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Als ich am folgenden Tag in ungewohnter Umgebung später als gewöhnlich erwachte, stand Ben Thinker vor meinem Bett.
»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen zu etwas früher Stunde einen Besuch abstatte – guten Morgen, Herr Eyth!« rief er mit jener unbefangenen Selbstverständlichkeit, die bei Engländern auch ferner stehenden guten Freunden gegenüber die sonst üblichen Umgangsformen wesentlich vereinfacht. »Sie waren heute mein Zimmernachbar. Ihre Türe stand offen. Alles schläft noch, und ich kann es nicht länger aushalten.«
»Es müssen noch drei Stunden vergehen, ehe wir irgend etwas tun können«, sagte ich, nicht gerade erfreut, mich nach einer heißen unruhigen Nacht der Morgenruhe, auf die ich ausnahmsweise gerechnet hatte, beraubt zu sehen.
»Das ist es eben«, lachte Ben mit erzwungener Lustigkeit, »stehen Sie auf oder bleiben Sie liegen, wie es Ihnen behagt; aber plaudern wir ein wenig!«
Er holte sich einen Stuhl und setzte sich neben mein Bett.
»So geht es, wenn man seine Zimmertür nicht schließt«, fuhr er fort. »Aber Sie tun ein gutes Werk. Es prickelt mir in allen Adern. Ich muß eine Ablenkung haben, bis es Zeit wird, nach dem Ab'dinpalast zu fahren.«
»Ich begreife das«, versetzte ich. »Es kann ein entscheidender Tag werden.«
»Ich bin überzeugt, daß schon alles entschieden ist«, war die hastige Antwort. »Das ist's nicht, was mich beunruhigt. Die Größe der Aufgabe fängt an, mich zu drücken, die Verantwortung, welche das ganze Projekt auf meine Schultern legt. Ihnen, als Berufsgenossen und als Freund, kann ich dies ja sagen. Es ist noch so viel zu überlegen und alles geht in die Millionen. Ich habe dieses Gefühl noch nie so peinlich empfunden. Vielleicht ist es auch die Hitze. Das bohrt und bohrt. So kam ich zu Ihnen, um das Mühlrad zum Stillstehen zu bringen, das sich in meinem Gehirn dreht und ein lottriges Hammerwerk zu treiben scheint. Sprechen wir von etwas anderem!«
Es kam mir nun wirklich auch der Gedanke, daß ich meinem Besuch nützlich sein könnte. Er sah heiß und aufgeregt aus, nicht, wie man an einem frischen Morgen eines ereignisvollen, vielleicht anstrengenden Tages aussehen sollte.
»Haben Sie Ihr Bad genommen?« fragte ich.
»Schon geschehen!« antwortete er. »Hilft nichts!«
»Gut; plaudern wir von dem schönen Tag, den wir gestern genossen haben«, schlug ich vor.
»Das Beste war der Schluß«, fiel Ben bereitwillig ein. »Nicht hier im Hotel – drüben überm Nil. Auch nicht gerade für uns, aber für Ihren Freund Buchwald.«
»Ich hoffe es«, antwortete ich, nicht sehr zuversichtlich. »Es ist ein großes Wagnis: eine indische Prinzessin und ein deutscher Maler. Sie wissen, Buchwald ist mein wirklicher Freund. Ich sehe die Sache ernsthafter an als Sie.«
»Eigentlich sollte es umgekehrt sein«, meinte Ben. »Kundel ist meine wirkliche Nichte. Aber ihr Deutsche seid fähig, über einer Hochzeitskarte schwermütig zu werden. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt, nachträglich. Da ist die Rassenfrage. Aber mein älterer Bruder und tausend andere haben sie in Fällen, die genau zweimal so bedenklich sein müßten, mit Erfolg gelöst; sie braucht uns deshalb nicht allzu sehr zu beunruhigen. Buchwald und Sakuntala haben überdies entdeckt – wie mir unsere Bertha sagt – daß die Indogermanen eine uralte, gelehrte Tatsache seinen. Was die ›Prinzessin‹ betrifft, so ist dies in der Tat nicht halb so schlimm als es klingt. Die Radschas und Ranis von Indien blühten, wuchsen und verwelkten wie bei uns die Brombeeren. Sie waren im Dekan und in Radschputana genau was die alten Ritter, Barone und Gräfchen in Ihrem Vaterland waren, mit denen es auf- oder abging, wie es die Zeiten mit sich brachten. Hier wie dort ist die Herrlichkeit so viel als verschwunden. Oft genug ist der schöne Titel das einzige, was davon übrig blieb. In Kundels Fall bleibt noch ein rundes Sümmchen Geld in Londoner Banken, ein beträchtliches Stück wildes Dschungelland am Mahanadi und ein Häufchen Familienedelsteine, die in Kalkutta liegen sollen. Dagegen läßt sich natürlich manches einwenden vom Standpunkt eines armen Malers.«
Ben lachte laut und schlug mir empfindlich auf die Schulter.
