut aus einem edlen Schwabengeschlecht, und kam zurück, glückselig. Aber das Erste war doch, daß er seinen neuen Traum unter der Buche weiter träumen wollte. Die Mutter wußte, sie konnte ihm dies nicht nehmen.

Nun war's ein monatliches Reiten hin und her, zwischen dem Odenwald und der Alb; in der ersten Zeit voller Glück und Freude und Sehnsucht. Die schwäbischen Verwandten meinten, das Paar sei noch zu jung zum Freien und zwei, drei Jährchen des Glücks der Erwartung sollte man beiden gönnen. So stürmisch wie in den ersten Wochen brauchte es ja nicht zu bleiben.

Das blieb es auch nicht. Das Reiten gefiel Junker Bartolf mehr und mehr. Bald machte er weite Umwege, zuerst beim Zurückreiten, dann auch auf dem Hinweg nach Stauffen. Es war, als treibe ihn etwas immer weiter in die Ferne, und auch von seinen Besuchen im Buchental kam er stiller zurück, je öfter er ging. Wenn dann die Mutter ihn vorwurfsvoll ansah, drückte er ihre Hand und folgte ihr zur Messe, häufiger als er es früher getan hatte. Es war deutlich zu sehen: Er kämpfte mit sich.

Da ging der Ruf durch die Christenheit: ›Gott will es!‹ Es galt, das Grab des Herrn zu befreien. Tausende von Rittern mit ihren Knechten, Abertausende von freien Männern rüsteten sich, dem Ruf zu folgen. Mutter, Braut, das ganze Glück der Heimat verschwand vor seinen Augen. Sollte er nicht im Gefolge des großen Kaisers, seines hohen Verwandten, reiten dürfen? Hinaus nach Osten, woher die Sonne kommt! War es nicht Christenpflicht, Christenrecht? Und ging es nicht nach Osten? – Das Fähnlein mit dem wunderlichen Buchenzweig war nicht das letzte in dem gewaltigen Zug, der sich an der Donau hinunterwälzte. Er hatte nur zwei Knappen bei sich; aber seine Reitgesellen wußten bald genug, daß er selbst für sechse zählte und gaben es auf zu spotten.

Nachrichten kamen nur spärlich nach Hause. Als Kaiser Friedrich im Kalykadmus ertrunken war, und sich sein Heer in den Wüsten und Bergen Kleinasiens verlor, kamen sie allmählich zurück, müde kranke Reiter, die Trauerkunde auf den zitternden Lippen, den Tod im Herzen. Nur wenige erreichten das heilige Land; unter ihnen Junker Bartolf, den noch der Kaiser zum Ritter geschlagen hatte. Das geschah seines guten Schwertes halber. Aber niemand habe auch die stechende Sonne, die Dürre der Wüste, das Gift der Nächte besser ertragen als er. Mit wenigen Getreuen, die sich die Hoffnung nicht rauben ließen, drängte er vorwärts. Als in Aleppo die letzte Aussicht geschwunden war, das zersprengte Heer gegen die Ungläubigen zu sammeln, sei er unter die Templer gegangen, berichteten heimkehrende Pilger. Da ging seine Braut nach Lorch, ins Kloster.

Sieben Jahre lang geleitete Bartolf Pilger von Beirut nach Damaskus, vom Karmel nach Nazareth, von Joppe nach Jerusalem, wie es der Orden befahl; aber alle Freude war von ihm gewichen. Das war nicht der Dienst, den er erhofft, nicht der Osten, den er gesucht hatte. Die Zedern des Libanon verstanden ihn nicht. Unter der Buche in der fernen Heimat hatte er ganz andere Bilder gesehen, und ein wunderliches Heimweh zog ihn weiter fort statt zurück.

Da sollte er eines Tags von Damaskus aus eine kleine Karawane nach Jerusalem führen. Es waren fremde Pilger aus Armenien, hieß es, deren Sprache niemand verstand: eine Fürstentochter und ihr Gefolge, sagte man ihm, die einen königlichen Führerlohn hinterlegt habe. Er sah sie nicht von Angesicht zu Angesicht, bis sie drei Tagereisen von Damaskus entfernt waren. Ein Templer hat nicht nach dem Gesicht seiner Schutzbefohlenen zu fragen, sonderlich wenn es Frauen sind. Am dritten Abend lagerten sie an einer einsamen Quelle in der syrischen Wüste. Da ließ die Fürstin bitten, ihr Gesellschaft zu leisten. Er war ein Templer; aber er war auch ein Ritter und gehorchte.

Nie hatte er etwas Ähnliches gesehen an Schönheit und Liebreiz. Sie bot ihm eine Schale Scherbet, kühl wie Eis.

›Wir haben eine lange, lange Reise vor uns. Ihr bedürft der Stärkung‹, sagte sie.

Er wunderte sich, wie gut sie die Lingua franca sprach und erwiderte:

›Es ist ein Weg von drei Wochen, von hier bis an unser Ziel.‹

Sie lächelte: ›Vielleicht von ebensovielen Jahren.‹

›Wir gehen nach Jerusalem!‹ sagte er und es wurde ihm bange bei ihrer unheimlichen Schönheit und den unerklärlichen Worten.

›Wir gehen, wohin dich dein Herz zieht‹, sprach sie.

›Ich habe meine Ordenspflicht zu erfüllen‹, sagte er finster, denn er sprach nicht gerne mit Frauen, die wie Königinnen sprechen.

›Wir gehen, wohin dich dein Blut zieht‹, fuhr sie fort.

›Ich habe gelernt, ihm zu widerstehen‹, meinte er noch düsterer.

›Nur so lange, bis dich die Geister rufen, die das All regieren. Willst du, daß das Los entscheide?‹

Sie zog einen goldenen Becher und drei Würfel aus dem Täschchen an ihrem Gürtel. Dann sprach sie:

›Gewinnst du, so geht es nach Jerusalem und ich suche meinen Weg allein; gewinne ich, so ziehst du, wohin dich dein Herz zieht.‹

Mit gierigen Blicken und wirrem Sinn griff der Templer nach dem Becher, in dem die Prinzessin die Würfel schüttelte.

