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Wenn sich der Vizekönig während der Winter- und Frühlingsmonate in Kairo aufhielt, bewohnte er den Ab'dinpalast, ein weitläufiges zweistöckiges stilloses Gebäude im Westen der Stadt, das, damals noch zwischen düsteren arabischen Häusern eingeengt, mit seinem ockergelben Anstrich einen nichts weniger als achtunggebietenden Eindruck machte. Trotzdem war es auch vor seinem späteren Umbau von den stets zur Hälfte zerfallenen, zur Hälfte im Bau begriffenen Schlössern seiner Vorgänger, die ihm zur Verfügung standen, noch immer das wohnlichste. Im Inneren verirrte man sich allerdings leicht in winkeligen Gängen oder in staubigen Gemächern, die mit einem halben, glänzend polierten Mahagonitisch oder mit einem zertrümmerten Spiegel in prachtvollem Rokokorahmen ausgestattet waren. Selbst der langgestreckte Wartesaal vor dem Audienzzimmer des Paschas deutete an, daß sich der Hof hier nur vorübergehend aufhalte. Durch die drei hohen Fenster französischen Ursprungs, die nicht genau in die Mauerrahmen paßten, fiel das Licht auf kahle Wände und einem mit teilweise zersprungenen Marmorplatten belegten Boden. An jedem verwendbaren Streifen der Wandfläche zogen sich niedere breite Diwans hin, deren dunkelroter Plüsch abgenutzt und verlegen dreinsah. Für Sitz- und Ruheplätze war auf diese Weise reichlich gesorgt. Selbst in der Mitte des Saales standen zwei in achteckiger Form gebaute Riesensofas mit einem aus ihrer Mitte aufsteigenden ornamentalen Holzaufbau. Der letztere diente als Postament für die zwei einzigen Schmuckgegenstände, die sich im Zimmer befanden. Der eine war die etwas plumpe Nachbildung eines Kriegsschiffs älterer Bauart, der andere das glänzend polierte Modell einer Vakuumpfanne, das, wie die Inschrift besagte, aus der Fabrik von Cail & Co. zu Paris stamme und von den harrenden Besuchern gewöhnlich für einen amerikanischen Panzerturm angesehen wurde.
Wichtiger, in der Tat das Wichtigste in dem Saal war jedoch die hohe zweiflügelige Türe aus schwarzem mit Goldleisten verziertem Ebenholz, welche in der Mitte der hinteren Schmalwand des Gemachs in das Audienzzimmer führte.
Nutzlos pünktlich, einige Minuten vor neun Uhr, hatten wir, Joe Thinker und ich, uns in nächster Nähe dieser verhängnisvollen Türe niedergelassen. Ich war nicht zum erstenmal hier und wußte, daß uns nur eins sicher war: Stunden und Stunden endlosen Wartens. Weiter hatte mich schmerzliche Erfahrung gelehrt, daß die richtige Vorbereitung hierfür ein ungewöhnlich kräftiges Frühstück und der felsenfeste Entschluß war, sich in der christlichen Tugend der Geduld von keinem Türken übertreffen zu lassen. Der Saal, den wir noch zur Hälfte leer antrafen, füllte sich rasch mit einer unruhigen Menge bunter Gestalten, die von Barrot Bey, dem französischen Sekretär des Vizekönigs und dessen, wie es schien, armenischem oder türkischem Hilfszeremonienmeister mit flüsternder Höflichkeit empfangen, zu einem der Diwans komplimentiert und um ihre Karte gebeten wurden. Kartenlose Besucher trugen ihre Namen in das in der Nähe der schwarzen Türe aufliegende Buch ein, Schreibunkundige wurden dem Armenier auf Gnade und Ungnade übergeben.
Mit den Karten verschwand Barrot Bey lautlos durch eine Spalte der verhängnisvollen Türe, worauf sich der Gast einige Stunden der Ruhe hingeben konnte. Sozusagen amtlich wurde dieselbe von Zeit zu Zeit von einem der vier in reicher türkischer Tracht gekleideten Kawassen unterbrochen, die dem Wartenden ein fingerhutgroßes Täßchen heißen Kaffees anboten, die leeren Tassen wieder abholten, wohl auch einem bevorzugten Gast, den Barrot oder der Armenier mit einem Kopfnicken bezeichnet hatte, stillgeschäftig eine Nargileh vor die Füße stellten.
Wer für das ruhelose Schattenspiel des Lebens menschliche Teilnahme besaß, brauchte sich nicht zu langweilen. Ein beweglicheres, wunderlicheres Kaleidoskop war anderwärts nicht leicht zu finden. Zylinder und Turbane, Fräcke und Kaftane, Uniformen und Burnusse, Priestertalare und Fellahhemden kamen und gingen. Ihre Besitzer saßen stundenlang rauchend, flüsternd, spielend und betend an den Wänden umher. Flüsternd: doch manchmal bildeten sie auch kleine Gruppen, die sich mit steigender Lebhaftigkeit unterhielten, so daß ein ›Pst! Pst!‹ des immer lächelnden Barrots sie daran erinnern mußte, daß man sich nicht in einem Café befinde; spielend: denn man konnte fast immer wenigstens ein Paar sehen, das sich auf diese Weise die Zeit verkürzte. Das beliebteste Spiel war scheinbar von kindlicher Harmlosigkeit. Der eine warf eine handvoll Geldstücke in die Luft, der andere mußte ›Gerade‹ oder ›Ungerade‹ rufen, ehe sie auf den Diwan gefallen waren. Hatte er erraten, so gehörte das Geld ihm; war ihm das Kunststück mißglückt, so mußte er seinem Gegner die gleiche Summe aushändigen. Oft vertrieben sich in dieser Weise zwei, drei Paare in der Mitte einer Gruppe von Zuschauern Zeit und Geld. Selbst Dominos und zwei Schachspiele standen den Wartenden zur Verfügung. – Wieder andere beteten. Der Rosenkranz zwischen den Händen von Kopten und Armeniern spielte eine große Rolle; ja, einem schlichten Schech konnte es einfallen, aufzustehen und mitten im Saal sein Vormittagsgebet zu verrichten, ohne daß dies irgend jemand gestört hätte. Die meisten hatten dem Vizekönig etwas zu zeigen; eine Zeichnung, einen Juwelenkasten, das Modell einer Maschine oder eines Gewehrs und zogen die Umstehenden mit naiver Bereitwilligkeit in ihr Vertrauen. Äußerlich wenigstens schien jene Zurückhaltung, welche Leute, die sich vielleicht nie zuvor gesehen haben, in Europa beobachten, hier nicht Sitte zu sein. In Wahrheit bemühten sich alle, vielleicht nur übungs- und versuchshalber, sich gegenseitig zu belügen, wie sie den Vizekönig zu belügen hofften und unterhielten sich dabei vortrefflich. Nirgends blühten die sprichwörtlich gewordenen ›Bazargeschichten‹ des Orients so üppig wie in diesem Saal.