»Stehen Sie auf, Eyth!« rief er vergnügt. »Ich kann dieses Bild menschlicher Faulheit nicht mehr länger mit ansehen und möchte einen Morgenspaziergang machen, bis man in dieser verkommenen Karawanserei ein Frühstück erhalten kann. – Das Geld! Danken Sie für Ihren Freund allen indischen Göttern, daß es dort hinten im Osten noch nicht ganz alle ist; wie ich es tue. Wir, Joe und ich, haben kein Anrecht auf Sakuntalas mütterliche Schatzkammer und brauchen es Gott sei Dank nicht. Mein wackerer verstorbener Bruder, der sich zu seinen Lebzeiten wenig genug um die Familie kümmerte, hat uns nach seinem Tod genügend bedacht, so daß ich unbesorgt noch eine Reihe von Erfindungen machen kann und Joe schon jetzt nicht weiß, was er mit seinem Erbteil anfangen soll. Sakuntala hätte ohne Zweifel eine bessere Partie machen können, wenn sie gewartet hätte, bis sie vernünftiger geworden wäre. Doch wie kann man das wissen; es hätte auch zehnmal schlimmer gehen können. Wer will ein indisches Mädchenherz kontrollieren? Persönlich bin ich Buchwald aus tiefster Seele dankbar, daß er mir die Verantwortlichkeit abnimmt, die mir die Vormundschaft aufbürdete. So sehe ich in dem gestrigen Familienereignis eitel Trost und Freude und bemerke nur einen kleinen schwarzen Punkt in der sonnigen Zukunft: Ich möchte wissen, wie ich mein Konversationslexikon, unsere Bertha, um mich behalten könnte, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, ihr etwas zum Erziehen anzuvertrauen. Ich selbst bin doch zu alt zu diesem Zweck.«
Ich weiß nicht, was mir Ben in der Erregung von Familien- und Herzensangelegenheiten noch anvertraut hätte, wenn uns nicht, als wir das Zimmer verlassen wollten, der Schech der Hausknechte, der schwarze Bob, entgegengetreten wäre. Er kam von Joe, der mich bitten ließ, mit ihm auf seinem Zimmer zu frühstücken.
Ben stutzte.
»Um so besser!« rief er nach einer augenblicklichen Pause. »Ich muß ohnedies Coalvilles Bureau aufsuchen und den Konsulatsdragoman in Bewegung setzen. Sie können mir bei Joe einen unbezahlbaren Dienst leisten. Er scheint noch immer die Lage der Dinge völlig mißzuverstehen. In wenigen Stunden steht er der bitteren Wahrheit gegenüber. Wer weiß, welche Wirkung dies auf sein weiches Gemüt haben wird. Bereiten Sie ihn vor; langsam und so schonend als möglich. Und sagen Sie ihm, daß sein Bruder ihn aufrichtig bedauert. Aber recht vorsichtig, nicht wahr, lieber Herr Eyth, recht vorsichtig!«
Das kam schon vom Fuß der Treppe, wo ich den Davoneilenden nicht mehr sehen konnte.
Ich klopfte an Joes Zimmertüre.
Der Doktor öffnete sie selbst. Er hatte bereits seinen langen feinen Gehrock angelegt, der ihm das Aussehen eines Hohenpriesters unserer Tage verlieh, und schien auch im übrigen bereit zu sein, ohne Verzug in jeden Audienzsaal einzutreten. Aber er war sehr bleich, denn auch er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, und begrüßte mich mit mehr als gewöhnlicher Feierlichkeit.
»Wissen Sie, daß heute der fünfundzwanzigste April ist?« sagte er mit feinem Lächeln. »An einem fünfundzwanzigsten September lernte ich Piazzi Smyth kennen. Fünf mal fünf! Schade, daß wir nicht im Mai stehen. Wenn es auch der fünfte Monat dieses Jahres 65 wäre, würde mein Vertrauen, daß ich einem glücklichen Tag meines Lebens entgegengehe, noch größer sein. Aber es braucht wahrhaftig nicht zu wachsen.«
Er drückte mir in einer Weise die Hand, die deutlicher als ebenso viele Worte sagte: »Ich weiß, Sie verstehen mich!« und lud mich ein, an einem Tisch Platz zu nehmen, auf dem hinter zwei Gedecken ein englisches Frühstück in seiner reichsten Vollständigkeit bereit stand.
»Ich glaube kaum, daß wir heute so lange zu warten haben als vor acht Tagen, doch ist Vorsicht immer besser als Nachsicht, namentlich bei leerem Magen«, sagte er, freundlich lächelnd, indem er mir den Teller mit Yorkshireschinken und Eier belud, während ich das Amt des Teetassenfüllens übernahm.
»Man kann in Ägypten nie wissen, welche Wendung die Dinge nehmen«, sagte ich, an Ben und dessen Bitte denkend.