›Ein Wurf!‹ rief er. ›Länger ertrage ich den Kampf nicht.‹ Er warf zweimal Eins und einmal Zwei. Sie lächelte wie ein glückliches Kind und warf dreimal Sechs.

Dann stand sie auf und schlug den Vorhang des Zeltes zurück. Es war eine klare Mondnacht. In der Ferne sah man Paläste und Palmen und einen silberglänzenden Teich.

Der Templer sagte schaudernd: ›Ich sah das zuvor, in meiner Heimat.‹

›Es ist deine Heimat‹, sagte sie.

Er verneigte sich und ging mit entschlossenen Schritten nach seinem Zelt. Die Würfel waren gefallen.

Aber als er sich in der Morgendämmerung zum Aufbruch rüsten wollte und gierig nach der neuen Richtung ausspähte, da sah er mit Entsetzen, daß drei Viertel des Lagers verschwunden war. Keine Prinzessin, nicht eine Spur ihres Gefolges! Kein Zweifel: das alles war ein Spuk gewesen, einer der Ginni des Morgenlandes, wie sie die Ungläubigen nur zu wohl kennen.

Doch hatte er nicht das Los geworfen? Hatte er nicht die neue Heimat gesehen? Dort im Osten, wo jetzt die Sonne aufging, mußte sie liegen.

Er brach auf, mit zusammengebissenen Zähnen, denn er hatte nie sein Wort gebrochen und war ein tapferer Mann. Nur seine zwei Knappen begleiteten ihn, kopfschüttelnd, aber ohne Murren. Acht Tagesreisen von der Stelle, wo der Ginni verschwunden war, liegen die Gebeine von allen dreien im Sand begraben.« –

»Daraus sieht man, daß wir keinem arabischen Ginni trauen dürfen, wenn er sich noch so liebreizend stellt«, sagte Miss Thinker nachdenklich.

»Und keinem Phantom nachlaufen sollten«, fügte Buchwald hinzu, »auch wenn es im eigenen Herzen sitzt.«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete Sakuntala. »Vielleicht wäre der Tempelritter unglücklicher geworden, wenn er seinem Herzen nicht nachgezogen wäre. Das Leben von heute dauert nur einen Tag. Wer weiß, was uns der nächste Morgen bringt. Nur muß man das Märchen weiter zu spinnen wissen.«

»Dazu sind wir Nordländer zu schwerblütig.«

»So hören Sie!«

»Aber wie heißt die Geschichte?«


»Die letzte Sati›Sati‹ ist die indische Bezeichnung für die bekannte Sitte der Witwenverbrennung.«

sagte Sakuntala und begann:

»Fünfhundertundfünfzig Jahre waren vergangen. Die Zeit lag nicht zu weit zurück, der Ort lag nicht zu weit entfernt von meiner Heimat, daß ich nicht die Wahrheit hätte hören können.

Seit Jahrhunderten war es immer schlimmer geworden im Lande Hind. Ein Stamm zerfleischte den andern, ein Reich verschlang das andere, ein Glaube spie den andern aus. Die Fürsten mordeten mit Gift und Schwert, die Völker starben dahin in Blut und Hunger. Kinder töteten die Väter, Brüder erschlugen um sich her, was verdächtig war, Bruder zu sein, um zu leben. Wilde Horden kamen von Nord und Ost, Fremde, klug wie Teufel, von der See und verwirrten die Verwirrung zu einem einzigen bluttriefenden Knäuel. Das war aus Indien geworden, vom Himalaya bis Ceylon, vom Indus bis an den Bramaputra.

In einem kleinen Radsch des Südens, wo der Godavery seine Wasser sammelt, herrschte seit kurzem eine Rani. Sie hieß Nurmahal, ›das Feuer des Harems‹. Ihres Vaters Bruder hatte seinerzeit alles getötet, was er an Verwandten finden konnte, um sich und seinem Sohne die Herrschaft zu sichern. Der Sohn aber starb an einem Sturz vom Pferde seines ermordeten Oheims, und den Radscha zerriß das Gewehr, mit dem er das Unglückspferd erschießen wollte. Man war ratlos, wem das Radsch gehören sollte, das rings von gierigen Feinden umgeben war. Da brachte ein Einsiedler, der zwölf Jahre im Gebirge gewohnt hatte, Nurmahal, die Tochter des früheren, rechtmäßigen Fürsten, die er als dreijähriges Kind gerettet und seitdem in den Dschungeln versteckt hatte. Alte Leute erkannten in ihm Bhima, den Brahmanen, der Wesir des vorletzten Herrn gewesen war. Das Volk pries die alten Götter und machte Nurmahal zu dem was sie war: Fürstin von Baratpur.

Es war ein wunderbares Mädchen, die neue Rani: klug wie wenige ihres Geschlechts und Alters, weise wie keine. Sie hatte in der Einsamkeit des Waldes die Sprüche und Lehren der Väter erlernt und kannte Sagen und Lieder aus Zeiten, die die Ältesten vergessen hatten. Dabei war sie eine Schönheit, wie sie nur selten auf Erden zur Blüte kommt.

Dies wurde das Unglück des Radschs und des Herzens von Indien, weit und breit. Denn die mächtigsten Fürsten verlangten, Nurmahal zu freien und hätten längst das kleine Volk überwältigt und die Rani mit Gewalt entführt, wenn sie sich nicht untereinander in blutigen Kämpfen das Recht bestritten hätten, dies zu tun. Tausende, die sie nie gesehen hatten, wurden erschlagen, weil Nurmahal so schön war. Sie aber wollte nicht freien. Im Garten ihrer Zenana wandelte sie unter ihren Lieblingsblumen, den Feuerlilien und sehnte sich, sie wußte nicht nach was. Niemand konnte sie verstehen. Der alte Bhami fragte sie bekümmert: Kannst du es länger mit ansehen, wie sie sich um deinetwegen verbluten? Bist du kein Kind Indiens? Was sollen die Feuerlilien? Pflege Lotusblumen, liebe und freie. Sie schüttelte den Kopf und ging in ihren Garten.