Jetzt blickte alles mit gespannter Aufmerksamkeit nach der schwarzen Türe. Effendina hat seinen Harem verlassen, flüsterte es. Seine Hoheit sind anwesend. Barrot verschwand, kehrte nach zwei Minuten zurück und winkte einem Ulema in rotseidenem Kaftan, grünem Turban und langem schneeweißem Bart. Es war der Schech der Azhar-Moschee und zugleich der Rektor der bedeutendsten Hochschule des Islams. Ein mildes Lächeln lag auf seinen Zügen, ein listiges Blinzeln in seinen Augen. Die Tür schloß sich hinter dem würdigen Herrn, und das Rauchen und Plaudern, das Spielen und Beten wurde wieder aufgenommen. Die regelmäßige Tagesarbeit des Regenten hatte begonnen. Nach sechs Minuten erschien der Ulema wieder. Das listige Blinzeln war lebhafter, das milde Lächeln heiterer. Der Mann hatte seinen Zweck erreicht und verabschiedete sich feierlich von Barrot Bey, während dessen Assistent einen öligschmunzelnden schlechtbefrackten griechischen Bankier heranwinkte, der schon nach zwei Minuten mit gläsernen Augen, wankend wie ein gebrochener Mann, zum Vorschein kam. »Gott straft, wen er will!« murmelte mein Nachbar, ein fetter Mudir aus Oberägypten, der mit ehrfurchtsvollen Blicken die schwarze Türe betrachtete und dabei eifrig seinen Rosenkranz durch die Finger laufen ließ.
Wir saßen noch nicht eine halbe Stunde in unserer nicht unbehaglichen Ecke. Barott lächelte mich an, so oft er an mir vorüberging. Er kannte mich und ich kannte dieses Lächeln. Es besagte: »Nur Geduld, mein Lieber; an dich kommt es noch lange nicht.« Ich war nicht so unvernünftig, mich hierüber zu beklagen; wir waren erst an der zweiten Tasse Kaffee. Da bemerkte ich auf der anderen Seite des Zimmers einen neuen Ankömmling, in elegantem, stahlgrauem Anzug, einen tadellosen roten Tarbusch auf dem Kopf. Er sah mich zu gleicher Zeit und kam zu uns herüber.
Es war ein junger englischer Zahnarzt namens Walker, der mich, beim erstenmal mit O'Donald, schon öfter in Schubra besucht hatte. Der Mann versuchte vor einem Jahr, sich in Kairo niederzulassen und geriet in große Gefahr, für seine eigenen Zähne keine normale Tätigkeit zu finden, da bereits ein Amerikaner sowie zwei Franzosen für die wenigen Gebisse sorgten, die einer europäischen Pflege bedurften. So saß er hinter einem prachtvollen Schild, das er aus England mitgebracht hatte, in einem Haus in der Nähe des Ab'dinpalastes und nagte am Hungertuch. Ich darf vermuten, daß ich diesem Umstand seine Besuche verdankte, denn sie hörten später auf. – Nun wollte es Allah, der Allgütige, daß eines nachts in einem Hintergebäude des Schlosses Feuer ausbrach. Natürlich schlief alles in der Umgegend, was wachen sollte, und nur Walker, der füglich hätte schlafen dürfen, wachte, sah den Feuerschein und erschrak heftig. Brüllend hämmerte er an den Türen des Palastes, brüllend lief er nach der benachbarten Saptiye und weckte die Leute, welche die vizekönigliche Feuerwehr vorstellten, und brüllend war er der erste, der sich mit einer unbrauchbaren Handspritze und vier hilflosen Polizeisoldaten am Ort der Gefahr einfand. Der Vizekönig, zu dessen hervorragenden Eigenschaften persönlicher Mut nicht gehörte, vernahm dieses Gebrüll mit Wohlgefallen. Nachdem das Feuer aus Mangel an Brennstoff nahezu von selbst erloschen war, ließ er sich den Retter des Palastes und vielleicht des vizeköniglichen Lebens vorstellen und machte ihn – in flagranti – zum Bey vierter Klasse. Dies war immerhin ein Anfang und ein unerhörter Glücksfall für den armen Walker, denn die Sache war damit nicht abgemacht. Seine Hoheit litt schon seit Wochen an Zahnschmerzen, wagte aber in seiner krankhaften Furcht vor Verschwörungen nicht, seine Person den Mordwerkzeugen eines unerprobten Zahnkünstlers anzuvertrauen. Nun war der richtige Mann gefunden, denn Walker hatte laut bewiesen, daß er für das Wohl der höchsten Person ein wachsames Auge besaß. Auch war es nicht wahrscheinlich, daß ein neugeschaffener Bey sich sofort an seinem Herrn und Wohltäter vergreifen würde. Dieser glaubte deshalb, dem jungen Mann ohne Gefahr die Zähne zeigen zu können. Walker plombierte in Gegenwart von sechs Arnauten mit aufgepflanzten Bajonetten, die übrigens hinter einem Vorhang verborgen waren, seinen ersten vizeköniglichen Stockzahn, wurde Hofdentist, erhielt ein der hohen Stellung entsprechendes Gehalt und war gerettet.
Seine Hauptaufgabe bestand nun darin, dem Vizekönig dreimal wöchentlich seine Aufwartung zu machen und nach dessen Zähnen zu fragen. Mit anderen Worten: Er war verpflichtet, drei Tage der Woche in dem Wartezimmer zuzubringen, meist ohne vorgelassen zu werden. Kein Wunder, daß er in der Lage war, manche interessante Erscheinung zu erklären, die uns sonst ein nichtssagendes Rätsel geblieben wäre.
