Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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Als der nächste Neumond kam, war Salabut bereit, zum tödlichen Streich auszuholen, den er seit Jahren in seiner giftigen Seele erwogen hatte. In öffentlicher Versammlung, umgeben von seinen treubrüchigen Anhängern, trat er vor Ramanutscha und verlangte Draugadi, seine Tochter, zur Frau. Zornig verwies der Rana dem Mahratten, den er als Flüchtling und Bettler aufgenommen und mit Wohltaten überhäuft hatte, seine Keckheit. Zornig erwiderte Salabut. Worte flogen hin und her wie Pfeile; ein Tumult erhob sich, und ehe jemand wußte, was geschah, lag Ramanutscha, von Salabuts Dolch getroffen, auf den Marmorplatten des Palasthofes. Ein wildes Morden hub an; doch Draugadi war nicht das Kind, das sie zu sein schien. Sie schrie nicht um Hilfe. Aus den Fenstern ihrer Zenana gab sie Befehle. Die Getreuen ihres Vaters sammelten sich in dem Teil der Burg, den sie bewohnte, und verteidigten einen Tag und eine Nacht lang jede Türe gegen den Ansturm der Bösewichte. Rasend vor Zorn, daß sein Streich nicht sofort gelungen war, ließ Salabut in der Morgendämmerung Berge von Holz und Stroh um die Zenana häufen. Konnte er die Königstochter nicht besitzen, so sollte auch das Königsschloß mit ihr zu Grunde gehen.

Doch die Hilfe war nahe. Thinker Sahib hatte noch am Abend zuvor von fliehenden Dienern Ramanutschas vernommen, was sich in der Stadt ereignete und kam mit tausend Nagas das Tal herunter, wie ein Wildbach alles vor sich hertreibend, was sich ihm widersetzte. Ehe er das Schloß erreichte, strömten ihm Scharen von Talleuten zu, die merkten, daß sich der Wind gedreht hatte oder dem alten Fürstenhaus Treue bewahren wollten. Um das Tor des Burghofs erhob sich ein heißer Kampf. Die Nagas waren die scheuen Waldleute nicht mehr, die sich in Schluchten versteckten, wenn sie Menschen sahen. Sie besaßen dreißig Gewehre, die Thinker Sahib aus Allahabad verschrieben hatte, um seinen Damm zu schützen, und wußten sie zu gebrauchen. Andere schwangen eiserne Brechstangen und große Steinhämmer, Hunderte wuchtige Spitzhauen, die keine schlechte Waffe waren. Und alle hatten gelernt, in geordneten Haufen unter ihren Werkführern zu gehen und ihren Befehlen zu gehorchen. Das Burgtor wurde erstürmt. Der Schloßhof ist nach einer Seite hin offen, nur durch eine brusthohe Mauer von dem Felshang getrennt, der fast senkrecht nach dem Tal hin abstürzt. Über diese Mauer flüchteten die Leute Salabuts, die sich aus dem Handgemenge retteten; denn sie sahen keinen andern Ausweg. Hier wurde Salabut selbst von Thinker Sahib erreicht. »Töte ihn! Töte ihn!« rief Draugadi aus dem Fenster der Zenana, von wo sie und ihre Frauen in den Hof herabgeschossen hatten, als wären sie Kriegerinnen aus der alten Zeit. Thinker Sahib aber wandte sich ab und ließ den Mahratten über die Mauer entkommen. Des andern Tages fand man dreißig zerschmetterte Leichen am Fuß des Felsen, doch war Salabuts Leiche nicht unter ihnen. »Ich danke dir und unseren Göttern«, sprach Draugadi zu Thinker Sahib. »Warum aber hast du mir das getan?«

Sie war sanft wie eine Taube, aber sie verstand die unerbittlichen Gesetze ihrer Heimat besser als der Fremde, und sie hatte recht, zu klagen.

Nun huldigte das ganze Land der jungen Rani und sie begann zu regieren, weise und gerecht, daß sich jedermann verwunderte. Die Freunde Salabuts, die noch gefunden wurden, ließ sie töten. Die meisten jedoch, welche nicht im Kampfe um die Burg gefallen waren, hatten sich aus dem Staube gemacht. Thinker Sahib aber kehrte mit seinen Nagas, die reich belohnt wurden, nach dem Schlangental zurück und baute an seinem Damme weiter.