Endlich aber, als es immer schlimmer wurde im Land, sah sie ein, daß der Alte recht hatte. Sie wollte freien, um ihr Volk zu retten. Da erschrak ihr greiser Ratgeber, der sie liebte wie seinen Augapfel, aufs neue. Wen sollte sie zum Gemahl erwählen? Wer war der Tugendhafteste, der Edelste, der Tapferste, der Reichste an Schätzen, wie sie sein Liebling fordern durfte? Wie war er zu finden und zu erproben? – Bhami war ein großer Zauberer, aber erst nach langem Sinnen und Suchen in uralten Palmblattbüchern war er mit seinem Plane fertig und Nurmahal fand, daß es der Beste war, den Menschenwitz ersinnen konnte.

›Niemand sieht in die Herzen, keiner in die Zukunft‹, sprach der Weise. ›Die Götter bestimmen unser Glück, als sei es ein Spiel. Laß sie spielen, mein Kind, und vertraue auf die Barmherzigkeit Gottes, des Erhalters.‹

Hierauf ließ man weit und breit verkünden, daß Nurmahal, den Bitten ihres Volkes sich fügend, zu freien gedenke. Jeder von edlem Blut und reiner Kaste, der sich würdig achte, ihr Gemahl zu werden, sei geladen, im Hofe ihrer Zenana zu erscheinen. Dort werde er mit der Rani das Los werfen, und denjenigen, der mit dem höchsten Wurf sie und alle andern besiege, werde sie als ihren von den Göttern bestimmten Gemahl ehren. Die Verlierenden aber sollten im Frieden von dannen ziehen; es sei des Bluts genug geflossen.

Schmunzelnd, mitten im Ernst jener Tage, traf der alte Brahmane seine Vorkehrungen für die bestimmte Stunde. Für die Rani wurde im Schloßhof ein Thron errichtet. Vor denselben stellte man einen kleinen Altar, auf diesen einen silbernen Becher mit goldenen Würfeln, welche Bhami drei Nächte lang gegen alle bösen Mächte gefeit hatte, so daß sie nur dem Wahren und Guten dienen konnten. Ringsum, an den Wänden des Hofs wurden Schaubühnen gebaut, denn ihr Volk, sprach die Rani, sollte sehen, für wen sich der Himmel entschied. Unter dem finstern Schloßtor aber, durch den die Bewerber einer nach dem andern eintreten mußten, ließ der Brahmane eine Querschwelle lösen und unter derselben zwei verschlungene Schlangen begraben. Das tat er heimlich, in der Nacht. Zu Nurmahal aber sprach er: ›Du weißt noch nicht, was dies bedeutet, darum höre: Wo zwei verschlungene Schlangen liegen, von der Art derer, die unter Brotfruchtbäumen hausen, da liegt der Gott der Häuslichkeit, der Familie, des Segens, den Eltern den Kindern und Kinder den Eltern bringen. Wer über diese Schlangenschwelle schreitet, zeigt, er mag wollen oder nicht, öffentlich und in körperlicher Gestalt, was im Innersten seiner Seele wohnt. Viele glauben, er erscheine in der Form, in der er die große Wanderung antreten müßte, wenn er heute stürbe. So werden wir erkennen, wes Geistes Kind sie sind, ehe deine Bewerber den Würfelbecher berühren.‹ – Sie war's zufrieden.

Von allen Seiten strömten sie am bestimmten Tage herbei und standen vor dem Schloß in der Pracht ihres Reichtums, im Glanz ihrer Waffen, mit zornigen Blicken die Gegner messend und mit neugieriger Zuversicht durch die finstere Pforte spähend, durch die man in hellem Lichte den Tisch mit den Würfeln und hinter demselben Nurmahal sehen konnte, die mit einer Feuerlilie spielte.

Zuerst kam ein Hinduprinz aus Bengalen, der sich überaus klug und gelehrt dünkte. Auf seinem Gürtel waren Zauberzeichen eingegraben, auf seiner Nase saß eine Brille und in der Hand hielt er eine gewaltige Rolle voll selbstverfertigter Gedichte. Als er über die Schwelle trat, spürte er in allen Gliedern ein peinliches Recken und Strecken, und einen unwiderstehlichen Drang, statt sich zierlich zu verbeugen, mit den Händen bis auf den Boden zu fallen. Vor der entsetzten Versammlung aber stand nach wenigen Augenblicken ein junger grauer Esel, sah sich höchst verwundert um und begann mit einem markdurchdringenden – ah den Hofstaat der Rani wohlgefällig zu begrüßen. Dann aber schien auch ihn ein jäher Schreck zu überfallen. Er drehte sich um, schlug unhöflich nach hinten aus, galoppierte durch das Tor hinaus, durchbrach die Reihen der draußen wartenden Gefolge und stürmte angstvoll brüllend dem nahen Walde zu, in dem er verschwand.

Nun kam ein Sohn des großen Padischa von Delhi, des gefürchteten Moguls, stolz wie es nur ein Sterblicher sein kann, bedeckt mit Gold und Edelsteinen. Das krachte und knackte, wie er über die Schwelle trat! Es war aber nicht die Schwelle, es waren die Knochen des armen jungen Mannes. Denn sie wuchsen und wuchsen und ein prächtiger Elefant stand dumm und verlegen unter dem Torweg, erhob den Rüssel, wie wenn er Trompeten wollte, senkte ihn dann aber wieder rasch, als wäre ihm nichts Passendes eingefallen. Da er sich unter dem Tor nicht umdrehen konnte, mußte er zu diesem Zweck in den Schloßhof eintreten, was seine Verlegenheit sichtlich vermehrte; dann aber trampelte er schwerfällig und so schnell er konnte dem Walde zu und verschwand, wo der Esel verschwunden war. Das Volk aber, das an die Zauberkünste seines alten Brahmanen schon gewöhnt war, betrachtete die Sache als einen vortrefflichen Scherz und lachte, daß das Schloß erzitterte.