»Langweilig!« rief er, sich neben mich setzend und auf meine teilnehmende Frage antwortend. »Verehrtester, es gibt nichts Unterhaltenderes auf der weiten Welt als diesen Saal. Ich will nicht von den verrückten Gebissen sprechen, die man hier zu sehen bekommt. Die Rassenunterschiede der Schneidezähne sind allein ein Lebensstudium wert. Aber bedenken Sie: Jeder bringt das Interessanteste aus seinem Leben hierher. Hier spricht man sich aus, hier lernt man sich kennen. Sie sehen Glück und Unglück, Hoffnung und Verzweiflung, Demut und Trotz – das letztere seltener – durch diese schwarze Türe hinein- und herausgehen. Hier begegnen Sie allen Lastern des Lebens und einigen Tugenden, wenn Sie nur die Augen und Ohren öffnen wollen. Es ist ein Roman ohne Ende, den man mir seit einem halben Jahr vorspielt. Einige der Mitwirkenden kommen täglich, andere alle Wochen ein- oder ein paarmal, wieder andere sind seltene Zugvögel, aber einer ist fast so durchsichtig wie der andere, in der Erregung des großen Augenblicks. Sehen wir ein wenig, wer heute zur Stelle ist.
Damen voran. Schon weil sie in dieser Umgebung eine große Seltenheit sind. Sie sehen die tiefverschleierte Frau dort drüben, ganz in schwarz. Das ist die Gemahlin des vizeköniglichen ägyptischen Vizeadmirals Frederici. Ihr Mann soll aus Istrien stammen und kam als Schiffsjunge nach Alexandrien, noch in Mohamed Alis Zeiten; wurde Moslem unter Abbas Pascha und Fregattenkapitän unter Said. Vor einem halben Jahr schickte ihn der Vizekönig mit seinem Flaggschiff nach Malta, um die englische Mittelmeerflotte zu begrüßen, die sich dort zu einer großen Parade sammelte. Nach acht Tagen kam der Unglückliche unverrichteter Dinge wieder in Alexandrien an, weil er Malta nicht habe finden können. So wenigstens will es Scherif Pascha aus dem Munde des Vizekönigs selbst gehört haben. Ungnade, Kriegsgericht, Absetzung, Strafverbannung nach Massoa folgten sich Schlag auf Schlag und nun sitzt seine arme Frau, eine Italienerin mit fünf Kindern, tagtäglich hier, um, wenn möglich, für ihren Mann wenigstens eine Kapitänstelle auf einem Postdampfer im Roten Meer zu erbetteln.
Sie sehen den Mann, der jetzt der Dame ein Kästchen zeigt. Das ist der feinste Juwelenhändler in der Muski, ein griechischer Jude seines Zeichens. Er hat einen Diamantschmuck hier, der fünfzehntausend Pfund kostet, und sagte mir, er sei entschlossen, ihn heute nicht mehr nach Hause zu tragen. Ich meinte aufs Geratewohl, das Kästchen werde keine dreitausend wert sein. ›Was heißt‹, antwortet mir der Ehrenmann, ›will Er sein ein Fürst, muß er auch fürstlich bezahlen.‹
Neben den beiden sitzen zwei Schachspieler. Der eine, ein Zwerg, ist der offizielle Hofschachspieler, von Herkunft ein Perser, und eine kleine giftige Kröte, die jedermann fürchtet. Wenn er mit dem Vizekönig spielt, so plaudert er halblaut mit seinen Schachfiguren und setzt auf diese Weise seinem Herrn die unglaublichsten Dinge in den Kopf. Der andere, der Lange, Dürre ist der Traumdeuter Seiner Hoheit, der sich jeden Morgen zu erkundigen hat, ob Effendina etwas von Bedeutung zu träumen geruhten. Er hat strenge Weisung, sein Amt vor Fremden geheim zu halten, aber es ist bekannt, daß er oft mitten in der Nacht geholt wird, um seinen hohen Herrn zu beruhigen. Er sei ein gutmütiger dummer Mensch, sagen die einen, ein Derwisch von der nubischen Grenze; andere halten ihn für einen gefährlichen Schlaukopf. Beide spielen Tag für Tag von morgens früh bis in die späte Nacht Schach, so daß Barrot seine Mühe hat, sie abends nach Hause zu jagen.
Die zwei Ulemas, die ihnen zusehen, wollen versuchen, Steuerfreiheit für die Güter ihrer Moschee zu erbetteln: achttausend Hektar des besten Landes im Delta. Sie hätten Aussicht auf einen ungnädigen Empfang, wenn der Schech der El-Ahzar-Moschee – sie sahen den Herrn im roten Kaftan, der die erste Audienz hatte – ihnen den Weg nicht geebnet hätte. Dieser gelehrte Herr kommt gegenwärtig fast täglich. Ich höre, er soll dem Vizekönig das Erbfolgegesetz nach der neusten Lesart des Koran auseinandersetzen. Böse Zungen behaupten allerdings, die Sache verhalte sich umgekehrt: der gelehrte Schech sei der gelehrige Schüler. – Bei Zeus, jetzt werden sie schon hineingerufen! – Die Gottesweisheit steht augenblicklich in hohen Ehren. Und der kleine Oppenheim kaut an seinen Nägeln vor Ärger. Er ist auch schon seit neun Uhr hier und ist das Warten noch nicht gewöhnt.
Sehen Sie, in der zweiten Fensternische! Wie liebenswürdig sie sich unterhalten, und die ganze Welt weiß, daß sie sich vergiften könnten. Oppenheim hat die Erlanger und die Rothschild hinter sich, sein Gegenüber, der stattliche soldatisch aussehende Herr, ist der Alexandriner Bankier Smart, der wer weiß wie viele englische Bankhäuser vertritt. Man sagt, es handle sich um ein neues großes Darlehen. Armer Vizekönig! Zwischen den beiden Gruppen von Raubtieren edelster Rasse wird ihm die Haut nicht übel über die Ohren gezogen werden. – Hallo, jetzt kommt etwas Außergewöhnliches!«
Es war aber nur ein türkischer Pascha in voller Uniform, rot wie ein Krebs, gestaltet wie ein Kürbis auf zwei Stelzbeinchen, der trotz dieser Schwierigkeiten mit gravitätischem Ernst in das Zimmer trat. Barrot Bey stürzte ihm entgegen, begrüßte ihn ehrfurchtsvoll und führte ihn ohne weiteres auf die schwarze Tür zu. Zum erstenmal öffnete diese wie von selbst beide Flügel, so daß man einen flüchtigen Blick in das düstere Heiligtum werfen und sich überzeugen konnte, daß nichts zu sehen war.