Doch war dies nicht mehr seine einzige Beschäftigung. Immer häufiger kam die Fürstin, um nach dem Werke zu sehen, das sie zur Ehre ihres Vaters vollenden wollte. Der Asche Ramanutschas aber ließ sie am See, der nun in Bälde entstehen mußte, gegenüber dem Schrein Okruras einen kleinen, kostbaren Tempel erbauen. Und bei allen Schwierigkeiten, die die Regierung Nirwapuras betrafen, fragte sie Thinker Sahib um seine Meinung. Er besaß ihr Vertrauen, mehr als irgend jemand ihres eigenen Volkes, und bald wußte alle Welt, daß er ihr Ratgeber und erster Minister war, wenn er auch noch immer in seinem Waldhaus im Schlangental wohnte.

Nach zwei weiteren Jahren war sein großes Werk beendet. Die Regenzeit kam und der Teich füllte sich. Dschungel und Bäume der Talsohle, bis tief in die Berge hinein, versanken unter einer blauen Fläche klaren Wassers. Tiger und Schlangen flohen voll Entsetzen in unbekannte Wälder. Die stille Flut stieg bis zur ersten Stufe des Schreins Okruras, des Heiligen, doch nicht weiter. Da sah alles Volk, daß der Heilige mit dem Werk zufrieden war, lobte die Götter und bereitete ein Fest, wie es in Nirwapura nie zuvor gefeiert worden war. Am Abend jenes Tages, als sich der Vollmond im See spiegelte und die Nachtigallen in ihrer Freude jauchzten, wurde die Rani von Nirwapura Thinker Sahibs verlobte Braut. Dann, einen Monat später, wurde unter dem Jubel von allem Volke im Tal und in den Bergen die Hochzeit gefeiert, nach den Sitten des Landes. Und wenn auch viele der alten Leute dies mit heimlichem Grauen sahen, denn Thinker Sahib blieb ein kastenloser Fremder und konnte nie und nimmer der Fürst von Nirwapura werden, so glaubten sie doch mit der Zeit, daß es der Gott des Landes nicht anders gewünscht hätte. Denn im folgenden Jahre brach wieder einmal eine große Hungersnot über Orissa und das ganze nördliche Dekan herein. Umsonst beteten die Millionen südlich vom Ganges um Regen. Indra hörte nicht, Waruna schlief, der Himmel blieb wie Blei und Hunderttausende starben. Nur in Nirwapura lebten sie ruhig und zufrieden weiter, als wäre keine Not im Lande, und dankten Wischnu, dem Erhalter und ihrer Rani. Denn der See gab Wasser für das ganze Tal, bis Reis und Korn geerntet waren, und die nächste Saat im Boden lag und die Felder aufs neue mit Grün bedeckt hatte.

Im selben Jahre schenkte der Himmel der Fürstin ein Kind, denn es war ein Jahr des Segens für Nirwapura, während ringsumher die Menschen starben. Die Rani aber war voll Dank, obgleich es ein Mädchen war und ihr Volk glaubte an das, was sie mit Augen sahen – und war nicht allzu entrüstet, daß ein Missionar, der sich im Tale niedergelassen hatte, die Rani nach der Christen Weise traute und das kleine Mädchen taufte. Nahm er doch das Wasser aus dem See, den sie schon den heiligen Teich genannt hatten.

»Das Mädchen aber nannten sie Sitta, Sakuntala, denn das war ich«, sagte die Erzählerin, indem sie Buchwald halb neckisch, halb verschämt ansah. Dieser, der bisher lautlos zu ihren Füßen gesessen hatte, antwortete auch jetzt nur mit einem Blick. Man würde eine irdische Göttin nicht anders angesehen haben, wenn man an sie geglaubt hätte.

»Ich wußte es, daß du ein Königskind warst, seitdem ich dich kenne«, sagte der Blick. Es war dies nicht buchstäblich wahr. Aber konnte er in jener Stunde noch unterscheiden, was irdische Wahrheit und was himmlische Märchen waren?

Sie verstand den Blick und verzieh ihm, lächelnd. »Das ist nicht zum Aushalten!« dachte er, ballte heimlich beide Fäuste, um ruhig zu bleiben und sah nach den kahlen Bergen von Tura hinüber, zum selben Zwecke. »Wie unglaublich schön sie ist, wenn sie lächelt! Male das einer!« war sein einziger etwas klarer Gedanke. Sakuntala aber fuhr fort:

»Jahre gingen darüber hin. Ich wuchs auf in der glückseligen Stille einer paradiesischen Wildnis, unter Blumen und Nachtigallen, umgeben von der Sorgfalt liebender Menschen. Meine Eltern hatten ein freundliches, einfaches Landhaus im Schlangental am Ufer des Ramanutschasees erbauen lassen. So hieß man die nie vertrocknende Wasserfläche nach meines Großvaters Namen. Herr Osborn, der Missionar, lehrte mich lesen und schreiben, und die Vögel und Blumen, die Schmetterlinge und die stillen klugen Schlangen lehrten mich alles andere, was ein glückliches Kind zu wissen braucht. Könnte ich die Bilder wiedergeben, die in meinen ersten Kindererinnerungen leben: die lustigen Äffchen im Geäst, die schillernden Käfer in den Blumenkelchen, die Wasserlilien, die sich im Mondschein auf dem Teiche wiegten! Ringsum hohe, waldige Berge in duftigem Nebel, Okruras Schrein unter Riesenblättern und Schlinggewächsen halb begraben, und drüben, über dem See, weiß wie ein freundlicher Geist der Nacht, des Großvaters Ruhestätte. Werde ich euch wiedersehen, mit Kinderaugen, wie in jenen glücklichen Tagen? Niemals – niemals! Zu viel Blut floß zwischen damals und heute.

Es war wahrhaftig nicht meines Vaters Schuld, der stets geschäftig, aber zufrieden an der Seite seiner fürstlichen Gattin für das Glück des Tales lebte, wie es niemand zuvor getan hatte, noch weniger Herrn Osborns, seines vertrautesten Freundes, welcher in aller Stille seinem Beruf im Tal und auf den Bergen nachging und eine kleine Christengemeinde um sich gesammelt hatte, die niemand belästigte: aber beider Landsleute, die Engländer, die in Bengalen schon zu Hause waren, kamen uns mit jedem Tage näher. Offiziere und Zivilbeamte aus Benares und Allahabad, welche die Jagd in den Bergen aufsuchten, Kaufleute, die nach den Erzeugnissen und Bedürfnissen, Forscher, die nach Sprache, Sitten und Gebräuchen der Einwohner fragten, wurden mit jedem Jahr häufiger. Zu unserem Nachbarstaate wurden zwei dieser Herrn von Thugs getötet. Zum Schutz der Europäer wurde infolge dieses Unglücks kurze Zeit hernach und für alle Zukunft eine kleine Garnison eingeborener englischer Truppen in die dortige Hauptstadt gelegt, denen bald genug ein englischer Ratgeber folgte, der dem Radscha an die Seite gestellt wurde. Nun regten sich auch wieder die Unzufriedenen in Nirwapura, die vorhersagten, daß das gleiche Schicksal unseren Bergtal drohe, ja daß die Gefahr, in die Schlingen der Fremden zu geraten, uns viel näher liege, als bei den Nachbarn. Sei nicht der Gatte der Rani ein Engländer und immer darauf bedacht, alte Sitten abzuändern, neue Einrichtungen unter allen erdenklichen Vorwänden einzuführen? Niemand in der Umgebung meiner Mutter wußte sich zu erklären, woher diese Änderung der Stimmung ihrer Leute kam, die zu einer Verschwörung gegen das Leben meines Vaters führte. Als dies zum Glück noch rechtzeitig entdeckt wurde, fand sich, daß Salabut, als Kaufmann verkleidet, seit Monaten in Nirwapura gewohnt und große Summen Geldes unter die Leibwache der Rani verteilt hatte. Das Schlimmste war, daß es ihm gelang, wieder zu entwischen und daß mein Vater von all dem nichts glauben wollte. Dagegen hatte die Mutter keine Ruhe mehr. Sie selbst war es, die an den englischen Statthalter zu Benares die Bitte richtete, eine Kompanie Sepoys nach Nirwapura zu legen, zum Schutz ihres Gatten, bis der Sturm vorüber sei. Statt einer Kompanie kamen zwei, und als alle Gefahr vorüber war, und obgleich nirgends eine Spur von Salabut entdeckt werden konnte, blieben die Soldaten samt ihren englischen Offizieren und begannen, mit der widerstrebend gegebenen Einwilligung der Rani, aus Bauernsöhnen des Tals und Nagas von den Bergen ein Regiment aufzustellen und nach europäischer Weise einzuüben.

Wieder gingen zwei Jahre vorüber. Alles schien sich an den Stand der Dinge gewöhnt zu haben. Saat und Ernte folgten sich. Der See spendete Wasser und ein heiterer, sorgloser Friede herrschte im Tal. Auch die Mutter ahnte nicht, welch schweres Gewitter im Anzug war. Aber wie durch ganz Bengalen und Radschputana gingen auch in Nirwapura kleine braune Kuchen von Hand zu Hand. Niemand wußte, woher sie kamen. Rätselhafte Zeichen waren in dieselben eingebacken, welche die Eingeweihten mit Hoffnung und blutdürstiger Freude, das gemeine Volk mit banger Erwartung erfüllten. Meine Mutter bekam keinen dieser Kuchen zu sehen.