Jetzt trat einer der Fürsten aus Radschputana unter das Tor, eine prächtige Gestalt, mit blitzenden Augen und keckem Schritt. Der Mann kannte keine Furcht, man sah das; aber all sein Mut half ihm nichts. Zwar kam er zehn Schritte über die Schwelle, ehe er zusammenzusinken schien. Dann, mit blutunterlaufenen Augen, bereit zum Sprung, stand mitten im Schloßhof ein Königstiger und betrachtete die Leute, als ob er sich seine Beute wählen wollte. Niemand lachte diesmal. Bhami mußte seinen schwarzen Stab ausstrecken, an dessen Spitze ein roter Karfunkel blitzte. Nun erst besann sich der Tiger eines besseren, drehte sich um und stürzte in wilden Sätzen, brüllend, daß die Erde bebte, durch das Tor hinaus.

Dem Radscha folgte ein Mahratte und schlich als Fuchs davon, diesem ein Afghane, der sich mit einer zottigen Wolfshaut begnügen mußte. Dann nahten ein paar fremde Gestalten, die schon draußen, unter den harrenden Sudras und Parias, lauten Spott und kaum verheimlichten Haß erregt hatten. Es war nämlich ein behäbiger holländischer Kaufherr aus Sadras und ein kecker, aber allzu lebhafter Franzose aus Pondicherry. Woher nahmen diese kastenlosen Herrn die Frechheit, hier zu erscheinen, fragte das Volk unwillig. Doch gehorchte man dem Wink der Fürstin und ließ sie passieren.

Die verzauberte Schwelle wirkte auf die weißen Männer, wie sie auf die dunkeln gewirkt hatte. Als griesgrämiger plumper Tapir trottete der Holländer dem nächsten Sumpfe zu und wälzte sich, nicht allzu traurig, grunzend in den trüben Wassern. Der Franzose, den die Schwelle in ein prachtvolles Cochinchinahuhn verwandelt hatte, fürchtete sogar den Zauberstab Bhamis nicht, hüpfte selbstgefällig auf den Würfeltisch und krähte dort dreimal aus vollem Hals. Es war gut für den Hahn, daß auch Bhami lachen mußte. Ein Diener trug das kreischende Tier hinaus und ließ es am Waldesrande fliegen. Dort rettete es sich auf den höchsten Tamariskenbaum und fuhr fort zu krähen.

Nun wagte niemand mehr in den Hof einzutreten. Fröhlich lachend erhob sich die Prinzessin und alles endete mit einem lustigen Fest für die ganze Stadt.

›Was aber wird aus den armen Tieren?‹ fragte die Rani, voll Mitleid für alles, was leidet.

›Sei unbesorgt‹, versetzte Bhami. ›Der Zauber dauert sieben Tage. Schon morgen werden sie alle fühlen, wie sich die Tiergestalt wieder zurückzubilden beginnt. Dies ist allerdings anfänglich mit heftigen rheumatischen Schmerzen verbunden. Allein eine kleine Strafe haben die Herren wohl verdient und gegen das Ende der Woche, wenn die Menschengestalt wieder fast ganz herausgewachsen ist, spüren sie nur noch ein angenehmes, sanftes Prickeln. Du wirst sehen: in acht Tagen wird einer um den andern aus dem Wald kommen, etwas beschämt natürlich, denn ihre feinen Kleider werden in allen Richtungen geplatzt sein, aber im übrigen heil und gesund. So lange müssen wir die Leute ihres Gefolges natürlich hier behalten!‹ – ›Bewirte sie gut‹, sprach die Rani und zog sich in ihren Garten zurück.

Doch der blutige Ernst des Lebens kam wieder, nach diesem fröhlichen Tag. Der Kampf um das Radsch entbrannte aufs neue, toller als je zuvor. Die Rani wurde trüber und träumerischer mit jedem Tag, denn sie sah keine Rettung. Ihr einziger Trost war ihr Garten und die freundlichen Feuerlilien. Das half dem armen Volk allerdings wenig, das sich der Feinde kaum mehr erwehren konnte.

Da eines Tags hörte Nurmahal, daß am unteren Godavery, an der Küste, ein Mann erschienen sei, wie noch niemand einen ähnlichen gesehen habe, mit blonden Haaren und blauen Augen; ein Eroberer, sagten die Hindus der Gegend, ein König der Könige, sagten die Nagas. Sein Antlitz sei mild, wie die Morgensonne im Frühling. Er trage kein Schwert, sondern ein Buch. Der treibe keinen Handel. Er rufe nicht zum Streit, sondern spreche von Liebe, einer Liebe, die man im Lande Hind nicht kenne. Und er komme aus dem fernsten Norden, wenngleich er in einem Schiff aus Südosten gekommen zu sein scheine. Denn alles an und um ihn sei voller Rätsel.

Als sie all dies hörte, blieb die Rani drei Tage in ihrem Garten. Ihre Frauen sagten, sie spreche kein Wort und sei wie tot. Dann ließ sie Bhami rufen und sprach: ›Dies ist er, auf den ich wartete. Ich werde ihm Geschenke schicken und meinen Ring, obgleich er weiß, daß er hier die Heimat findet, die er sucht.‹

Bhami erschrak heftig: ein Fremder, der nichts wußte von den Göttern des Landes! Aber es half ihm nichts. Der Bote ging und nahm als Geschenk einen schwarzen Edelstein mit, der auf der Kronenspitze einer toten Königsschlange gefunden worden sei, hieß es. Es war das Kostbarste, was Nurmahal besaß.

Da rief Bhami seinem Diener und sprach: ›Ich weiß, du bist ein Thug. Ein Fremder ist in wenigen Tagen auf dem Weg hierher. Am Saume des großen Waldes flußabwärts steht ein Brotfruchtbaum. Er ist seit Jahrhunderten der geheiligte lebendige Grenzpfahl unseres Fürstentums. Dort erwarte ihn und tue, was deines Amtes ist.‹

An jenem Baum schlug zwei Wochen später der Fremde seine Zelte auf, in der letzten Nacht, ehe er Baratpur zu erreichen hoffte und wurde am folgenden Morgen erdrosselt aufgefunden.