»Nein, und deshalb suche ich mir auch immer alle Möglichkeiten vor Augen zu halten«, versicherte Joe. »Es wäre zum Beispiel denkbar, daß uns – Sie werden mich doch gewiß begleiten, Herr Eyth?«
»Ich habe im Sinn, mit Ihnen zu gehen, schon der Norak wegen«, antwortete ich. »Es wird sich ja dann zeigen, ob ich auch sonst nützlich sein kann.«
»– daß uns der Vizekönig um einen Plan, oder wenigstens um eine Skizze ersucht, die die Lage und den allgemeinen architektonischen Eindruck der Ringmauer veranschaulicht, auf deren schleunige Erbauung ich großen Wert lege. Nicht bloß als äußeren Schutz für die Pyramide. Wenn wir einmal so weit sind, eine Art Haram esch Scherif, einen heiligen Raum rings um das Gebäude abgegrenzt zu haben, ist viel gewonnen. Das Symbolische der greifbaren Tatsache wirkt auf die Gemüter mehr als die Tatsache selbst.«
»Und doch wäre es nach Ihren eigenen Grundsätzen vielleicht klug«, warf ich ein, »auch damit zu rechnen, daß der Vizekönig nichts von der Mauer wissen will.«
»Das halte ich für ausgeschlossen!« versetzte der Doktor leichthin, aber doch mit einem leisen Vorwurf in Klang seiner Stimme. »Dagegen scheint Seine Hoheit es zu lieben, daß ihm alles mit großer Bestimmtheit als etwas Wohldurchdachtes, Fertiges unterbreitet wird. Da kam mir der Gedanke – Sie verzeihen doch, wenn ich ohne Umschweife mit meiner Bitte herausrücke –: Ich selbst kann nicht zeichnen. Mein lieber Buchwald ist vermutlich unfähig, wenn ich ihn auch holen ließe, nach den gestrigen Erlebnissen heute einen vernünftigen Strich zu machen. Wir haben noch zwei volle Stunden Zeit. Kurz und gut: ich wollte Sie bitten, mir eine kleine Skizze der Ringmauer, des Eingangstors und der Wohnung der Pyramidenschutzwache anzufertigen. Eine Zeichnung dieser Art könnte einen sofortigen entscheidenden Entschluß des Vizekönigs herbeiführen; so etwa wie bei Ihrer Norak. Dieser Vorgang machte einen tiefen Eindruck auf mich.«
Ich bemerke jetzt erst, daß auf einem Seitentisch allerdings etwas mangelhafte Vorbereitungen für die vorgeschlagene Arbeit getroffen waren. Neben einem großen Bogen Papier lagen zwei unbrauchbare Lineale, ein verkommener Zirkel und nicht weniger als zwölf gespitzte Bleistifte. Es war fast rührend. Holzschnitte und Lithographien von Grundrissen und Durchschnitten der Pyramide waren auf zwei Stühlen neben dem Tisch aufgestapelt. Ich sah, daß mir Joe mit großer List eine Falle gestellt hatte, fand aber keinen triftigen Grund, seine Bitte abzulehnen. Daß ich kein Architekt war, hatte in Ägypten keine Bedeutung. Vielleicht gelingt es während des Skizzierens, dachte ich, durch kluge Seitenbemerkungen seine Hoffnungen etwas herabzustimmen und ihm den Gedanken nahe zu legen, daß all unsere Arbeit nutzlos sein könnte.
Aber auch die deutlichsten Winke in diesem Sinn prallten an der unzerstörbaren Zuversicht des Doktors ab. Freudig begrüßte er jede Linie, die ich auf das Papier warf. Immer neue Verbesserungen und Verschönerungen des einfachen Grundgedankens tauchten in seinem geschäftigen Gehirn auf. Ich selbst – wie es mir schon oft gegangen ist – wurde nach und nach von dem Schaffensfieber meines Mitarbeiters angesteckt, so daß ich nach einer halben Stunde nicht minder eifrig als er an der Befestigung und Ausschmückung unserer Ringmauer arbeitete und in kurzer Zeit ein wunderbares, alles architektonische Gefühl unserer entarteten Zeit trotzig ins Gesicht schlagendes Bauwerk auf dem Papier prangte. Der Stil sollte sich möglichst an chaldäische Überlieferungen anschließen, meinte Joe. Dies schien mir auch gelungen zu sein; um so mehr, als ich von chaldäischen Überlieferungen einen überaus dunklen Begriff hatte. Als wir schließlich an die Behausung des Hohenpriesters und der Hilfswächter kamen, bei welcher immerhin einige Rücksicht auf die Bedürfnisse der Gegenwart genommen werden mußte, vergaßen wir in unserem Eifer Zeit und Raum. So war es ein unverdientes Glück, daß der schwarze Bob nach zweimaligen vergeblichem Klopfen den Kopf ins Zimmer schob um mitzuteilen: daß der Bote, den ich nach Schubra geschickt hatte, um auch für mich hoffähige Kleider herbeizuschaffen, seit einer Stunde vor meiner Zimmertür stehe. Es war halb zehn Uhr vorüber, die höchste Zeit, nach dem Ab'dinpalast aufzubrechen.
Schweißtropfen auf der Stirn, die Halsbinde etwas schief, einen geplatzten Handschuh in der Hand und halb betäubt von der Überstürzung der letzten halben Stunde fuhren wir am Portal des Schlosses vor. Es war, als ob die Betäubung nicht weichen wollte. Alles auf dem engen Hof sah anders aus als gewöhnlich. Statt der acht oder zehn Wagen, die hier zu halten pflegten, stand nur einer neben dem unseren. Über allem schien der Dunst einer unruhigen verwirrten Verlassenheit zu liegen, die ich mir nicht erklären konnte. Ich rieb mir die Augen, holte zum letztenmal tief Atem, um das Gefühl des ungebührlichen Hastens abzuschütteln, das mich noch immer verfolgte, und ging mit dem Doktor nach dem wohlbekannten Wartezimmer.