Es war im Frühling. Der Vater spielte mit uns auf dem See im Schlangental. Er hatte die Mutter mit weißen Rosen geschmückt und lehrte mich Kränze flechten aus Wasserlilien. Ich sehe noch heute, wie der Kranz, der meinen kleinen Händen entfallen war, langsam davon schwamm und das Spiegelbild des Mondes umrahmte; ein Bild still dahinziehenden Glücks, das keine Zeit kennt. In jener Nacht brachten sie einen schweißtriefenden Eilboten aus Mirzapur an das Seeufer, der die erste Nachricht brachte, daß die Sepoys, die eingeborenen Soldaten von Barakpore sich gegen die Engländer empört hätten. Das war im Februar '57. Es war das erste Grollen des fernen Donners. Leise flüsterten die Leute in den Bazars. Boten, die niemand kannte, liefen durch das Land und verteilten Kuchen, die niemand aß, von denen niemand wußte, wer sie buk. Ich sah eines Tags meine Mutter mit einem dieser Brote, das ihr eine Nagafrau gegeben hatte. Sie sah es lange an; dann begann sie zu zittern wie ein Palmblatt im Sturmwind, und fiel meinem Vater in die Arme, wie tot. Mein Vater aber blieb von dem Tage an ein tiefernster Mann, wie ich ihn nie zuvor gekannt hatte. Wir verließen das Schlangental und kehrten in die Burg von Nirwapura zurück, wo man Reis und Korn in den Kellern aufhäufte, Gewehre reinigte und Waffen schmiedete. Nur die englischen Offiziere lachten ob all dem Geflüster. Hatten sie doch ihre Sepoys von Mirzapura um sich, und das eingeborene Regiment, in musterhafter Ordnung.

Doch hörten sie auf zu lachen, als im Mai die Nachricht von der Empörung zu Meerout eintraf, die mit dem Massenmord aller Europäer begann, und dann Schlag auf Schlag die Kunde kam, Luknau habe sich den Empörern ergeben, Ihansi stehe in Flammen, Cownpore, Rana Sahibs Hauptstadt, erhebe die Waffen gegen die Engländer. Im ganzen Königreich Oude wurden die Fremden gejagt wie wilde Tiere: Benares, Allahabad, Mirzapur, alle großen Städte am Ganges waren die Fanggruben, in denen sie geschlachtet wurden. Der alte Löwe von Delhi hatte sich erhoben. Der Mogul, das Gespenst vergangener Zeiten, war wieder lebendig geworden und trank Blut wie Wasser, um zu leben. Zuletzt hörten wir auch in Nirwapura von heulenden Banden, die unter einem bluttriefenden Führer das Tal heraufrückten und alles schlachteten, was sich ihnen in den Weg stellte; geführt von einem der Henkersknechte Rana Sahibs – Salabut! –

Als man vom Schloß aus die Dörfer am unteren Mahanadi brennen sah, befahl meine Mutter dem Regiment, das sein Lager vor der offenen Stadt hatte, die Burg zu besetzen. Wären die Soldaten nur Leute aus dem Tal, ja nur Nagas gewesen, sie hätten sicher ihrer Rani gehorcht, aber die fremden Sepoys murrten laut. Sollen wir unser Blut im Streit mit unsern Freunden und Brüdern vergießen, riefen sie. Fort! Ihnen entgegen, die uns die Freiheit bringen! Und einige der Frechsten machten Anstalt, hinter der fliegenden Fahne das Lager zu verlassen. Mit erhobenen Pistolen stellten sich die englischen Offiziere den Rasenden in den Weg. Da fielen die ersten Schüsse aus den hinteren Reihen der Sepoys und die beiden Engländer lagen am Boden. Auch in unserem friedlichen Nirwapura hatte Kali, die alte Göttin des Mords, ihr blutiges Haupt erhoben.