Als dies Nurmahal hörte, sprach sie sanft: ›Ich bin Witwe, ehe ich Frau geworden. Aber ich klage nicht. Es geschehe mir nach der Sitte meines Volks, so wird Friede sein.‹

Bhami erschrak abermals in den Tod, denn er kannte den eisernen Willen dieser Sanftmut. Und nichts, was er sagen, nichts was er tun konnte, änderte diesen Willen, noch die Wege des Geschicks. Ein großes Fest wurde für Stadt und Land zugerichtet. Trauer und Freude feierten zu gleicher Zeit die alten Gebräuche. Mitten im Garten ihres Schlosses wurde ein Scheiterhaufen aus dem Holz des Brotfruchtbaums aufgebaut, unter dem ihr Gemahl, den sie nie lebendig gesehen hatte, gefunden worden war. Ringsum standen die Feuerlilien in staunender Pracht, als die Flammen gen Himmel stiegen. Wortlos nahm sie von den Blumen Abschied, während sie allein dreimal um die brennende Lohe schritt. Dann trat sie in die Flammen und starb ihm nach.«

»Und diese Geschichte nennen Sie nicht traurig?« fragte Buchwald entrüstet.

»Ist es so traurig, wenn sich die beiden endlich zusammenfanden?« fragte Sakuntala dagegen. »Glauben Sie nicht an ein Leben nach dem Traum, den wir heute träumen?«

»Eins gefällt mir an der Geschichte«, tröstete sich der Maler. »Es war die letzte Sati.«

»Ja, in Baratpur, denn wenige Monate später erschien ein englisches Regiment aus Madras an der Stelle, wo der Weiße verschwunden war, und verlangte seine Herausgabe. Noch war alles in wilder Verwirrung und halbbetäubt von dem was geschehen war. Überdies stand an der entgegengesetzten Grenze des Landes ein kleines Mahrattenheer und verlangte die Auslieferung der Rani, die seinen Radscha tödlich beleidigt habe. Es war der Fuchs im Würfelspiel. Die Mahrattenräuber wurden rasch vertrieben. Die Engländer blieben, nach ihrer Art. Und damit war es aus mit den Witwenscheiterhaufen. – Nun aber hinaus aus meiner schwülen Heimat zu Ihrer Geschichte. Wie heißt sie?«


»Schwarze Diamanten«

antwortete Buchwald und begann:

»Fünfundfünfzig Jahre waren vergangen. – Sehen Sie, Miss Thinker, wo der Mond steht? Es ist höchste Zeit, daß wir in unsere Tage kommen. Und verzeihen müssen Sie mir, wenn ich nichts von Radschas und Ranis, von Fürsten und Prinzessinnen zu erzählen weiß. Es geht alles einfacher zu, wo ich zu Hause bin.

An der Bergstraße, zwischen Jugenheim und Balkhausen, in dem Waldtal, das gegen den Melibokus hinaufführt, wohnte ein Holzhauer in einem uralten Steinhäuschen. Man sagte, es sei aus den Steinen einer verschwundenen Ritterburg gebaut worden und der Großvater des Mannes habe schon drin gewohnt. Er hatte einen Jungen, an den sich ältere Leute heute noch erinnern, klug und munter, aber wild wie eine Waldkatze. Zu Zeiten half er dem Vater beim Holzhauen; dann brachte dieser zweimal so viel fertig als ohne den Knirps. Auch war der Pfarrer zu Jugenheim förmlich in den Jungen verliebt, gab ihm Unterricht in Latein und Griechisch und versicherte, er sei noch nie einem Schüler begegnet, der, wie der kleine Berthold, den Spiritus der alten Sprachen sozusagen gerochen habe. Der Junge müsse studieren. Dabei dachte er nicht an recht bedenkliche Fehler des Bürschchens. Von Zeit zu Zeit packte es den Kleinen in unerklärlicher Weise. Dann lief er tagelang in den Wäldern umher, bis ihn der Hunger wieder heimtrieb. Er habe alte Buchen gesucht, die reif zum Fällen seien, erklärte er, selbst zweifelhaft, wenn er seine Prügel weg hatte. Kein Strick aber hätte ihn gehalten, wenn Zigeuner in die Gegend kamen. Einmal blieb er eine ganze Woche weg und wurde von Landjägern aus dem Neckartal zurückgebracht. Das nächstemal kam er überhaupt nicht mehr.

Er war mit einer andern Zigeunerbande den Rhein hinab gewandert und bis in die Ruhrgegend gekommen. Dort blieb er krank und elend am Wege liegen und wurde vom Weib eines Bergmanns gefunden und ein paar Tage lang gefüttert und gepflegt. Das nette Kerlchen gefiel den kinderlosen Leuten. Da nichts ihn bewegen wollte, über seine Herkunft Aufschluß zu geben, nahm ihn der Mann in die Kohlengruben mit und merkwürdigerweise gefiel ihm die Arbeit in den finstern Gängen. Namentlich das Sprengen des Schiefers, das Brechen der Kohle erfüllte ihn mit unruhiger Neugier. Sie strahlte aus seinen Augen, wenn ein Bohrloch gefeuert werden sollte, und er war immer der erste, der die eingestürzten Wände mit Hammer und Brechstange durchstöberte. Es war als ob er ganz andere Dinge in den faserigen und oft genug formlosen Blöcken und Bruchstellen sehe als jeder andere Arbeiter. Wie er früher in den Buchenwäldern Stunden verträumt hatte, so saß er jetzt manchmal in der schwarzen Kohlenwelt, ganz zufrieden, ohne sich zu rühren.