Der Saal, öd, kahl und leer, bot einen fast erschreckenden Anblick dar. In der Nähe der Eingangstüre lagerte noch immer die Gruppe von Arabern, die, wie alle Tage, geduldig darauf warteten, was das Schicksal über sie verhängen werde. Weiter oben standen, nachlässig plaudernd zwei sichtlich untergeordnete, mir völlig fremde Effendis. Von Barott Bey war nichts zu sehen. Die schwarze Türe war wie gewöhnlich geschlossen. Doch wurden hinter derselben von Zeit zu Zeit Stimmen hörbar. Es mußte also doch jemand Audienz haben. Die Araber grinsten, als ich sie zu befragen suchte, wußten aber nichts zu sagen. Die Effendis sprachen nur türkisch und waren deshalb ebenfalls unzugänglich. Es blieb vorläufig nichts übrig, als uns in unserer alten Ecke niederzulassen. Selbst der gewohnte Kaffee blieb aus. Dies war förmlich unheimlich. – Wir versuchten zu tun, was die Araber taten, und warteten auf den Wink des Geschicks. Aber es winkte nicht, volle zehn Minuten lang. Nur ein Kawasse schlürfte mit faulen Schritten durch den Saal und musterte uns, wie mir schien, mit ungewöhnlich frechen Blicken, als wollte er sagen: Wartet, so lange es euch beliebt; Kaffee gibt es heute nicht! Endlich öffnet sich die schwarze Pforte, aber nur um ein Männchen durchzulassen, das hastig der Eingangstüre zulief, dort den Kawassen einholte und ihm in schrillem aufgeregtem Ton einige Befehle gab, die ich nicht verstand. Dann lief der Kawasse weiter und das Männchen kann zurück. Es war der armenische Hilfssekretär Barott Beys. Damit war wenigstens einige Hoffnung auf Aufklärung in Sicht.
Ich trat ihm in den Weg. Er starrte mich verständnislos an. »Ich bin Herr Eyth von Schubra, Baschmahandi Seiner Hoheit des Prinzen Halim Pascha«, sagte ich laut und sehr bestimmt.
»Was wollen Sie hier?« fragte der Armenier in qualvollem Französisch und versuchte an mir vorbeizukommen.
»Ich wünsche auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, des Vizekönigs, mit meinem Freunde Herr Dr. Joseph Thinker dem Vizekönig meine Aufwartung zu machen.«
Der Mann wurde plötzlich höflich.
»Ja, mon cher Monsieur, wissen Sie denn nicht, daß Seine Hoheit abgereist sind? Heute vor Tagesanbruch. Hoheit schliefen schon auf dem Nildampfer. Barott Bey, Nubar Pascha, Sadyk Pascha, der halbe Harem, der ganze Hof – alles abgereist. Werden vielleicht vier, fünf Wochen in Oberägypten verbleiben. Herr Dinkär, sagen Sie? Herr Dinkär Numero zwei. Sehr gut. Bitte warten Sie einen Augenblick. Habe mich schon gestern bemüht, Herrn Dinkär Numero zwei aufzufinden.«
Er schlüpfte wie ein Wiesel an mir vorüber und verschwand hinter der schwarzen Türe. Joe hatte von unserem Gespräch wenig verstanden und trat mit verstörter Miene an mich heran.
»Ist etwas Unerwartetes passiert?« fragte er halblaut.
»Ich sagte es Ihnen ja, mein lieber Herr Thinker: in Ägypten muß man jederzeit auf alles gefaßt sein. Der Vizekönig ist uns vorläufig durch die Finger geschlüpft.«
»So plötzlich? Aber er wollte mich gestern noch sprechen. Er muß eine Lebensfrage für uns alle entscheiden. Erklären Sie mir –«
»Zu erklären ist noch nichts. Wir müssen vor allen Dingen die Tatsachen feststellen. Daß er abgereist ist, sieht man allerdings an jedem Hund, dem wir hier begegnen.«
Ich fühlte, daß ich selbst etwas nervös wurde. Der Armenier kam in diesem Augenblick zurück. Er hatte zwei Briefe in der Hand, einen großen, feierlich aussehenden und einen kleineren, die er mir beide mit einer tiefen Verbeugung überreichte.
»Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit!« sagte er dabei.
Gleichzeitig war die Eingangstür des Wartezimmers hastig aufgerissen worden. Der zurückgekehrte Kawasse wurde von einem Hintermann fast hereingeschleudert und dann auf die Seite geschoben. Es war Walker, der englische Zahnarzt. Er ging, ein poliertes Kästchen unter dem Arm, rasch an uns vorüber, winkte mir zu und rief mit halberstickter, keuchender Stimme: »Keine Zeit. Amtsgeschäfte! Keine Zeit!« Dann, ohne alle weiteren Komplimente, verschwand er mit dem Armenier im Audienzsaal.
»Jetzt wird mir die Sache doch fast zu bunt«, sagte ich zu Joe, der wie hypnotisiert auf die Briefe starrte, die ich noch immer in der Hand hielt. »Der Vizekönig ist fort und seine Zähne scheinen noch hier zu sein.« Ich sagte dies, um den Doktor etwas aufzurichten, aber es hatte keine Wirkung.
»Was schreibt er?« fragte er tonlos.