Wie alles kam, in den nächsten Tagen, weiß ich kaum zu sagen. Ich war ein Mädchen von elf Jahren und wäre wohl zwanzigmal zertreten worden, wenn mich nicht meine Ayah mit ihrem Leibe gedeckt hätte. Meine Mutter, die an die alte Macht ihres Hauses glaubte wie an ihren neuen Gott, stellte sich im Burghof mitten unter die Soldaten und forderte sie auf, sie und ihr Kind zu schützen. Mehr als die Hälfte war bereit, auf ihre Seite zu treten, aber mitten im Tumult wurde von einem Verräter das Burgtor aufgerissen. Der Zauber ihrer Kraft war dahin. Fremde, wilde Männer fragten sie laut, weshalb sie ihr Volk verraten und die alten Götter verlassen habe. Wieder fielen Schüsse und als mein Vater, mit einer Handvoll Getreuer sie aus dem Menschenknäuel herausgehauen hatte, da brachte er eine Sterbende in die Zenana zurück. Schüsse krachten, Kugeln flogen durch die Fenster, während sie auf den Teppichen ihres Frauengemachs verblutete. Gegen die verrammelten Türen donnerten die Kolbenstöße der wütenden Teufel und der gellende Schrei Salabuts schallte durch die Gänge des Palasts, wie das Brüllen eines wilden Tiers, während mein Vater das Blut zu stillen suchte, das aus der Brust meiner Mutter strömte und auch mir Hände und Gesicht netzte. Da krachte ein entsetzlicher Knall durch das ganze Haus. Mauern zerrissen, Balken stürzten herab. Alles versank in Dampf und Rauch, durch den rote Flammen schossen. Dann kam eine plötzliche Stille, in der ich nichts vernahm, als das leise Knistern und Prasseln von Feuer und das Beten meiner Ayah. Ein Teil der Burg war in die Luft geflogen. Wir wären wohl alle gestorben, wenn nicht Herr Osborn, der Missionar, meinen Vater in die Höhe gerissen hätte, und die Ayah, den Männern folgend, mich ihnen nachgetragen hätte. Durch einen Felsgang, den sie kannten, kamen wir in den Park hinter der Burg, wo wir leicht ein Versteck fanden, das uns für den Augenblick schützte. Denn alles Volk hatte sich um die brennende Burg gesammelt, die einen schreiend und jubelnd, die andern stumpf und gebeugt unter den Feuerzeichen ihrer Kali. In der prasselnden Glut, die in den Abendhimmel schlug, lag meine Mutter. Für keine Fürstin von Nirwapura haben sie in alter Zeit einen gewaltigeren Scheiterhaufen angezündet. Das mochten die Leute wohl denken, als das Geheul des Kampfes sich gelegt hatte, denn rings um den brennenden Berg sangen sie die Totenlieder des alten Glaubens. Ich war noch ein Kind, halbtot vor Schreck und Erschöpfung und schlief ein, in namenlosem Jammer, in den Armen meines Vaters. Aber nie, so lange ich lebe, werde ich vergessen, wie die letzte Rani von Nirwapura, meine Mutter, hinüberging in den Himmel ihres neuen Glaubens.