Nach ein paar Jahren war er einer der besten Arbeiter geworden. Aber nun kam die Unruhe wieder über ihn, und eines Tages ging er auf einem Kohlenschiff, das für Holland bestimmt war, auf und davon, erst den Rhein hinunter, dann übers Meer. So kam er nach England, nach London. Dort war es nun allerdings aus mit dem Träumen; er mußte leben. Von den großen Kohlenlagern der Riesenstadt, entlang der Kanäle, die von Norden kommen, fand er seinen Weg schließlich nach Yorkshire. In wenigen Monaten hatte er die Sprache erlernt und in noch kürzerer Zeit war er Aufseher in einer kleinen Grube bei Barnesley geworden. Ein kluger Bursche war's, Glück hatte er auch und das Träumen verlor sich mit der Zeit. So kam's, daß nach etlichen Jahren, als der Besitzer der Grube starb, die Erben ihm das Bergwerk übertrugen, obgleich er sich unerklärlicherweise weigerte, die hübsche Grubenwitwe zu heiraten. Mit dem Träumen war es eben gründlich vorbei. Er wurde, nicht ohne Anstrengung, ein harter Mann, kaufte Grube um Grube, häufte Gold und Gold und war schließlich einer der reichsten Kohlenbergwerkbesitzer im Norden.

Aber er blieb ein wunderlicher Kauz. Obgleich er als alter Junggeselle an Prunk und Pracht nicht die geringste Freude hatte, häufte er doch in seinem einsamen Haus auf einer der kahlsten Höhen des West-Ridings wunderliche und kostbare Schätze an. Wo in den Kohlenflößen Spuren von alten Holzstämmen gefunden wurden, mußten sie sorgfältig herausgeschält und nach seiner Villa gebracht werden. Auch sonstige Versteinerungen aus dem Kohlenschiefer waren ihm willkommen. All das wertlose Zeug, wie es die Bergleute nannten, ließ der alte Bert im Grundstock seines Hauses aufstellen, so daß die Geologen, die ihn besuchten, versicherten, man fühle sich bei ihm wie in einem schwarzen Palmenwald. Baumfarn von riesiger Größe, Calamiten, Sigilarien standen an den Wänden umher. Seine Dienerschaft behauptete, daß er an Sonntagen, statt die Kirche zu besuchen wie ein Christenmensch, stundenlang unter diesen Trümmern der Urzeit spazierengehe. Er konnte dies, denn das Haus war nach seinen eigenen Plänen so gebaut, daß man von der Vorhalle aus in sieben Zimmern die Mittelhalle umkreisen konnte. Letztere ging durch zwei Stockwerke, um die erforderliche Höhe für die Sigilarien zu gewinnen. Im oberen Stock hatte er seine einfachen Wohnzimmer sowie ein geheimes Gemach, in dem eine zweite seiner Liebhabereien Unterkunft fand. Ich meine nicht den gewaltigen Geldschrank, der jedoch keine unwichtige Rolle in seinem Leben spielte – ›Geld ist Macht‹ war eins seiner Lieblingssprichwörter – sondern eine wundervolle Sammlung von Edelsteinen. Sie waren fast alle indischen Ursprungs und hatten ihn viele Tausende gekostet. Er konnte plötzlich die Times auf den Boden werfen und nach London abreisen, wenn er zufällig las, daß ein bestimmter ihm bekannter Stein dort versteigert werden sollte, oder alles im Stich lassen, wenn ein Agent ihm mitteilte, daß ein Kaufmann der indischen Kompanie eine Sendung seltener Mineralien aus Bombay oder Ceylon erhalten habe.

So einsam und einfach er lebte, war er nicht ganz ungesellig und hatte ein lebhaftes Interesse auch für ethnographische und anthropologische Fragen. Seine Bibliothek war voll nutzloser Bücher, wie seine Nachbarn behaupteten, und wenn die British Association ihre Jahresversammlung im Norden hielt, in Newcastle, York oder Durham, so ließ er die Gelegenheit nicht vorübergehen, Gelehrte zu sich einzuladen und fürstlich zu bewirten. Mit einer fast naiven Neugier, wie ein Kind, das einem Märchen lauscht, folgte er dann den Gesprächen dieser Herren, die meist zu erbitterten Wortkämpfen Veranlassung gaben. Wo ist Sanskrit entstanden? Kamen die germanischen Stämme aus Indien? Oder war es umgekehrt: Kommen die Arier, die am Ganges wohnen und in den Vedas die älteste Weisheit der Menschen niederlegten, aus dem Norden? Ist es nicht Torheit, fragte der eine, anzunehmen, daß die blonden, blauäugigen Rassen der Sonnenglut der Tropen entsprungen seien? Ist es nicht Wahnsinn, zu vermuten, rief der andere, daß der allweise Schöpfer – wenn Sie einen solchen annehmen, Herr Kollege – damit anfing, den armen nackten Zweifüßler in Eis zu legen, um ihn auf seine Dauerhaftigkeit zu prüfen? Wenn dann die gelehrten Gegner sich gegenseitig genügend der Unwissenheit und Unwissenschaftlichkeit überführt hatten und Arm in Arm nach Hause gingen, pflegten sie wohl zu sagen: Na, Herr Kollege – schließlich – ob die Germanen am Ganges geboren wurden oder die Inder im Sachsenwald – sein Portwein war ausgezeichnet! – Der Eigentümer des feinen Ports aber, der allein zurückgeblieben war, saß dann wohl unter einer verkohlten Fächerpalme der Urzeit, und träumte ausnahmsweise noch ein Viertelstündchen, wie er als Junge geträumt hatte, mit einem Druck auf dem verknöcherten Herzen, den ihm sein Hausarzt nicht erklären konnte.