Der größere Briefumschlag war an Thinker, der kleinere an mich gerichtet. Ich erbrach zuerst das gewaltige Amtssiegel, das eine Pyramide unter einer Dattelpalme vorstellte. Im Dreieck der Pyramide prangte in arabischen Buchstaben der Name Ismael. Rasch entfaltete ich das große Papier und reichte es dem Doktor. Er winkte mir mit der Linken ab und fuhr mit der Rechten über die Augen, wie wenn ihn die Sehkraft verlassen hätte.
Ich überflog das Schreiben. Es war französisch und von Barott Bey unterschrieben. In deutscher Wendung lautete es ungefähr folgendermaßen:
Hochgeehrter Herr Doktor!
Im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit, des Vizekönigs Ismael Pascha beehre ich mich, ganz ergebenst mitzuteilen, daß Höchstdieselben es ablehnen müssen, auf die von Ihnen angeregten Ideen einzugeben. Seine Königliche Hoheit glauben, daß ebensowenig unsere Zeit, die Zeit der Aufklärung und des Fortschritts, als das Land, das zu beherrschen er berufen ist, dazu geeignet sind, durch die Pflege nichtiger Träumereien den Spott der zivilisierten Welt auf sich zu lenken. Die praktischen Aufgaben, welche die Regierung eines Beherrschers der Nilländer beschäftigen müssen, werden seiner Hoheit auch in der Zukunft verbieten, den Spielen der Phantasie, selbst, wenn sie sich an ehrwürdige Denkmale der Vergangenheit knüpfen, eine nennenswerte Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Hoheit ersuchen Sie deshalb, auch die von Ihnen befürwortete Angelegenheit hiermit als abgeschlossen zu betrachten. Genehmigen Eure Hochwohlgeboren den Ausdruck vorzüglichster Hochachtung, mit welcher zeichnet
Eurer Hochwohlgeboren sehr ergebener
Barott Bey
Geheimsekretär Seiner Königlichen Hoheit, des Vizekönigs von Ägypten.
»Was sagt er?« wiederholte Thinker, der meine Gesichtszüge, während ich murmelnd las, mit brennenden Blicken beobachtet hatte und sank auf den nächsten Diwan.
Ich fühlte mich, als ich ihn ansah, unfähig zu antworten und riß den an mich gerichteten zweiten Brief auf. Vielleicht enthielt er ein paar Worte, die den niederschmetternden Eindruck des ersten mildern konnten. Auch er war von Barott in seiner eigenen krausen Handschrift geschrieben und begann:
Mein lieber Herr Eyth!
Unsere morgige plötzliche Abreise nach Oberägypten und die Unmöglichkeit, mit Ihnen heute in Verbindung zu treten, veranlassen mich, Im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit, Sie zu ersuchen, keine Zeit zu versäumen und die Norak sofort fertigzustellen. Der Vizekönig wünscht, sie nach seiner Rückkunft in vier bis fünf Wochen in Tätigkeit zu sehen. Was Ihren Freund, den Doktor Thinker betrifft, so würden Sie mich verpflichten, um alle späteren Ungelegenheiten zu vermeiden, wenn Sie dem Herrn mit tunlichster Bestimmtheit mitteilen wollten, daß der Vizekönig vor einigen Tagen eine entschiedene Abneigung gegen seine Pläne gefaßt zu haben scheint und verboten bat, dieselben in seiner Gegenwart zu erwähnen. Solche Schwankungen sind eine Eigenheit des hoben Herrn, die uns schon viel zu schaffen machte und – unter uns gesagt – mit dem Traumleben der menschlichen Natur zusammenhängen.
Mich Ihrer Gewogenheit empfehlend
Ihr ergebener Freund
Barott Bey.
»Nun, was sagte er?« drängte Thinker, der sich jetzt aufraffte und die geballten Fäuste auf den Diwan gestützt zu mir emporsah.
»Keine sehr günstigen Nachrichten!« sagte ich vorsichtig.
»Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Was sagt er?«
»Wollen Sie das Schreiben wörtlich übersetzt haben?«
»Halten Sie mich für ein Weib? Bitte, Wort für Wort!«
Es war vielleicht das beste. Ich übersetzte den kurzen Brief ohne Auslassungen und Zutaten. Joe begrub sein Gesicht in den Händen. Er saß vor mir wie ein gebrochener Mann. Zum Glück kennen nur wenige Menschen das Gefühl, das uns beim Erwachen aus einem zwanzigjährigen Traum erschüttern mag.
»Nehmen Sie die Sache nicht allzu schwer!« sagte ich nach einer langen Pause. »Wegen eines Stücks Papier stürzt die große Pyramide nicht ein.«
Er antwortete nicht. Sein Kopf lag fast auf den Knien. Von Zeit zu Zeit schüttelte ein Krampf den ganzen Körper des bedauernswerten Mannes.
»Wer weiß, wie bald sich alles wieder ändern wird«, fuhr ich in meinen nutzlosen Tröstungen fort und legte meine Hand auf seine Schulter. Das hilft manchmal ein wenig.
»Wehe dem Mann!« stöhnte er jetzt leise zwischen die Finger, »wehe dem Mann, der sich auf Fürsten verläßt, und nennet Fleisch seinen Arm, und – und –«.