In den Armen meines Vaters erwachte ich wieder. Wir waren auf der Flucht, durch Berg und Wald und Dschungel. Nur sechs Leute, ein Trüpplein treuer Nagas aus der Zeit des Dammbaus, begleiteten und führten uns durch die undurchdringliche Wildnis: meinen Vater, Herrn Osborn, mich und die Ayah. Das alles erscheint mir jetzt nur noch wie ein wirrer, häßlicher Traum, der heute und morgen, Tag und Nacht, Berg und Tal in unlöslicher Verwirrung durcheinander warf. Was ich davon weiß, hat mir vielleicht später die Ayah erzählt und ihr ängstliches Geplauder ist meine Erinnerung geworden. Wir brauchten auf Umwegen aller Art dreizehn Tage und Nächte, bis wir zwischen Benares und Ghasipur den Ganges erreichten, denn meistens konnten wir unsere Flucht nur bei Nacht fortsetzen, da jedes Dorf auf flüchtige Engländer lauerte. Zum Glück führte Herr Osborn eine beträchtliche Summe Geldes bei sich. Er allein hatte in jener Schreckensstunde die Ruhe nicht verloren und dachte an die lange, entsetzliche Flucht. So gelang es uns doch, da und dort die nötigste Nahrung zu kaufen. Sonst wäre uns nichts geblieben als die Wahl, Hungers zu sterben oder erschlagen zu werden. Am Ufer des Stroms hatten wir das Glück, ein verlassenes Boot zu finden, genügend groß, uns alle aufzunehmen. Wir schifften uns ein und trieben den Fluß hinunter, in der Hoffnung, Landesteile im östlichen Bengalen zu erreichen, die noch unter dem Schutz englischer Truppen standen. Wenn wir uns in der Mitte des Stroms hielten, konnten wir jetzt auch bei Tag die Reise fortsetzen, obgleich von Zeit zu Zeit vom Ufer aus Schüsse auf unser kleines Boot abgegeben wurden, die uns bewiesen, daß wir Freundesland noch nicht erreicht hatten. Ob wir es je erreichen würden wurde immer zweifelhafter. Vier Tage hatte die Fahrt schon gedauert, und zweimal mußten die Männer unser aller Leben wagen, um wieder etwas Reis oder Brot zu beschaffen. In diesen Tagen hatte Herr Osborn meinem Vater, der schwer erkrankt war, das Versprechen gegeben, mich nach England zu bringen, wenn er ihn überleben sollte, und seine Brüder aufzusuchen. In ein Taschenbuch, dessen Blätter teilweise mit dem Blut meiner Eltern getränkt sind, schrieb er seinen letzten Willen und was er sonst seinen Angehörigen in der alten Heimat mitzuteilen wünschte. Er konnte dies in aller Ruhe tun, während Herr Osborn am Steuer saß, und die sechs Nagas ruderten. So waren mehrere verhältnismäßig ruhige Tage vorübergegangen, mitten im Jammer der entsetzlichen Zeit, in der wir stündlich an Leichen von weißen Männern und Frauen vorüberruderten, die langsam dem Meere entgegenschwammen, als ob sie ihre ferne Heimat suchten. Doch unsere Lage wurde mit jedem Tage verzweifelter. Mein Vater lag fast bewußtlos im Boot, vom heftigsten Fieber geschüttelt. Die Nagas waren kaum mehr imstande, die Ruder zu rühren. Es war die höchste Zeit, wieder etwas Reis zu erbeuten, und so waren wir mit Eintritt der Dämmerung gezwungen, in der Nähe eines Dörfchens anzulegen. Dort hörten sie, daß wir noch zwei Tagereisen von Patna entfernt waren, wo die regulären englischen Truppen die Ordnung wiederhergestellt hatten. Auch versahen uns die Leute willig mit Brot, denn sie merkten schon, daß der Aufstand, wenigstens in Bengalen, eine für die Hindus ungünstige Wendung nahm. In der Freude über die nahe Errettung ließen meine Freunde die Vorsicht, mit der sie bisher gefahren waren, außer acht. Das Boot lag wenige Schritte vom Ufer, wo sie die Morgendämmerung erwarten wollten. Herr Osborn und der Naga, die Wache halten sollten, waren, zum Tod erschöpft, eingenickt und schliefen, bis sie von einem Flintenschuß aus nächster Nähe geweckt wurden. In weniger als einer Minute fielen fünf, sechs weitere Schüsse. Aber auch das Boot war frei und flog, von hastigen Ruderschlägen getrieben, in den offenen Strom hinaus. Wenige Augenblicke später waren wir in Sicherheit. Mitten auf der gewaltigen, mondbeglänzten Fläche des Ganges, diesem Bild des ewigen Friedens, zog Herr Osborn mit einem ›Gott sei Dank!‹ das Ruder ein. Dann erst sah er, daß die Ayah den Kopf meines Vaters im Schoße hielt und leise schluchzte. Niemand sonst hatte es bemerkt: Er war tot. Eine Kugel vom Ufer hatte ihn in die Stirne getroffen und ohne einen Laut war er heimgegangen.

Sie hatten noch drei Tage zu rudern, ehe wir die erste Station der englischen Truppen erreichten, denn in Patna war die Rebellion aufs neue ausgebrochen, infolgedessen sich die Engländer zurückgezogen hatten. In der nächsten Nacht haben sie meinen lieben Vater im Ganges versenkt. Mitten im mondbeglänzten Strom ließen sie ihn hinab, während Herr Osborn das Gebet für die Toten las, denn auch sein kleines Gebetbuch hatte der sorgliche Mann gerettet. Nun war ich ganz allein. Wie ich in jener Nacht weinte! Wie ich mich mit hinabsehnte; mit hinauf! Als meine Mutter in Feuerflammen zum Himmel ging, hatte ich keine Tränen gefunden, denn ich wußte kaum, was geschah; es war zu entsetzlich für mein kleines Herz. Heute ist es mir kein allzu schrecklicher Gedanke, daß mein Vater sein Grab im heiligen Ganges gefunden hat, wie meine Mutter den Strom nannte. Heilig ist, wo unsere Lieben schlummern. Er ist auch mir wieder ein heiliger Strom geworden.

Zwei Tage später waren wir geborgen. Im östlichen Bengalen war das Schlimmste vorüber. Das Bankhaus in Kalkutta, mit dem mein Vater in steter Verbindung gewesen war, hatte seine Geschäftsräume wieder eröffnet. Ohne große Schwierigkeit wurde dort auf Grund des Taschenbuchs Herr Osborn als der berechtigte Vollstrecker des letzten Willens meines Vaters anerkannt, so daß ihm die nötigen Geldmittel, und weit mehr als das, zur Verfügung standen, um für mich zu sorgen. Er entschloß sich, mich selbst nach England zu bringen, da ihm für die nächste Zeit jede ersprießliche Tätigkeit in Indien unmöglich geworden war. Auf diese Weise kam ich in drei weiteren Monaten zu meinem guten Onkel Joe nach Glenisloch und spielte am Ufer des Mulardoch in den Hochlandnebeln, wie ich vor wenigen Monaten am Schlangenteich von Nirwapura unter der Glut der indischen Sonne gespielt hatte; ein ernsteres Kind voll heimlicher Sehnsucht, die man einem indischen Mädchen in den schottischen Bergen wohl verzeihen kann.«

