Max Eyth
Der Kampf um die Cheopspyramide
Max Eyth

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23. Kapitel
Bittere Stunden

»Sie sind kein Kind, Herr Ben! Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, daß zehntausend Pfund kein Pappenstiel sind«, sagte O'Donald mit einem Gesicht, das seinen Freunden im Hotel Shepheard bis jetzt völlig unbekannt geblieben war. Daß der heitere, zu jedem törichten Streich aufgelegte Prokurist wie ein steinernes Rechenexempel aussehen konnte, war auch Herrn Ben unangenehm neu.

»Nein; denn Sie haben mir dies schon zehnmal gesagt«, erwiderte der letztere gereizt und auch er trug eine Miene zur Schau, die man nur in Augenblicken des völligen Mißglückens einer Erfindung bei ihm bemerkt hatte. »Übrigens sind es nicht zehntausend Pfund, sondern nur neuntausendachthundertdreißig. Über fünfzehnhundert kann ich verfügen, wie Sie sich gütigst erinnern wollen. Bleiben noch etwas über achttausend. Soviel muß ich aber morgen Vormittag haben oder – oder...«

»Was: oder? Diese ›Oder‹ verschaffen uns keinen Pfennig«, versetzte O'Donald. »Ich wollte, Sie könnten sich entschließen, Geschäftliches geschäftlich zu betrachten. Hätten Sie von Anfang an daran festgehalten! Wenn es in die Tausende geht, wird jedes Spiel ein Geschäft. Es ist nicht meine Sache, Ihnen Moral zu predigen; aber unbegreiflich bleibt mir, wie ein Mann in Ihren Jahren sich von einem Jungen so in die Tinte reiten lassen konnte.«

»Dann bleiben Sie mir unbegreiflich, Herr O'Donald!« war die trotzige Antwort. »Sie wissen, welche Ziele ich verfolge, und Sie wissen, daß ich auf dem rechten Weg bin. Es handelt ich um das größte Projekt unserer Zeit. Mit Osman und Sadyk verliere ich den Stützpunkt des Hebels, mit dem ich diese faule Welt aus den Angeln heben kann. Daß eine lumpige Summe von achttausend Pfund hierbei nicht in Betracht kommen darf, sollte jedes Kind einsehen.«

»Verehrter Freund«, versetzte der Prokurist ruhig, »es sitzen hierzulande so viele Tauben auf den Dächern, nach denen die Leute mit Pfunden werfen, daß wir, die wir uns mit den Sperlingen in der Hand begnügen müssen, dem Spiel mit einiger Zurückhaltung zuzusehen pflegen. Übrigens haben wir den ganzen kühlen Abend vor uns; verbittern wir uns das Dasein nicht zwecklos. Erzählen Sie mir lieber einmal Schritt für Schritt, wie Iblis, der Satan der Araber, einem so vortrefflichen Christen zehntausend Pfund abschwindeln konnte.«

»Achttausend!« wiederholte Ben hartnäckig und begann, in Nachdenken versinkend, an dem Strohhalm zu saugen, den er kunstgerecht zwischen die Klümpchen seines geeisten Grogs gesteckt hatte. Es war eine berechtigte Beschäftigung am Abend eines in mehr als einer Beziehung schwülen Tages. Vor einer Viertelstunde hatte er zum drittenmal versucht, den Prokuristen in seinem Büro aufzusuchen und war ihm endlich unter der Tür des Zimmers begegnet, das er soeben verlassen wollte. Sie waren dann zusammen nach dem Garten des Café français gegangen und hatten sich in dessen schattigem Winkel an einem der Marmortischchen niedergelassen, um sich ungestört auszusprechen.

»Es war die einfachste Sache der Welt«, begann Ben nach einer längeren Pause. »Sie wissen, daß der kleine Effendi vom Spielteufel besessen, aber sonst ein gutartiges und aufgewecktes Bürschchen ist. Man muß die Welt nehmen wie man sie findet. Ich habe ihm seit Wochen gelegentlich eine Zehn-, eine Zwanzigpfundnote zugesteckt, wenn er auf dem Trockenen war. Dafür versprach er hoch und heilig, mir bei seinem Papa die Wege zu ebenen und tat es wohl auch, so weit er konnte.«

»Wir wollen dies annehmen!« warf O'Donald verächtlich ein.