»Ein außerordentlicher Gesandter aus Stambul!« erklärte Walker. »Er soll vorgestern angekommen sein, um dem Vizekönig einige der Zugeständnisse wieder abzuhandeln, die ihm in Konstantinopel gemacht wurden. Die Sache wird sich wie gewöhnlich mit einer kleinen Nachzahlung regeln lassen. – Sage ich's nicht? – Da läuft schon einer, um den Finanzminister hineinzurufen. Ich bin nur begierig, zu wem dieser schicken wird, um der gähnenden Leere in seinen Kassen abzuhelfen.
Dazu könnten allerdings die drei Baumwollmakler zu gebrauchen sein, die dort breit und protzig mitten im Saal sitzen, als ob die Welt ihnen gehöre. Sie spielen zu Zeitvertreib ›Gerad' und ungerad'‹ mit Napoleons. Ein ekelhaftes Volk: Juden, Griechen, Armenier, das Crescendo der kaufmännischen Spitzbüberei. Und gegenwärtig, bei vierundzwanzig Pennies das Pfund Wolle, wissen sie nicht, wie sie den Tarbusch frech genug aufsetzen sollen. Wenn die Amerikaner die Bruderschlächterei satt bekommen und die Wollpreise wieder sinken, wir die Herrlichkeit mit Heulen und Zähneklappern enden. Darauf wartet ihr Nachbar dort, der elegante Herr in Frack und weißer Binde; ein Zuckerfabrikmensch und Agent für Cail & Co. in Paris. Sie haben wohl schon davon gehört, daß die riesigsten Zuckerindustriepläne in der Luft liegen. Das Fayum und ganz Oberägypten soll in zwei oder zwanzig – was weiß ich! – Zuckerfabriken verwandelt werden, die das gesamte Europa versüßen und den Nilschlamm in Gold verwandeln müssen, sagt Cail.
Das Verwandeln glaubt auch der schwarzhaarige Herr in dem abgeschabten Samtrock zu verstehen, der sich nicht entschließen kann, Platz zu nehmen. Er bildet sich ein, der Vizekönig brenne seit mehreren Tagen vor Ungeduld, ihn zu empfangen, und hält Barrot, der ihn aus Bosheit warten lasse, für seinen Todfeind. Er behauptet, wirkliche, echte Diamanten fabrizieren zu können, wenn ihm nur das nötige Geld zu einer Edelsteinfabrik angewiesen werde. Dort unten schart sich überhaupt das kleinere Volk, das wenigstens drei Tage sitzen muß, ehe sein Name bis zu den allerhöchsten Ohren dringen kann. Ein wackerer Fellah, der Seiner Hoheit einen Korb Spargeln verehren möchte, um seinen Sohn vom Militär frei zu bekommen, zwei Dorfschechs aus der Gegend von Bibe, die den Mudir ihrer Provinz verklagen möchten, weil er einen dritten zu Tode geprügelt hat. Seit vierzehn Tagen liegen sie hier und wagen es nicht mehr, nach Hause zurückzukehren, wo ihnen dasselbe Los droht. Eine ganze Dorfdeputation, sieben Mann hoch, ist ebenfalls seit Wochen hier, um Effendina vorzustellen, daß ihnen wegen Steuerrückständen das letzte Stück Vieh fortgetrieben worden sei. Sie seien nunmehr außerstande, die benachbarten Güter Seiner Hoheit zu bestellen, da ihre Weiber schon längst zu schwach seien, einen ordentliche Pflug zu ziehen. Deshalb bitten sie, im Interesse Seiner Hoheit, ihnen ihr Vieh wieder zu leihen. Der phantasievoll ausgestattete Franzose, der mit ihnen zu parlieren sucht und den die armen Kerls lachend umstehen, ist ein Schauspieler. Er hofft für ein projektiertes großes Theaterunternehmen, in Wahrheit für ein weiteres Café chantant auf der Esbekiye, die durchaus notwendige Staatsunterstützung zu erhalten, wobei er sich auf das leuchtende Vorbild des Kaisers Napoleon und der Comédie française beruft. Er wird sein Geld leichter erhalten, als die Fellachin ihr Vieh. Wenn diese armen Teufel noch ein Woche hier gesessen haben, werden sie voraussichtlich zu einander sagen: ›Gott straft, wen er will‹ und sich wieder auf ihren vierhundert Meilen weiten Heimweg machen. – Achtung! Jetzt kommt der Mann des Tages!«
Mit manchen Pausen und Unterbrechungen waren volle drei Stunden in dieser Weise vergangen. Ich ließ mir das Geplauder Walkers willig gefallen und ihm schien es Vergnügen zu machen, den Cicerone dieser lebenden Galerie zu spielen, die jede Minute eine andere Zusammenstellung der Bilder bot. Joe Thinker saß still in seiner Ecke und wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde schwermütiger. Plötzlich aber erwachte auch er und sah starr auf die neue Gruppe, die sich in der Nähe der Eingangstür begrüßte. Es war auf der einen Seite der unermüdliche Barrot Bey und sein türkischer Assistent, auf der anderen Sadyk Pascha, ernst und gemessen und sichtlich gewohnt, in diesem Raum das große Wort zu führen. Neben ihm stand Ben Thinker, mit einem dritten Herrn, dem Dragoman des englischen Konsulats. Den Vertreter der britischen Krone schien er demnach ebenfalls gewonnen zu haben, der Schlaukopf!
»Guter Gott, wie kommt mein Bruder hierher? Ich glaubte, er liege mit seinen Kopfschmerzen tief im Bett«, flüsterte der Doktor, erbleichend. »Ich hatte keine Ahnung, daß er mich bis hierher verfolgen könnte.«
»Bleiben Sie ruhig!« bat ich. »Wir stehen jetzt mitten im Kampf auf Leben und Tod. Die erste Aufgabe ist, kühles Blut zu bewahren. Ich wußte, daß wir ihm begegnen würden, wenn wir lange genug zu warten hätten.«
»Und Sie sagten mir nichts!«
»Wozu wäre dies gut gewesen! Wir konnten es nicht verhindern. Jetzt ist es das beste, ich gehe hinüber und begrüße ihn. Wollen Sie mitkommen!«
»Ich bin außerstande!« stöhnte der Doktor »Sie haben keine Ahnung, wie schwer mich das alles drückt. Mein eigener Bruder!«
Er rückte etwas auf die Seite und lehnte sich weit zurück, so daß unser Nachbar, der fette Mudir, der nachdenklich aber stillvergnügt das Innere seines Kaftans untersuchte, ihm Ben verdeckte. Dieser hatte samt seinem Dragoman auf der anderen Seite des Zimmers Platz genommen und hielt das übliche Kaffeetäßchen bereits in der Hand, während Barrot Bey und Sadyk Pascha schon vor der schwarzen Türe standen und der erstere den letzteren in das Audienzzimmer komplimentierte.