Sie schwieg. Die schlichte Art ihres Erzählens hatte Buchwald aufs tiefste bewegt. Was er jetzt von diesem kurzen, an Glück und Unglück reichen Leben wußte, schleuderte ihn hinaus in eine wogende See von Zweifeln und Befürchtungen. Seit Jahren hatte er gefühlt, daß ihn die reiche Erbin bange gemacht hätte. Er war vor einer Stunde noch bereit gewesen, den Kampf um seine Liebe durchzufechten wie ein Mann. Jetzt aber?! – Sie kam wirklich und wahrhaftig aus einer andern Welt. Durfte, konnte er es wagen, sie auch jetzt noch zu bitten, ihn um einen solchen Preis ringen zu lassen? – Er sah es wohl: In stiller Ruhe hingen ihre feuchten, tiefblauen Augen an dem östlichen Saum des Horizonts, wo die Berge schon ihre Gipfel in das glühende Rot tauchten, das die Abendsonne aus dem Westen herüberstrahlte. Die heimliche Sehnsucht, von der sie gesprochen hatte, erfüllte auch heute noch ihre Mädchenträume. Was konnte er ihr bieten, sie zu stillen? Wie ein schweres Gewicht senkte es sich ihm auf die Brust. Sehnsucht um Sehnsucht. Es war ein ähnlicher Glanz, der bange Blick nach etwas Fernem, Unerreichbarem, in beider Augen.

Ein leiser Schauder ging durch ihren Körper: die Rückkehr der Seele aus weiter Ferne. Dann, mit einem Lächeln, als ob sie sich entschuldigen wollte, fuhr sie fort:

»Das kleine, unscheinbare Taschenbuch, in dem ich das Blut meiner Eltern wohl hundertmal geküßt habe, ist mein Schicksal von heute. Es liegt in London, unter Schloß und Riegel, bei den Akten der Gerichtsbehörden, welche die gesetzlichen Verhältnisse der von England verwalteten Gebiete einheimischer indischer Fürsten ordnen. Durch das Bankhaus in Kalkutta hatte mein Vater ein beträchtliches Vermögen in London angelegt. Er war ein kluger Mann, der für die Seinen gesorgt hatte, welche Wendung auch die Verhältnisse nehmen mochten. Meine Mutter war die anerkannte Erbin der Herrschaft von Nirwapura gewesen, die allerdings nach dem großen Aufstand, wie andere kleine Staaten in ganz Indien, der nächsten englischen Provinz angeschlossen wurde. Doch erkannte die englische Regierung die Verpflichtung an, der Erbin der Rani eine Abfindungssumme auszusetzen, die nicht spärlich bemessen wurde, da Herr Osborn und mein Onkel Ben sich der Sache mit großem Eifer annahmen.

Dann hatte mein Vater gewünscht, daß ich abwechslungsweise, Jahr um Jahr, bei seinen zwei Brüdern wohnen sollte, bis mir nach den Landesgesetzen die Bestimmung über mein eigenes Los zustand. Gleichzeitig hinterließ er jedem seiner Brüder eine Summe Geldes, die ihre Unabhängigkeit von jeder äußeren Sorge sicherstellte, und bat sie, für meine Erziehung zu sorgen, für die die Nutznießung meines halben Vermögens ausgesetzt war. Und so wandere ich von Jahr zu Jahr von einem Onkel zum andern, und werde erzogen. Heute muß ich Flugmaschinen verstehen lernen und sollte ein wenig flattern können, morgen darf ich Hieroglyphen lesen und griechisch-ägyptische Statuetten zeichnen. Sie sehen, man könnte es nicht besser haben. – Und nun wissen sie, mit wem Sie auf der Spitze der Cheopspyramide sitzen.«

Der träumerische Hauch über ihren Augen war verschwunden. Sie lachte fröhlich.

»Ich weiß, zu wessen Füßen ich sitze!« sagte Buchwald und schluckte hinunter, was er weiter sagen wollte. Der Stein auf seinem Herzen wurde fast unerträglich schwer. Wie sollte er ihn weiter schleppen?