»Lieber Herr Thinker, bedenken Sie, wir sind in Ägypten«, unterbrach ich sein Stottern. »Beobachten Sie die Nilufer. Hier ist der Wechsel das einzige Bleibende.«
»Und mit seinem Herzen von dem Herrn weichet!« rief er, zornig auffahrend, indem er sich, wie in wilder Reue mit den Fäusten auf die Knie schlug.
Fast im gleichen Augenblick hörte ich ein scharfes Zischen hinter mir.
»Pst, pst! Herr Eyth! Pst!«
Ich wandte mich um. Die schwarze Tür hatte sich ein wenig geöffnet. In der Spalte erschien das Gesicht Walkers. Hatte ihn der Anblick Joes so erschreckt, oder war heute jedermann aus Rand und Band?
»Bitte kommen Sie herein«, sagte er hastig und halblaut. »Auch Herr Thinker. Aber schnell!«
Wir folgten dem Winke rascher als es unter gewöhnlichen Umständen geschehen wäre. Alles schien von einer neuen Art von Fieber ergriffen zu sein. Ich hatte das Gefühl, als ob jede Minute eine weitere erstaunliche Überraschung bringen müßte, und mein Gefühl täuschte mich nicht.
Es dauerte eine kleine Weile, bis wir uns an das Halbdunkel in dem weiten düsteren Raum gewöhnt hatten. Dann aber packte mich ein wirklicher Schrecken. Auf dem Diwan, auf dem der Vizekönig zu sitzen pflegte, lag ein Mann in Hemdsärmeln, mit aufgerissenem Hemd, den Kopf auf einem Kissen, das Gesicht blaurot. Der rechte Arm war bis an die Schulter entblößt und hing schlaff auf den Boden herab, wo ein großes messingenes Becken stand. Ein dicker schwarzer Blutstrom rieselte über den Arm. Zwei Leute – der armenische Sekretär und der englische Konsulatsdragoman – schienen den Besinnungslosen festzuhalten.
Im ersten Augenblick fuhr mir eine entsetzliche Vermutung durch die Glieder: Hatte ich die peinliche Ehre, einer echten orientalischen Tragödie beiwohnen zu müssen? Das düstere Zimmer, der Diwan des Paschas, der besinnungslose, blutüberströmte Mann – alles stimmte. Doch nein – es war nicht der Vizekönig, der dort lag; es war Ben Thinker.
Joe stürzte auf seinen Bruder zu, kniete vor dem Diwan nieder, richtete den Kopf auf, der hilf- und leblos hin- und herwackelte und drückte seine Lippen auf die Stirn des Ohnmächtigen.
»Das Blut fließt herrlich«, flüsterte mir Walker zu. »Ich glaube nicht, daß es zu Ende geht.«
»Aber wie kam das alles?« fing ich an zu fragen.
»Was weiß ich«, versetzte der Zahnkünstler. »Ein wahres Glück, daß sie mich gefunden haben, die Esel, und daß ich etwas mehr verstehe als Zähne ziehen. Als ich eintrat, glaubte ich, es sei alles vorbei.«
»Er lag schon hier, als Sie kamen?«
»Er lag auf dem Boden. Sie ließen ihn liegen, wie er gefallen war; doch hatten sie wenigstens so viel Verstand, nach mir zu schicken. Er soll einen großen Schrecken gehabt haben. Unsinn! Zuviel und zu dickes Blut hat er gehabt. Es ist ein Sonnenstich oder ein kleiner Schlaganfall. Da läßt sich helfen, wenn man beizeiten zugreift.«
Unser Retter hatte recht. Ben öffnete die Augen und atmete auf, wie wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Sein matter Blick fiel auf seinen Bruder. Er wandte ihn unwillig ab. Dann starrte er auf ein weißes Papier, das mitten im Zimmer auf dem Boden lag. Mit einer heftigen Bewegung drehte er sich gegen die Wand, so daß sein Arm das Becken fast umgestoßen hätte.
»Es ist sowieso genug«, sagte Walker, der sein Verbandzeug gemächlich aufgerollt hatte. Damit trat er rasch zwischen die Brüder und begann in etwas gewaltsamer Weise die Wunde zu unterbinden.
Ich hob das Papier auf. Es war ein vizekönigliches Schreiben, ähnlich dem, das Joe erhalten hatte. In der Lage, in der ich mich den Thinkers gegenüber befand, machte es mir keine Bedenken, den offenen Brief zu überfliegen, während Walker und Joe um den Kranken beschäftigt waren. Er lautete:
Hochgeehrter Herr!
Im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit des Vizekönigs von Ägypten beehre ich mich, ergebenst mitzuteilen, daß Höchstdieselben es ablehnen, auf die von Ihnen angeregten Pläne einzugehen. Abgesehen von den enormen Summen, welche die Ausführung Ihres Projekts beanspruchen würde, glaubt Seine Königliche Hoheit es dem Lande, das zu beherrschen er berufen ist, sowie den Gefühlen des zivilisierten Europas schuldig zu sein, ein Monument, selbst wenn es nutzlos sein sollte, intakt zu erhalten, das so viele Jahrhunderte lang der Stolz und die Bewunderung der Welt gewesen ist. Die großen und mannigfachen Aufgaben, welche die Regierung Seiner Hoheit in Anspruch nehmen, werden ihm ohne Zweifel für immer verbieten, dem Projekt in der von Ihnen befürworteten Form näherzutreten. Genehmigen Eure Hochwohlgeboren den Ausdruck vorzüglicher Hochachtung, mit dem ich die Ehre habe zu zeichnen
Eurer Hochwohlgeboren sehr ergebener
Barott Bey
Ich hatte dies vermutet, fast gehofft. Nun hatte jeder der Brüder wenigstens den Horazschen Trost, einen Leidensgefährten zu besitzen. Vielleicht konnte uns dies über die nächsten schweren Tage weghelfen.