Ich begrüßte Ben, der große Augen machte, aber erfreut schien, jemand zu finden, dem er sein Herz ausschütten konnte. Ich sagte ihm, daß ich zunächst hier sei, um dem Vizekönig eine neue Dreschmaschine zu zeigen. –
»Man fühlt sich wie ein Frosch in einem Ameisenhaufen, in diesem Geflüster und Gezischel, von dem kein Mensch ein Wort versteht« sagte er, unbehaglich hin- und herrückend. »Selbst sitzen kann man auf diesen Baumwollsäcken nicht. Trotzdem komme ich vorwärts, Herr Eyth, vorwärts, daß es eine wahre Freude ist. Nur weiß ich nicht genau, wo ich bin. Eine verflixte Situation.«
Ich meinte, er dürfe unter allen Umständen mit sich zufrieden sein. Von Sadyk Pascha eingeführt zu werden, sei an sich ein Triumph seiner Diplomatie, der alle Bewunderung verdiene.
»Ja, ja. Schlauer als mein armer Joe habe ich die Sache wohl angegriffen, teurer aber war sie auch«, versetzte er halb lachend, halb ärgerlich. »In diesem Augenblick hinke ich mehr als er, kann tatsächlich kaum gehen. Es war ein harter Tag gestern, das kann ich Ihnen versichern.«
»Wie? Sind Sie auch von einem Waschhaus heruntergefallen?« fragte ich teilnehmend.
»Das nicht. Aber denken sie sich: als ich gestern nach Kaliub kam, wo ich Pferd und Dragoman finden sollte, war weder von dem einen noch von dem anderen weit und breit eine Spur zu sehen. Ein Mißverständnis oder die verdammte Faulheit meines Dragomans war wohl schuld daran. So blieb mir nichts übrig, als im Schweiß meines Angesichts nach der Barrage und der Dahabie zurückzugehen. Na, die Barrage war noch da, aber die Dahabie und den Rauch Ihres Dampfers konnte ich gerade noch am Horizont verschwinden sehen. Nun war guter Rat teuer. Ich lief wieder nach Kaliub; vielleicht war doch das Pferd mittlerweile gekommen, hoffte ich. Nach Kairo mußte ich um jeden Preis; Sie wissen ja, weshalb. – Kein Pferd! Kein Dragoman! – Bei Zeus, Sie hätten mich sehen sollen, wie ich in dem Nest, auf dem großen Platz vor der Moschee meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Die ganze Dorfbevölkerung tanzte um mich her, lachend, schnatternd, schreiend und kein Wort der Verständigung war möglich. Aber man darf nie verzweifeln. Mit einemmal sah ich im Gedränge zwei Esel und einen Eselsjungen, der mir aussah, als ob ich ihn schon vor Shepheards Hotel gesehen hätte. Ich setzte mich ohne weiteres Parlamentieren auf eins der Tiere, gebrauchte meine Nilpeitsche, schrie ›Kairo‹, und fort gings. Der Junge heulte zwar stundenlang hinter mir her und behauptete, ich sei nicht der rechte Herr. Er gehöre einem anderen. Aber es half ihm natürlich nichts und schließlich wurde sein Gewimmer schwächer. Damit waren wir aber allerdings noch nicht in Kairo. Fünf Stunden auf einem störrischen Esel, mit einem heulenden Eselsjungen dreißig Schritt hinterher und im schlechtesten Sattel, der im Land zu finden ist, das alles will gewöhnt sein. Ich war verhungert, verdurstet und gerädert als ich ankam. Aber angekommen bin ich.«
»Und auf Herrn Joes Esel!« sagte ich, bewundernd. »Wäre ich ein Moslem, so würde ich jetzt ausrufen: Allah segnet, wen er will!«
»Was? Joes Esel?« rief Ben, mich mit erstauntem Gesicht anstarrend. »Donnerwetter, Joe ist auch hier!« unterbrach er sich dann selbst. »Natürlich um seinen Steinhaufen zu retten. Na, um so besser. Mir macht nichts mehr Spaß, als ein ehrlicher Kampf mit ein bißchen Spitzbüberei. Kommen Sie! Gehen wir, ihn zu begrüßen. Er sieht nicht glücklich aus. Armer Joe!«
In diesem Augenblick aber öffnete sich die schwarze Pforte etwas hastiger als gewöhnlich. Barrot Bey trat heraus, näherte sich uns rasch und flüsterte in der erwartungsvollen Stille, die plötzlich eingetreten war: »Treten Sie näher Herr Thinker! Treten Sie ein! Seine Hoheit wünschen Sie zu sprechen. – Sogleich, Herr Eyth, sogleich!« –
Das letztere war nur eine Liebenswürdigkeit des Franzosen und hatte keine Bedeutung. Auch Bens Konsulats-Dragoman erhob sich, und alle drei waren wie weggeblasen.
Ich ging zu Joe zurück. Auch er war um ein Erlebnis reicher geworden, das viele andere auf eine Viertelstunde glücklich gemacht hätte, das er mir aber mit entsetzt aufgerissenen Augen erzählte. Seinem Nachbar, dem Mudir von Feschna, war es gelungen, einen Floh zu fangen. »Der scheut den Berg nicht, der darauf geboren,« sagt unser großer Schiller. Ähnlich der Ägypter und der Floh. Er hielt das Tierchen vorsichtig und stillvergnügt zwischen seinem Daumen und Zeigefinger, zog bedächtig eine Lupe aus der Seitentasche seines Kaftans, die er gestern als neueste Errungenschaft der Zivilisation in der Muski gekauft haben mochte und betrachtete aufmerksam das kleine Wunder der Schöpfung. Gefällig und nicht imstande, seine Freude länger für sich zu behalten, bot er dann Lupe und Floh seinem Nachbar an. Dieser wandte sich hilfesuchend an mich. Der gute Mudir betrachtete kopfschüttelnd das entsetzte Gesicht Thinkers und lud mich ein, an seinen wissenschaftlichen Forschungen teilzunehmen. »Sieh doch, o Fremdling, wie wunderbar›« sagte er, aufmunternd. Höflich, wie ich bin, nahm ich die Lupe. Wie er mir aber auch den Floh einhändigen wollte, entwischte das unverständige Geschöpf und ein Zug gekränkter Enttäuschung flog über das Gesicht des arabischen Regierungspräsidenten. Joe war unhöflich gewesen und ich ein recht ungeschickter Mensch. Wir waren in seiner Achtung nicht gestiegen.