Im Alltagsleben war und blieb er ein harter Mann, gegen sich und andere. Die sogenannte Schule des Lebens und ein eiserner Wille hatte ihn dazu gemacht. Seine Arbeiter haßten ihn. Wenn er, was trotz seines Alters häufig geschah, in die Gruben fuhr und unerwartet durch die Stollen kroch, gab es für jede kleine Unordnung, die er entdeckte, derbe Zurechtweisungen und rasches Gericht über Sein und Nichtsein der Schuldigen. Eines Tages besuchte er in dieser Weise ein Bergwerk, das in alten Zeiten den heute nicht mehr passenden Namen der Frohen Hoffnungsgrube erhalten hatte. Weite Strecken waren längst verlassen, lange Stollen halb eingestürzt, die tiefsten waren ertrunken, kurz, es war ein höchst vernachlässigter Teil seiner großen Werke, in dem nur noch an zwei Punkten lässig und zugleich mühevoll gearbeitet wurde. Vier Wochen zuvor hatte er dort ein Dutzend Arbeiter entlassen, die an dem ärgerlichen Zustand des Ganzen völlig unschuldig waren. So traf er heute nur finstere Gesichter. Niemand bot ihm einen Bergmannsgruß; nur als die schwarzen, grimmigen Gesellen sahen, wie der alte Mann, gebückt und allein weiterschleichend, einen falschen Weg einschlug, winkten sie sich und keiner warnte den Herrn.

Erst am folgenden Tag wurde er in seiner eigenen Villa vermißt. Dann natürlich begann ein Suchen nach allen Richtungen. In die Nachbarorte, nach Newcastle, nach London wurde telegraphiert; in allen Schächten wurde nachgefragt. Endlich kam man auch nach der Frohen Hoffnungsgrube. Ja; dort hatte man ihn zuletzt gesehen. Trüppchen wurden organisiert, die die endlosen alten Gänge nach einem bestimmten Plan durchforschten. Eine Abteilung kam an das Ende eines halb eingestürzten Stollens, dessen Boden durch den völligen Einsturz des darunterliegenden ausgebeuteten Flözes sich um mehrere Meter gesenkt hatte. Dadurch war eine geräumige Höhle mit hohen Wänden entstanden, die einen merkwürdigen Anblick boten. Stamm an Stamm ragten Palmen nach der Decke. Rippen und Abdrücke von Farnkrautblättern bedeckten den Boden. Ein Baum, von dessen Gattung man bisher nie eine Spur entdeckt hatte, mehr einem riesigen Laubholzbaum späterer Jahrtausende ähnlich, stand an der hinteren Wand der Kammer. Dort lag auch Herr Bert bewußtlos am Boden, mit einer blutenden Wunde auf der Stirne.

Man richtete ihn auf und flößte ihm Branntwein ein, das Heilmittel für alle Schäden in den Kohlendistrikten Englands. Er erholte sich verhältnismäßig rasch, sah erst entsetzt um sich und lächelte dann, als ob er vor den Leuten einen kleinen Unfall verstecken wollte. Dann schien ihn plötzlich eine Erinnerung zu ergreifen. Er fuhr mit der Hand nach der Brust, zog einen kleinen, glänzenden Stein aus der Tasche und verbarg ihn wieder. Der Aufseher, der den alten Herrn in den Armen hielt, behauptete nachher, es sei ein blitzender Diamant gewesen, aber kohlschwarz, wenn ihn das Spiegeln der Wände in dem Stein nicht getäuscht habe.

Man trug Herrn Bert aus der Grube und führte ihn nach seinem Haus. Einen halben Tag war es möglich, ihn im Bett zu halten. Staunend hörte die Welt einige Tage später, daß er seine Bergwerke verkaufen wolle. Rasch genug war dies geschehen, da es fast schien, als ob ihm der Preis gleichgültig wäre. Er war mit allem in fieberhafter Eile, und nach drei Monaten war das große Geschäft sowie sein Haus in andere Hände übergegangen.

Selbst sein ihm freundschaftlich ergebener Hausarzt, ein leidenschaftlicher Geologe, mit dem er den Kohlenschiefer der Gegend in jedem Sinne zu durchforschen pflegte, erfuhr nicht, was ihm in jener Calamitenhöhle begegnet war. Aus den fast sinnlosen Andeutungen, die ihm gelegentlich entschlüpften, ließ sich nichts ersehen, als daß der Verstand des alten Herrn vielleicht durch einen Sturz gelitten haben mochte. Er hatte Stunden tiefer Schwermut, in denen er seinem Freunde seufzend gestand, sein Bestes erstickt, seine Lebenskraft mißbraucht zu haben, um mit Gewalt seine Seele versteinern zu lassen. Er müsse, war der Schluß solcher Ausbrüche, die Farnpalmen an Ort und Stelle sehen; das allein könne ihm vielleicht noch helfen.

Keine Warnung des besorgten Arztes machte den geringsten Eindruck auf ihn. Schon halbkrank, schiffte er sich in Southampton ein. Man hörte später von Mitreisenden, daß seine Ungeduld während der zwar langen aber glücklichen Überfahrt fast peinlich anzusehen gewesen sei. Es war unzweifelhaft, daß sein Geist in eigentümlicher Weise angegriffen war. Während der letzten Tage im Indischen Ozean, wurde der alte Herr schon so schwach, daß man ihn auf das Deck tragen mußte, als Ceylon in Sicht kam. In den zitternden Händen habe er bis zuletzt einen kostbaren schwarzen Stein gehalten, den er mit fast kindischer Heimlichkeit versteckte, wenn er sich beobachtet glaubte. Als man die Berge der paradiesischen Insel und die prachtvollen Palmenwälder von Colombo im Widerschein des Abendrots vor sich liegen sah, sei er sanft aber unerwartet rasch gestorben. ›Lanka, meine Heimat!‹ seien seine letzten Worte gewesen.«

»Ich dachte mir's«, sagte Sakuntala. »Heute kennt ihn kein Mensch mehr, aber Lanka ist der uralte Name von Ceylon. Von dort stammte der kleine Bibidschinka in unserem ersten Märchen. Aber jetzt zum Schluß, mein Märchenspinner!«

Sie neigte sich gegen Buchwald mit einem Lächeln voll unbewußter Liebe, daß es ihm heiß und kalt über den Rücken lief

»Hören Sie die letzte unserer Geschichten; dann wollen wir richten! Sie hat noch keinen Namen. Doch Ihnen zuliebe nenne ich sie:


Die Lotusblume und der Schmetterling«

Dann, über den Strom hinwegblickend, begann sie:

»Nichts war vergangen. Was sind fünf Jahre in den Zeiten, mit denen wir rechnen?

Nichts war vergangen – nichts vergeht.