Nach einer halben Stunde fühlte sich Ben soweit besser, daß er, auf Joe und Walker gestützt, nach seinem Wagen gebracht werden konnte. Im Schritt wurde die Rückfahrt angetreten. Es sah aus, als ob wir mit einer Leiche von Schlachtfeld zurückkämen, denn Ben hatte einen zweiten Ohnmachtsanfall, ehe wir Shepheards Hotel erreichten. Walker, ein Heilkünstler der energischen Schule, hatte ihm vielleicht etwas zuviel Blut abgezapft. Während die anderen mit Hilfe der erschreckten Dienerschaft des Gasthofs den Kranken vorsichtig in sein Zimmer trugen, lief ich, trotz heftigen Widerspruchs von seiten Walkers, nach einem deutschen Arzt, der allerdings den Kopf bedenklicher schüttelte als der Dentist. Das aber, hoffte ich, gehört zum Handwerk und hat nicht viel zu bedeuten. Um so glänzender ist dann der Erfolg, wenn er nicht ausbleibt.
Müde und müßig nach dem vielbewegten Tag lehnte ich neben O'Donald über das Geländer der Shepheardschen Veranda und sah auf die leere mondhelle Straße hinab. Drüben über dem Weg, im Schatten der Sykomoren saß nur noch mein Sais, fest schlafend, die Zügel meines Pferdes um den Arm geschlungen, das weiß und gespenstisch aus dem Dunkel herüber schimmerte. Ich hatte mich nicht entschließen können, früher nach Schubra zurückzukehren. Bens Zustand hatte sich während des Nachmittags verschlimmert. Wenn es auch niemand aussprach; namentlich wir älteren Ägypter sahen mit ernster Besorgnis dem Abend entgegen. Ich wollte die Thinkers nicht alleinlassen, ehe man sehen konnte, wie sich die Nacht anlassen würde. Auch O'Donald, der beim ersten Alarmgerücht herbeigekommen war und ab und zu seine Ratschläge erteilt hatte, wollte die kritische Tageszeit abwarten.
An Pflege fehlte es dem Kranken allerdings nicht. Joe wich nicht von seiner Seite und hatte sogar den vizeköniglichen Brief, der ihm bewies, daß die Pyramide wenigstens vor unmittelbarer Zerstörung sicher sei, fast unwillig auf die Seite geschoben. Der junge deutsche Arzt schien überglücklich zu sein, einen interessanten Fall cerebraler Nervenerschütterung, verbunden mit übermäßigen Blutverlust und gastrischen Fiebererscheinungen behandeln zu können. Vor einer Stunde wurde zwischen ihm und Miss Thinker vor der Zimmertür des Kranken ein Zweikampf auf Leben und Tod ausgefochten. Sakuntala bestand darauf, ihren Onkel mit ihrem indischen Geheim- und Universalmittel zu behandeln. Der Deutsche sprach von lebensgefährlicher Quacksalberei. Sakuntala versicherte, daß das Mittel in der Familie ihrer Mutter seit Jahrhunderten Wunder verrichte. Und sie triumphierte schließlich mit Hilfe von Buchwald, der den übereifrigen Vertreter akademischer Wissenschaft zu einer Flasche Bier verlockte. Seitdem schlief Ben ruhig und man fing an, aufzuatmen. Joe und der Maler wollten abwechslungsweise die Nachtwache übernehmen. Ich hatte mich soeben von beiden verabschiedet und beabsichtigte, nach ein paar Minuten ruhigen Plauderns mit O'Donald, endlich den Heimweg anzutreten.
»Die unmittelbare Lebensgefahr scheint hinter uns zu liegen«, sagte ich zu dem Prokuristen, »aber es wird einige Wochen kosten, bis sich das alles entwirrt hat. Solch konfuse Tage wie heute und gestern habe ich zum Glück noch nicht häufig erlebt.«
»Es liegt alles klarer als Sie glauben«, antwortete O'Donald. »Das meiste hätte ich Ihnen schon gestern sagen können. Dann wäre der heutige Unfall vielleicht vermieden worden. Aber die Leute sind hierzulande nie zu finden, wo man sie braucht.«
»Die Abreise des Vizekönigs ist ein glänzender Beleg hierfür«, versetzte ich. »Das konnte wohl niemand ahnen.«
»Vor drei Tagen, nein«, gab O'Donald zu. »Vorgestern aber ist es Oppenheim und seinen französischen Freunden, dieser Bande von Intriganten, gelungen, den Abschluß des großen Anlehens an sich zu reißen. Als Hauptvorwand soll das riesige Zuckerfabrikenprojekt dienen, hinter dem Cail und eine Anzahl anderer Zuckerleute stehen. Wir hatten die größte Mühe, noch in letzter Stunde Smart, Coalville und ein paar weitere englische Firmen in die Kombination hineinzubringen. Sehen Sie jetzt etwas deutlicher?«
»Noch nicht«, sagte ich, teils weil es so war, teils weil ich noch mehr hören wollte.