Wieder erschien Barrot Bey unter der Türe und winkte Mr. Smart, dem englischen Bankier, der mit gemessenem Schritt und erhobenem Kopf in das Audienzzimmer trat. Diese Herren wußten, daß man sie brauchte. Die Sache wurde nun auch mir bedenklicher, und es kostete mich einige Überwindung, Joe zu trösten, der mit ungewohntem Scharfblick die vermutliche Bedeutung des letzten Vorkommnisses erriet. Es handelte sich wahrscheinlich schon um die Geldfrage, diesen wichtigsten Teil der Pläne Ben Thinkers. Lange genug dauerte diesmal die Beratung hinter der schwarzen Pforte. Im ganzen Wartezimmer erschienen Zeichen der Spannung und Ungeduld. Am deutlichsten zeigten sie sich bei dem kleinen Herrn Oppenheim, der gerade uns gegenüber nervös auf den Fensterscheiben trommelte. Daß Smart, ein bloßer Agent, vor ihm empfangen wurde, war unerhört. Diese Engländer!
Endlich wurden die Doppelflügel des Tors aufgerissen, und die ganze Gesellschaft – Sadyk, Ben Thinker, Smart, Barrot und der Konsulatsdragoman – trat lachend und plaudernd heraus. Nach der Miene und den Bewegungen Bens zu urteilen, mußte das Ergebnis der Besprechung alle Erwartungen übertroffen haben. Triumphierend schritten die Herren durch den Vorsaal und verschwanden, von neidischen Blicken verfolgt, unter der Eingangstür. Nur Barrot, der Herrn Thinker nach englischem Brauch gewaltsam die Hand geschüttelt hatte, eilte zu seinem Herrn zurück.
Schon nach einer Minute erschien er wieder. Erregt durch die ungewöhnlich lange Dauer der soeben beendeten Audienz, noch mehr aber durch die Tatsache, daß die üblich Empfangszeit nahezu verstrichen war, glaubte jetzt jedermann, die Reihe müsse an ihn kommen. Ich selbst war deshalb kaum überrascht, als Barrot meinen Namen aufrief und mich bat, gleichzeitig Herrn Dr. Joseph Thinker einzuführen.
Wir traten in ein großes, fast leeres Zimmer, dessen Boden ein kostbarer Teppich bedeckte. Die Fenster waren verhängt; das Gemach empfing sein Licht durch teilweise farbige Scheiben von der Decke, wodurch ein feierliches kühles Halbdunkel entstand, an das man sich gewöhnen mußte, ehe Gegenstände und Personen deutlich erkennbar wurden. Wie im Vorzimmer waren auch hier die Wände fast kahl. Nur zwei Landschaften in reichen Rahmen hingen sich gegenüber: die eine Phantasiebild des fertigen Suezkanals, die andere des Hafens von Alexandrien, wie er in zehn Jahren aussehen mochte. Auf einem Seitentischchen, das in dem leeren Raum wie verloren aussah, lagen etliche Bücher und Karten. Sechs unregelmäßig verteilte Stühle aus Mahagoni und Leder teilten die Einsamkeit des Tischchens. An der dem Eingang gegenüberliegenden Hinterwand befand sich in der linken Ecke eine schmale, mit schweren schwarz-roten Vorhängen verhängte Türen, vor welcher, schildwachartig und regungslos wie Statuen, zwei Offiziere standen, die vermutlich für die persönliche Sicherheit Ismael Paschas verantwortlich waren; in die andere Ecke schmiegte sich ein breiter türkischer Diwan, auf dem sich der Vizekönig soeben niedergelassen zu haben schien.
Es war ein kleiner wohlbeleibter Herr in schwarzem Stambulrock und weißer Weste, welche nur durch die doppelte Uhrkette zusammengehalten war, die breit und protzig über seinem nicht unansehnlichen Magen lag. Der Tarbusch, unter dem das weiße Unterkäppchen hervorsah, saß ihm tief im Nacken. Das fette Gesicht erschien bleich, umrahmt von einem kurzgeschnittenen rotbraunen Bart. Die Augen waren meist halbgeschlossen und ausdruckslos. Das konnte aber auch anders kommen. Seine Bewegungen war lässig und langsam. Er tat sich seinen augenblicklichen Gästen gegenüber keinen Zwang an. Sein eines Bein lag nach Türkenart auf dem Diwan, das andere hing nach europäischer Sitte herab; eine fast symbolische Stellung, die ihm offenbar zur Gewohnheit geworden war.
Ich fühlte mich mit meiner Papierrolle dieser feierlichen Einsamkeit gegenüber nicht gerade behaglich und bemerkte nur annähernd, während ich mich nach Landessitte verbeugte, ohne natürlich den Tarbusch abzunehmen, und Herr Thinker mit seinem Zylinder eine selbsterfundene morgenländische Begrüßung ausführte, daß der Vizekönig uns winkte, näher zu treten.
»Ich habe Sie schon seit Wochen erwartet, Herr Eyth«, sagte er, leise sprechend und in einem Ton, den man als Vorwurf oder als Zeichen erwachender Teilnahme auslegen konnte. »Nehmen Sie Platz! Ah, das ist Ihr Freund Herr...« – Er griff nach der Karte, die ihm Barrot reichte – »Herr Dinker, von dem mir Halim erzählte. Herr Dinker spricht französisch? Nein? Auch gut. Bitte, nehmen Sie Platz. – Und nun eins nach dem anderen: was haben Sie mit meiner Norak gemacht?«
Da keine andere Möglichkeit vorhanden war, legte ich dem Vizekönig meine Zeichnungen buchstäblich zu Füßen und war bald im munteren Erklären des Prinzips, das ich der neuen Maschine zu Grunde legen wollte, und der wesentlichen Einzelheiten der Ausführung. Mit fast geschlossenen Augen hörte der Vizekönig zu, nachdem ihm auf einen kaum merklichen Wink eine prachtvolle Wasserpfeife herangerückt worden war, aus der er behaglich zu rauchen begann.