»Selbst gespielt habe ich an den Tischen der Esbekiye natürlich nie. Die Kinderei hat für mich nicht den geringsten Reiz, was Sie mir wohl glauben werden. Auf der Gesira hatte die Sache wenigstens ein anderes Aussehen. Es ging dort alles in der anständigsten Weise zu; man fühlte sich unter Gentlemen. Mehr noch: man fühlte, daß der Vizekönig die Tische aus Liebenswürdigkeit für seine Gäste hatte aufstellen lassen und die Gäste spielten aus Liebenswürdigkeit für den Vizekönig. Es war die Gastfreundschaft des Orients ins Europäische übersetzt.«

»Die Übersetzung gelang!« spottete der Prokurist; doch Ben ließ sich nicht unterbrechen.

»Ein englischer Oberst an meiner Seite gewann ein halbes Vermögen. Osman natürlich spielte wie gewöhnlich, nur doppelt und dreifach so hoch. Er hatte mich bald trocken gesaugt. Dafür hatte er mir eine Stunde zuvor seinen Papa vorgestellt, der mich lachend vor seinem mißratenen Früchtchen warnte. Bei Georg, der intelligenteste Araber, dem ich bis heute begegnet bin! – Um den Jungen bei guter Laune und über Wasser zu halten, versuchte ich zum erstenmal mein eigenes Glück. Das ging anfänglich vortrefflich, dann in schwankender Weise auf und ab. Man gewöhnt sich rasch an die großen Summen, die wie Spielmarken hin und her fliegen und verliert das Gefühl für die Bedeutung von hundert und von tausend Pfund. Dann wurde es heiß. Man wird durstig; man trinkt, und der Vizekönig hatte, wie Sie wissen, auch hierfür aufs beste gesorgt. Mein Nachbar, der Oberst, wurde schläfrig und entfernte sich mit ein paar tausend Pfund, als ihm das Glück den Rücken zu kehren begann. Uns blieb das Unglück treu und wir blieben wach. Gegen Morgen stellte mich Osman Effendi dem Bankhalter vor, einem Baron de Charbonel –«

»Dem Kammerdiener und Hofmeister Sadyks! Bei Zeus, ein netter Baron!« bemerkte O'Donald, die Nase rümpfend.

Ben fuhr eifrig fort:

»Die Bank nahm nun in entgegenkommendster Weise meine Bons für bares Geld: Papierzettelchen, mit Bleistiftnotizen, zahlbar auf Ehrenwort, drei Tage nach Ausgabe. Und als der erste Sonnenstrahl in den Kiosk fiel und der Deckel des Roulettes mit seinem ewigen ›Rien ne va plus‹ zum letztenmal zuklappte, war ich für Osman dreitausend und für mich siebentausend Pfund schuldig.«

»Macht, wie mir scheint, doch volle zehntausend«, lachte O'Donald grimmig.

»Meinetwegen!« rief Ben, ebenso zornig. »Morgen muß ich sie haben, wenn diesen Türken gegenüber mein guter Ruf und meine Leistungsfähigkeit und alles was dazu gehört, das großartigste Stauwerk der Welt zu sichern, nicht in die Brüche gehen soll. Nun helfen Sie! Sie müssen mir helfen, O'Donald!«

»Sie beurteilen die Lage der Dinge bezüglich des Stauwerks richtig genug, fürchte ich«, entgegnete der Prokurist mit unerschütterlicher Ruhe. »Man erzählte sich schon gestern in der Stadt, daß die Spieltische auf der Gesira eine Erfindung Sadyks gewesen seien. Seitdem Sie mir sagten, wer der Bankhalter war, bin ich dessen sicher. Sadyk war nicht bloß der Erfinder, er war wahrscheinlich auch der Unternehmer und Eigentümer des Roulettes. Sie sind Ihre zehntausend Pfund dem Pascha schuldig und niemand anderem. Dann allerdings können Sie das Sümmchen als Pflastergeld für ihr Stauwerk ansehen. Damit liegt es aber noch nicht auf dem Tisch.«

»Ihre Handelsgesellschaft kann mir jeden Augenblick die zehnfache Summe ins Hotel schicken«. sagte Thinker gepreßt.