»Zur Feinmechanik haben die Ingenieure offenbar kein Talent«, bemerkte O'Donald in seinem gewöhnlichen Ton trockenen Spottes. »Sehen Sie denn nicht: Damit war Ben Thinkers Wasserprojekt unnötig geworden. Auch Sadyk Pascha, der seine zehntausend Pfund in der Tasche hatte, wußte, daß ein Zuckerhut süßer ist als ein Glas Wasser. Wozu sich also weiter quälen, mochte er denken.«
»Aber die Abreise?« fragte ich. »Der Vizekönig fürchtete sich doch nicht etwa vor dem wackeren Ben.«
»Das kaum«, lächelte der Prokurist. »Die Reise nach Oberägypten gehört zu der Komödie, die man für die künftigen europäischen Gläubiger aufspielt. Unter den Augen des Paschas selbst werden die Ländereien in den Zuckerdistrikten besichtigt, der Boden untersucht, die Wasserverhältnisse geregelt werden. Man spricht von einem Kanal von Siut bis Bibe und nach dem Fayum. Mit den günstigen Ergebnissen dieser Untersuchungen wird sodann die Anleihe aufs verlockendste begründet, und Sadyk Pascha hat auf ein paar Jahre volle Kassen – Inschallah!«
»Ein geriebener Schwindel!« rief ich, ehrlich entrüstet.
»Nur nicht zu rasch, lieber Freund«, mahnte O'Donald. »Natürlich wird auch gepflügt und gepflanzt, es werden Fabriken gebaut und es wird Zucker gesotten werden. Daran brauchen Sie nicht zu zweifeln. Ja, wenn ich Ihnen Ihr Geld abnehmen wollte, würde ich eine schwere Wette eingehen, daß Sie dabei selbst mitpflügen, mitpflanzen und mitbauen werden, trotz des Schwindels, über den Sie sich so nutzlos entrüsten. Denn alles wird nicht verjubelt, vertanzt und verraucht werden, nur etwa die Hälfte. Das übrige dient dem Fortschritt und der Zivilisation, hoffen wir alle. – Was wollen Sie machen? Wollen Sie den großen Karren aufhalten, wenn er seinem Verderben zuläuft! Die wahre Kunst ist, abzuspringen, wenn es Zeit ist, ohne sich zu weh zu tun.«
»Ein überfeines Kunststück, das manchem mißlingen dürfte«, sagte ich, ärgerlich über den Zynismus dieser Geldmenschen. Aber war es wirklich so schlimm, wie es O'Donald malte?
»Und unter diesem Karren wurde auch unser armer Freund Joe zermalmt?« fragte ich weiter, nach einer Pause.
»Nein, dieser Karren wäre für ihn zu plump gewesen«, lachte O'Donald. »Aber etwas Ähnliches in kleinerem Maßstabe war es doch. Ich hörte es gestern Abend von Walker, der nachgerade die ganze vizekönigliche Sippe kennt. Unser Doktor hat sich sein Unglück – wenn es nicht sein Glück ist – selbst zuzuschreiben. Dreimal war der Hofastrologe – el Baggara heißt der gelehrte Herr – mit den besten Absichten bei seinem englischen Kollegen, um ihm anzudeuten, daß eine Zehnpfundnote jeden Traum des Vizekönigs zum besten zu wenden vermöge. Daß Thinkers Sache ins Gebiet der Träume schlage, war nämlich dem schlauen Baggara rasch deutlich geworden. Allein der Kollege aus dem Norden wollte nichts verstehen. So wurde der Hofastrologe schließlich ärgerlich, oder er sah, daß hier wirklich nichts zu erträumen war. Kurz, bei der nächsten Gelegenheit gab er dem Vizekönig eine solch erschreckende Auslegung eines harmlosen, vielleicht auf Plumpudding oder Camembert beruhenden Nachtgebildes, daß dieser in Joe Thinker und der großen Pyramide die Schlingen des leibhaftigen Iblis sah. So lange Ismael Pascha das Zepter über dem Niltal schwingt, ist für unseren wackeren Joe hier nichts mehr zu machen. Man muß übrigens ein grundgelehrter Herr sein, um sich sein Spiel in so gründlicherweise zu verderben.«
»Gute Nacht, O'Donald«, sagte ich, mich aufraffend. »Es ist eine ekelhafte Welt.«
»Einverstanden«, versetzte der Prokurist. »Kommen Sie gut nach Hause!«
Dreimal hatte ich zu rufen, ehe mein Sais erwachte. Stolpernd kam er mit dem Pferd über den Weg. Ich schwang mich in den Sattel, und halb schlafend langten wir alle drei nach einer Stunde, die wie ein dumpfer gestaltloser Traum an mir vorüberzog, in Schubra an.
Der Mond schien noch immer mit der alten Klarheit über Busch und Strauch. Die Grillen zirpten und die Frösche quakten. Und morgen – oder war es heute? – konnte ich meinen Baumwollpflug von Bulak erwarten.
Trotz allem: hier außen war das Leben noch zu ertragen.