»Das mag alles nicht übel sein«, sagte er, nachdem ich zu Ende war. »Sie muten mir nicht zu, daß ich es verstehen soll. Das einzige, was mich interessiert, ist die Frage: wird es gehen?«
»Hoheit, das weiß man von einer durchaus neuen Maschine nie mit Sicherheit vor den ersten Versuchen.«
»So!« war die etwas scharfe Antwort. »Soviel weiß ich eigentlich auch. Es ist schade, daß ich nicht Ingenieur geworden bin. Was wird die Maschine kosten?«
»Auch das hängt davon ab, wo sie gebaut werden soll. In England würde sie etwa zweihundertfünfzig Pfund beanspruchen.«
»Das ist viel Geld, denn ich brauche allein vielleicht hundertundfünfzig Stück. Was würde sie in Bulak kosten?«
»Wahrscheinlich mehr als fünfhundert Pfund.«
»Sie amüsieren mich, Monsieur Eyth. Sie scheinen mir keinen blauen Dunst vormalen zu wollen. Gut! Ich will auch einmal eine ägyptische Maschine haben, in Ägypten erfunden und erbaut. Ich werde noch heute den Befehl an die Werkstätten in Bulak schicken lassen, Ihnen alles Erforderliche zur Verfügung zu stellen. Wann kann die Maschine fertig sein?«
»In Bulak? Das, Königliche Hoheit, weiß nur der Himmel!«
»Sapristi, mein Lieber, Sie sind zu ehrlich!« rief der Vizekönig und zum erstenmal flog etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. »Tun Sie Ihr Möglichstes. Ich will den Weizen dieses Jahres noch mit meiner Maschine dreschen sehen. Auf Wiedersehen! – Ah, ich vergaß – Ihr Freund, Monsieur Dinkär! Wollen Sie seinen Dragoman spielen, Herr Eyth, oder wollen wir Jackson rufen lassen?«
Er klatschte sanft in seine fetten Hände und Barrot, der für diesen Ton das Gehör einer Spitzmaus besaß, stürzte aus der fernsten Ecke des Wartezimmers herbei. In schläfrigem Ton sagte Ismael Pascha:
»Rufen Sie Jackson. Der Kerl ist nie bei der Hand, wenn man ihn braucht.«
Ehe jedoch Jackson gefunden wurde, war die Unterhaltung im besten Gang, die, mit Weglassung der Übersetzungsschwierigkeiten, ungefähr folgenden Verlauf nahm.
»Wie ich höre, Herr Thinker«, begann der Vizekönig, »wollen Sie mir einiges über unsere Pyramiden mitteilen. Sie haben Sie wohl schon gesehen? – ich meine, besucht?«
»Königliche Hoheit, ich habe fünfzehn Jahre meines Lebens der Erforschung der großen Pyramide gewidmet«, versetzte der Doktor mit bewegter Stimme.
»Was Sie sagen!« rief Ismael Pascha, etwas lebhafter. »Aber Sie haben keine Pyramiden in England und Schottland.«
»Nein, Hoheit. Aber ich habe mir alle irgend erreichbaren Angaben anderer Forscher von der ältesten Zeit bis auf unsere Tage zu verschaffen gewußt und auf Grund derselben meine Ansichten gebildet, für die ich hier an Ort und Stelle die merkwürdigste Bestätigung gefunden habe.«
»Nun, da gratuliere ich!« lächelte Ismael, der nicht ohne Humor war. »Es findet nicht jeder in Ägypten, was er sucht.«
»In einem Punkte ging es allerdings auch mir so, Hoheit!« fuhr Thinker fort. »Ich fand das wunderbarste Bauwerk der Erde in einem Zustand des Verfalls und der Vernachlässigung –«
Er stockte. Über die Züge des Vizekönigs flog ein leichter Schatten.
»Aber bedenken Sie, mein Lieber«, sagte er, »wie viele Jahrhunderte schon an dem alten Kasten genagt haben. Auch bei uns kann man nicht für die Ewigkeit bauen.«
»Dieses Bauwerk wurde aber für die Ewigkeit gebaut, wenn mir Hoheit die Bemerkung gestatten. Das ist gerade das Wunderbare an der Sache«, rief Joe mit Wärme, und ich sah, nicht ohne Besorgnis, daß er mit Volldampf in sein Gedankengeleise einlenkte.
»Sie setzen mich in Erstaunen!« lächelte Ismael.
»Daß ich Eurer Hoheit die Gründe mitteilen dürfte, die mich zu dieser Überzeugung geführt haben!« seufzte der Doktor.
»Ich bin begierig, sie zu hören«, versetzte der höfliche, jedoch unvorsichtige Vizekönig. »Aber bitte, bleiben Sie sitzen! Barrot, eine Zigarette!«
Sechs Zigaretten rauchte Ismael Pascha in der nächsten halben Stunde. Ob er etwas dabei dachte, weiß ich nicht, denn ich hatte gerade genug zu tun, im Schweiß meines Angesichts Satz für Satz zu übersetzen, was Thinker mit steigendem Feuer vortrug. Die Unterbrechungen, die hierdurch seine Darlegung erlitt, waren der Sache eher von Nutzen als schädlich. Man konnte, wenn man wollte, sich Sinn und Bedeutung jedes Satzes überlegen, ehe der nächste einen Schritt weiter führte. Es ist kaum wahrscheinlich, daß der Vizekönig sich dieses Vorteils bediente. Mit der ausdruckslosesten Miene des fetten unbeweglichen Gesichts saß er halbliegend vor uns und blies feine Rauchwölkchen in regelmäßigen Abständen gegen die Decke. Man hielt dies für einen Beweis, daß ihm kein Wort entgehe. So vergingen zwanzig Minuten; da richtete er sich plötzlich auf und sagte lebhaft:
»Ich danke Ihnen! Ich glaube Ihnen, nehmen wir dies an. Ich verstehe nicht die Hälfte von dem, was Sie mir sagen, aber ich finde diese Hälfte sehr interessant. Es wird Sie freuen zu hören, daß Mansur El Baggara, ein gelehrter Herr meines Hofes, mir schon ähnliches vorgeplaudert hat. Aber was sollen wir mit all dem machen?«
Mansur el Baggara war der schachspielende Astrologe und Traumdeuter im Vorzimmer. Joe, dessen Augen jetzt ihren Prophetenglanz angenommen hatten, stand auf und sagte feierlich:
»Ich halte die große Pyramide, die in dieser wunderbaren Weise die Geheimnisse des Weltalls und der Menschheit verkörpert, für ein Gebäude, an dessen ehrfurchtgebietende Bedeutung kein Tempel, keine Moschee, kein Dom in diesem oder einem anderen Lande heranreicht. Ich glaube, es ist die Pflicht einer weisen und gottesfürchtigen Regierung, diesen Bau entsprechend zu pflegen: ein Heiligtum, Hoheit, das seit Jahrtausenden dem Land Ägypten seine Weihe verliehen hat und es für alle Zukunft als das Gesegnetste der Erde erhalten wird.«
»Inschallah!« rief der Vizekönig ernsthaft. »Wissen Sie, lieber Freund, daß vor einer Viertelstunde eine ganze Bande von Herren hier war, die mich überreden wollten, das heilige Bauwerk stückweise in den Nil zu werfen und dadurch dieses Land ebenfalls zum Gesegnetsten der Erde zu machen? Genau ihre Worte!«
»Ich weiß von diesem gotteslästerlichen Plan«, rief Thinker, der jetzt jede Zurückhaltung von sich schleuderte, »und ich bin hier, um Eure Hoheit anzuflehen, den entsetzlichen Menschen kein Gehör zu schenken. Das einzig Richtige wäre, in achtungsvoller Entfernung eine gewaltige Schutz- und Ringmauer um die große Pyramide zu ziehen. Ein monumentales Werk, fünfundzwanzig Pyramidenmeter hoch und fünf stark, würde den Verhältnissen entsprechen. Ich würde es nicht als einen Raub ansehen, hierzu die Steine der dritten Pyramide zu verwenden, welche schon aus einer Zeit des Abfalls und der Verwirrungen stammt. Eine Schutzwache aus würdigen und gläubigen Männern sollte für immer am einzigen Tor dieser Schutzmauer wohnen und dafür Sorge tragen, daß keine frevelnde Hand die heiligen Steine berühre, kein unwürdiger Fuß die Gänge und Kammern, die Stufen und die Spitze des Baus betrete. Gerne würde ich für den Rest meines Lebens dieses Ehrenamtes walten, ohne an irgendwelchen Lohn zu denken, und der ganze Erdkreis würde Eurer Königlichen Hoheit für alle Zeiten dankbar sein, wenn Sie in dieser Weise die Verpflichtungen erfüllen wollten, welche dem Land Ägyptens aus dem Besitz dieses unschätzbaren Kleinods erwachsen.«
Joe Thinker schwieg erschöpft.
»Hm, hm!« sagte Ismael Pascha, nachdem ich den letzten Satz pflichtgetreu übersetzt hatte. »Barrot, eine Zigarette!«
Der Wärmeverlust, welches Joes glühende Begeisterung durch das Übersetzen erlitt, war unberechenbar. Dennoch war der Vizekönig sichtlich nachdenklich geworden.
»Denken Sie sich«, sagte er nach einer langen Pause, in der wir etwas verlegen dasaßen, denn auch ich wußte nicht, was zu tun sei, wenn bei Seiner Hoheit vollständiger Gedankenstillstand eintreten sollte, »denken Sie sich, mir hat vor etlicher Zeit etwas ähnliches geträumt. Ich muß die Sache wirklich dem Baggara vorlegen. Was sagen Sie dazu, Herr Eyth? Sie sehen nicht ganz nach civilisation et progrès aus, die Pläne Ihres Freundes.«
»Ich möchte dies nicht ohne weiteres behaupten, Königliche Hoheit«, begann ich, entschlossen, Joe nicht im Stich zu lassen. »Die große Pyramide hat einen greifbaren Wert für das Land. Seit viertausend Jahren kommen Fremde aus aller Welt hierher, sie zu sehen, ohne daß je durch Annoncen oder andere Reklamemittel darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Das alte Wunder zieht. Das ist für den Eigentümer von unberechenbarem Wert. Es ist nicht bloß der Geldgewinn aus dem gesteigerten Fremdenverkehr, an den ich denke. Ägypten ist berühmt und wird es stets bleiben, selbst wenn der Nil vertrocknen sollte, durch seine große Pyramide. Was Herr Thinker vorschlägt – ohne auf seine tiefere Begründung einzugehen – würde das Prestige des Landes nur erhöhen und ihn ein Element der Größe erhalten, worauf es seit Jahrtausenden stolz sein konnte.«
Zum Dank warf mir der Doktor einen zornigen Blick zu.
»Das heiße ich der Sache eine vernünftige Seite abgewinnen«, sagte der Vizekönig befriedigt. »Ist es Ihnen nicht auch schon aufgefallen, Herr Thinker, wie viele Seiten alle irdischen Dinge haben?«
»Fünf«, antwortete Joe prompt; aber er kam nicht weiter. Barrot war auf den Zehenspitzen ans uns vorbeigeschlichen und flüsterte dem Pascha etwas ins Ohr, worauf sich dieser langsam erhob.
»Jedenfalls ist es gut, daß Sie gekommen sind, Herr Thinker«, sagte er gleichzeitig, »und Ihren Freund mitgebracht haben, der Ihren Wünschen einen greifbaren Zweck zu geben wußte. Vor einer halben Stunde dachte ich ernstlich daran, das alte Steinungetüm in anderer Weise zu verwerten. Jetzt sehe ich die Sache etwas anders an. Sie muß überlegt werden. Kommen Sie in acht Tagen wieder. Beide. Herr Eyth kann mir dann sagen, wie weit er mit meiner Dreschmaschine gekommen ist. Au revoir, Messieurs!«
Wir waren entlassen. Ich raffte meine Zeichnungen zusammen und Barrot komplimentierte uns etwas rasch zur Türe hinaus. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, daß wir erreicht hatten, was heute irgend erreichbar war und freute mich hierüber fast so sehr als über die Dreschmaschinenangelegenheit. Joe las dies aus meinem Gesicht und folgte mir mit stolz erhobenem Haupt durch die noch immer, nun aber vergeblich wartende Menge im Vorzimmer. Ehe wir dessen Ausgang erreichten, eilte uns Barrot nach und faßte mich am Arm.
»Seine Hoheit wünscht«, sagte er hastig, »daß Sie und Ihr Freund an der Frühstückstafel teilnehmen. Bitte, folgen Sie mir!«
Wir machten kehrt und gingen durch die jetzt ehrfurchtsvoll zurücktretenden Leute auf eine Seitentür zu, durch die uns Barrot Bey nach dem Innern des Palastes führte.
»Nun, scheint mir, ist fast alles gewonnen!« sagte ich zu Joe, der mich verwirrt und hilflos ansah und kaum wußte, wie ihm geschah.