»Seien Sie kein Kind!« mahnte O'Donald ungeduldig. »Wir behandeln in unseren Büros Hundertpfundnoten nicht wie Spielmarken. Ich selbst bin keineswegs Herr über die Kasse und den Kredit der Gesellschaft. Was ich mache, muß ich schwarz auf weiß verantworten können; in diesem Punkt verstehen meine Direktoren keinen Spaß. Sie brachten uns einen Kreditbrief, der Sie ermächtigt, zweitausend Pfund zu erheben. Auf Grund desselben hat Ihnen unser Haus in Alexandrien fünfhundert Pfund ausbezahlt. Somit können Sie morgen fünfzehnhundert Pfund holen lassen, leider aber keinen Pfennig mehr. Ich telegraphiere für Sie auf meine Kosten – bitte zu beachten, welch' gutmütiger Kerl ich bin und wie lieb ich Ihr Stauwerk habe – an Ihre Londoner Bank. Dort liegen für Sie noch dreitausend Pfund; mehr nicht.«

»Das ist leider annähernd richtig«, bestätigte Ben kleinlaut. »Mein kontinuierlicher Patentziegelofen hat ein unsinniges Geld verschlungen, bis ich ihn aufzugeben wagte.«

»Sie sehen also, Herr Thinker«, fuhr O'Donald fort, »es ist mir als Prokurist der Ägyptischen Handelsgesellschaft einfach unmöglich, Ihnen zehn- oder auch nur achttausend Pfund morgen ohne weiteres vorzustrecken. Eine Unmöglichkeit muß man seinen besten Freunden nicht zumuten.«

»Aber ich muß das Geld haben! Sehen Sie dies denn nicht ein? Ich muß es haben!«

»Ja, wenn Sie Ihr Herr Bruder wären!«

»Wieso?«

»Er übergab uns von Baring Brothers einen Kreditbrief ohne jede Beschränkung. Auf Grund eines solchen Dokuments könnte ich Ihnen jede Summe auszahlen.«

»Natürlich!« sagte Thinker bitter. »Joe hat ohne Zweifel einen völlig nutzlosen Haufen Gold in seiner Bank liegen. Er hat nie einen kontinuierlichen Ziegelofen gebaut.«

»Und wird sicherlich nie einen bauen«, lachte der Prokurist. »Das wissen die Barings und brauchen deshalb mit seinen Kreditbriefen nicht so vorsichtig zu sein. Wenn Herr Joe für Sie bürgen wollte, wäre uns mit einem Schlag geholfen.«

»Was?« rief Ben aufspringend und den Stuhl umwerfend.

»Bleiben Sie sitzen!« mahnte O'Donald. »Ich sage: wenn Ihr Herr Bruder mir ein Blättchen Papier einhändigte, mittels dessen er sich verpflichtet, für die Ihnen eingehändigte Summe gutzustehen, könnte ich Ihnen das Geld morgen früh auszahlen.«

Ben antwortete nicht, richtete seinen Stuhl vorsichtig wieder auf und setzte sich.

»Er ist mein leiblicher Bruder«, sagte er nach einer langen Pause.

»Ja; und soviel ich weiß ein herzensguter Herr«, meinte O'Donald.

»So weit sein armer Kopf es erlaubt«, versetzte Ben seufzend. »Wenn er ahnte, wozu ich das Geld brauche, würde er sich die Hand abhauen, ehe er den Zettel unterschriebe.«

»Es käme auf einen Versuch an«, sagte der Prokurist. »Er liegt schwach und krank im Hotel. Sie wissen von dem unerklärlichen Unfall, der ihn gestern betroffen hat. Es wäre sowieso Ihre Pflicht, ihn zu besuchen.«

»Ich versuchte dies schon heute vormittag, aber er ließ mich nicht vor. Unsere Beziehungen sind leider Gottes etwas getrübt.«

»Solche Zeiten sollten dazu dienen, die Luft zwischen Brüdern zu klären«, mahnte O'Donald. »Es ist nicht meine Sache, mich in Ihre Familienangelegenheiten zu mischen, Herr Thinker; noch weniger, in Ihrem großen Pyramidenstreit Partei zu ergreifen. Diese Dinge verstehe ich glücklicherweise nicht. Aber es macht mir Spaß, Ihnen und ihm behilflich zu sein, wenn es sich ohne Schwierigkeiten tun läßt. Und nun könnten Sie sich gegenseitig einen wirklichen Dienst tun, wenn Sie wie vernünftige Menschen handeln wollten.«

»Er wird sich eher die Hand abhauen«, wiederholte Ben mit neuerwachendem Grimm.