Ein Glück war's, daß in diesem Augenblick Fräulein Schütz von der andern Seite der Plattform herüberkam. Sie schien alle Fassung verloren zu haben, wirklich und aufrichtig erschreckt zu sein, und rief hastig:

»Um Gottes willen, Sakuntala! – Herr Buchwald! Kommen Sie! schnell, schnell! Sehen Sie! Dort hinunter! Was geht hier vor?«

Fritschy stand am Westrand des Gipfels und hielt sein Feldglas mit beiden Händen vor die Augen. Er sah nach der Stelle, wo hinter der Chefrenpyramide der Eingang der Höhlenwohnungen zu sehen war, und murmelte von Zeit zu Zeit:

»Donnerwetter! Donnerwetter!«

Auch Buchwald suchte jetzt den Punkt, der die erschreckte Aufmerksamkeit der andern angezogen hatte. In der Tat, es war ein Bild, das auch ihn festhielt.

Durch sein vortreffliches Glas sah er alle Einzelheiten mit genügender Deutlichkeit. Das kleine grüne Feldtischchen war wie gewöhnlich über Tag vor dem Eingang der Felsgräber aufgestellt. Auf demselben lag ein Bogen Papier, über den offenbar der Inhalt eines Tintenfasses oder einer Kaffeetasse ausgeschüttet war, deren weiße Scherben am Boden lagen und von Jakub, dem Koch vorsichtig zusammengeklaubt wurden. Vor dem Tisch standen Joe und Ben Thinker. Ben, der der ruhigere der beiden zu sein schien, hatte beide Fäuste auf die Tischplatte gestützt, der Oberkörper war herausfordernd vorgeneigt, der Kopf unbedeckt, denn auch sein Korkhelm lag am Boden, das Gesicht krebsrot. Joe stand etwas weiter zurück, als hätte ihn die drohende Haltung Bens vom Tischchen vertrieben, mit flatternden Rockschößen, mit der geballten Faust der Rechten in die linke hohle Hand schlagend, sichtlich, weil er die wohl verteidigte Tischplatte nicht benutzen konnte, um einem Strom sprudelnder Worte den gewünschten Nachdruck zu geben. Manchmal schien er gegen den trotzigen Sieger Sturm zu laufen und sich namentlich durch unerwartete Angriffe von der Seite einen kleinen Vorteil sichern zu wollen. Aber Ben drehte sich samt dem Tischchen so, daß er dem Gegner immer wieder seine drohende Faust zeigte. Natürlich war alles für die Beobachter auf der Pyramidenspitze eine lautlose Pantomime. Um so beunruhigender war dieses Bild offenbarer, ungezügelter Leidenschaftlichkeit, welche ihnen zwei Herrn boten, die man kaum je zuvor die Ruhe von Gentlemen hatte verlieren sehen.

»Ich glaube, ich weiß was dies bedeutet«, sagte Buchwald nach einer längeren Pause, in der er den Auftritt mit halb belustigten, halb erschreckter Teilnahme beobachtet hatte. »Die Herrn sind aneinandergeraten, wegen – über –«

Er stockte, denn der Wortkampf dort unten schien an Hitze zuzunehmen.

»Um Himmels willen«, flüsterte Fräulein Schütz, »das ist eine neue Schlacht bei den Pyramiden.«

»Sagen Sie lieber: um die Pyramide«, versetzte Buchwald mit wachsender Besorgnis.

»Hupp!« schrie Fritschy und fing an zu tanzen, ohne sein Glas von den Augen zu nehmen. Das Tischchen war umgefallen, rollte im Sande weiter und stellte sich dann so zu sagen auf den Kopf, seine drei dünnen Beinchen wie verzweifelt gen Himmel streckend. Ben war ihm nachgelaufen, hatte den Bogen weißen Papiers vom Boden aufgerafft und hielt ihn Joe unter die Nase. Dieser erfaßte ihn mit einem raschen Griff und riß ihn in zwei Stücke. Dann – wie wenn der andere eine schreckliche Tat begangen hätte – erhob er beide Arme, wie Moses in der Amalekiterschlacht.

»Es mag sein, was es will«, flüsterte Sakuntala, »meine Onkel sind außer sich. Es ist vielleicht die Hitze. Wir müssen ihnen so schnell als möglich zu Hilfe kommen.«

»Hinunter also!« rief Buchwald und sprang schon vom nordöstlichen Eckstein der Plattform auf die zweite Stufe. Gleichzeitig stieß er einen Beduinen auf die Seite, der Sakuntalas Hand erfassen wollte. Der Mann bemächtigte sich ebenso rasch Fräulein Berthas, und der Abstieg begann sich in eine wilde Flucht aufzulösen.

»Achtung! Achtung!« schrie Fritschy, dem das erregte Fräulein vertrauensvoll in die Arme gefallen war.

Aber wie in einem Wirbelsturm ging es in die Tiefe.


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