Der Segen des Himmels hatte sich nach einem Jahrtausend wieder einmal über das verschmachtete Land ergossen. Der Teich von Kuru-kschetra, der seit dreißig Menschenaltern vertrocknet und vergessen gewesen war, hatte sich wieder gefüllt. An seinen Ufern sproßten Blumen aus tausendjährigen Samenkörnchen, und Palmen schossen empor wie unter dem Zauberstab des Schöpfers. Ruhig und friedlich lag der blaue Spiegel unter dem blauen Firmament und erkannte die Sterne wieder, die er vor zehn Jahrhunderten aus seiner Tiefe gegrüßt hatte.

Nichts war vergangen – nichts vergeht.

In einer warmen Mondnacht stieg aus dem feuchten Grunde eine Blume empor, jung und frühlingsfrisch. Ihre herzförmigen tiefgrünen Blätter wiegten sich über dem Wasser im Hauch der Nacht, als der Mond aufstieg und sein silbernes Licht über die fernen Berge warf und über die dunkeln Ufer in ihrer stillen Pracht. Alles blühte ihm entgegen. Da öffnete auch die Blume ihren weißen Kelch, um dessen Rand ein sanftes Rot spielte wie der Atem des Lebens. In ihrem Kelch aber, umringt von goldgelben Staubfäden, lag auf goldenem Kern etwas wie ein Tautropfen, wie eine Perle, wie ein Edelstein. Es blitzte und funkelte, wenn der Mondstrahl es berührte und war fast schwarz, wenn es der Schatten der Blätter des Kelchs deckte. Eine gewöhnliche Lotusblume war es nicht, die aus der Tiefe gestiegen war.

Sie sann und sann durch die stillen Stunden der Nacht. Woher war sie gekommen? Woher ihre Schönheit, ihr Duft, ihre Sehnsucht? Sie erinnerte sich nicht, doch sie fühlte es, daß jahrhundertelang ihr Samenkorn scheinbar tot in der toten Erde gelegen hatte. Und doch war sie jetzt lebendig, blühte fröhlich in der stillen Welt, die sie umgab und duftete dem Mond entgegen, der sie mit seinen Strahlen küßte wie eine Mutter aus einer andern Welt ihr erdgeborenes Kind. Aber sie sehnte sich, sie wußte nicht nach was. Es war das schmerzliche Frühlingsglück der Lotusblumen.

Stunden zerrannen wie lange selige Jahre, in unbegreiflichem Erinnern und ihr Sehnen und Duften wurde immer mächtiger. Dabei sah sie den Mond emporsteigen, ruhig aber unaufhaltsam, vom Rande des Sees, bis er senkrecht über ihrem Kelche stand. Was kümmerte sie die Zeit!

Und als der Mond in der Mitte des Himmels stand und die halbe Nacht schon vorüber war, da endlich kam es, von der andern Seite des Sees, von Norden her: ein großer silberner Schmetterling. Lautlos wiegte er sich über den Wassern. Auf jedem seiner weißen, mächtigen Schwingen war ein grünes Fleckchen. Es glich einem Blatt. Sie wußte, was es bedeutete. langsam sank der Falter aus der Höhe, setzte sich auf den Rand der Blume und küßte ihr dunkles diamantenes Herz.

Da schloß sie zitternd die Blätter des Kelchs. Der Falter war gefangen und lautlos sank die Blume unter Wasser.

Der Mond aber ging weiter auf seiner stillen Bahn. Das zeitlose Glück fragt nicht nach Stunden, nicht nach Jahrtausenden.«

Sakuntala schwieg. Sie hätte keinen Grund dafür angeben können, aber ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Der Mond – der wirkliche Mond – stand jetzt auch fast senkrecht über ihnen und erfüllte alles ringsumher mit seiner silbernen Klarheit. Auf dem Nil, in den sie hinuntersah, trieb eine Lotusblume vorüber.

»Sehen Sie sie!« rief Buchwald bebend. »Schnell, ehe sie versinkt!« wollte er hinzusetzen, aber die Stimme versagte ihm. Er sank vor Sakuntala nieder.

»Sie versinkt nicht; nicht ohne dich«, flüsterte sie.

Da hatten sie sich gefunden. –

Die Lotusblume auf dem Nil gehörte nicht zu den sieben Märchen. Man hatte aus den Teichen in den alten Gärten von Schubra ganze Bündel der altägyptischen Seerosen herausgefischt und wollte die Zementbecken der Gesira damit schmücken. Da dieselben noch nicht mit Wasser gefüllt waren, hatte man die Wagenladung, um sie frisch zu erhalten, am Nilufer ins Wasser gesetzt und sie dann, nach ägyptischer Art, vergessen. In der Nacht hatte sich ein Teil derselben losgemacht und war mit dem Strom, am Ufer entlang, davongesegelt. Buchwald, als gründlicher Deutscher, ruhte nicht, bis er einige Tage später das Geheimnis enträtselt und für Sakuntala noch ein Dutzend der zurückgebliebenen Blumen erbeutet hatte.

Als sie Hand in Hand zum Festplatz zurückgingen und zusammen beschlossen, daß noch niemand ihr Geheimnis teilen solle, kamen sie gerade rechtzeitig, um den Schluß des Feuerwerks zu sehen. Hoch am Nachthimmel standen in ruhiger Flammenschrift die ernsten rätselhaften Zeichen.

»Was sie wohl bedeuten mögen«, fragte Buchwald. »Es ist arabisch; aber zum Lesen habe ich es noch nicht gebracht.« –

»O, das habe ich schon als Kind spielend gelernt. Es waren Muhamedaner genug um Vater und Mutter«, sagte Sakuntala. »Es heißt: La ila ha illallah. Es ist nur ein Gott!«

»So ist es!« sagte Buchwald sehr ernst und küßte sie auf die Stirne.

Dann sahen sie, im Aufleuchten einer bengalischen Flamme, Fräulein Schütz auf ihrer Vase. Auch das La ila war erloschen. Sie hatten die Erde und ihre Freunde wiedergefunden.


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