»Er hat vorläufig genug mit seinem Bein zu tun«, meinte O'Donald. »Wie wär's, wenn wir's versuchten?«

Er stand auf und schlug entschlossen die Richtung nach Shepheards Hotel ein. Zögernd, mit tiefgesenktem Kopf, wie er noch nie in seinem Leben gegangen war, folgte ihm Ben Thinker. Es war ein saurer Gang.

 

Schon seit einer Stunde saßen wir, Buchwald und ich, in einer Fensternische des Zimmers, in dem sich der Maler als ständiger Krankenwärter seines invaliden Freundes festgesetzt hatte. Joe Thinker war endlich, nach einem unruhigen Nachmittag, leicht eingeschlummert und lag, das wohlverbundene Bein auf der Decke, unter seinem Moskitozelt. Ein in der Nähe des Hotels wohnender junger arabischer Arzt französischer Schule hatte schon vor Sonnenaufgang eine gründliche Untersuchung des Falls vorgenommen, bedenklich den Kopf geschüttelt, da keine gebrochenen Gliedmaßen zu entdecken waren, eine nicht ungefährliche Verstauchung des linken Fersen festgestellt, Eisumschläge und absolute Ruhe angeordnet und ein leichtes Fieber vorhergesagt, das bereits eingetreten war. Ich hatte gegen Mittag durch meinen Sais mit der täglichen Post auch in Schubra die Kunde erhalten, daß ein englischer Gelehrter vom Dach des Hotels du Nil gestürzt sei und den Hals gebrochen habe. Ernstlich um Thinker besorgt war ich deshalb, sobald es Dampfpumpen und Dampfpflüge erlaubten, nach Kairo geritten, wo mich Buchwald halb ernst, halb verlegen empfing. Er wußte selbst noch nicht, wie alles zusammenhing. Es war während des Tags zu keiner offenen Aussprache gekommen. Der Maler hatte taktvoll jede Erörterung vermieden, die seinen Freund unangenehm hätte berühren können, und widmete sich mit Geschick seinem Samariterberuf. Daß das Fieber im Steigen war, konnte er natürlich nicht hindern.

Es war in dem Zimmer zum Ersticken heiß geworden, obgleich es gegen Nordosten und den kleinen Hotelgarten gelegen war. Seit dem späten Nachmittag standen die großen Fensterflügel weit offen, um den ersten Hauch der Abendluft zu fassen. Wir hatten beide die Röcke abgeworfen und saßen uns gegenüber, den Rücken gegen die kühle Mauerwand gedrückt, auf der Fensterbrüstung und genossen, nach Art alter guter Freunde, ebensosehr die kurzen Bemerkungen, die wir uns zuwarfen, als die langen Pausen, die sie unterbrachen.

»Man sollte es nicht glauben, daß das alte Ägypten so vieler Unruhe fähig ist«, sagte Buchwald mit einem kleinen Seufzer. »Es ist die erste ruhige halbe Stunde, die ich seit drei Tagen finden konnte.«

»Ich habe bald vier Jahre dieser Art hinter mir«, versetzte ich, »aber man gewöhnt sich an alles.«

»Und doch verstehst du es, wie mir scheint, der Unruhe aus dem Weg zu gehen. Niemand sah dich beim großen Fest auf der Gesira. Ich suchte dich überall. Zuletzt kam ich auf den Gedanken, du dürftest, als Dampfmaschine verkleidet, mitgewirkt haben.«

»Du suchtest mich nicht allzu eifrig, soweit ich aus deinem lückenhaften Bericht schließen kann«, entgegnete ich. »Übrigens war niemand von Schubra dort.«

»Warum?«

»Staatsgeheimnis. Das heißt – Staatsgeheimnisse gibt es eigentlich hierzulande nicht. Jedermann weiß alles, und mehr. Um was es sich hier handelt, wird in einigen Monaten der ganzen Welt bekannt sein, fürchte ich. Der Vizekönig sucht Halim Pascha an die Wand zu drücken. Äußerlich ist die Freundschaft noch groß. Das wird solange dauern, bis Ismael mit dem nächsten Thronerben, mit Mustapha Pascha, fertig ist. Dann aber kann es mit jedem Tag zum Krachen kommen und ich glaube, Halim möchte dem Vizekönig andeuten, daß er nicht blind ist.«

»Dich gehen aber diese Dinge nichts an.«

»Nein. Aber ich stehe, wie du weißt, mit Herz und Hand auf Halims Seite und die falschen Salaams sind mir zuwider. Ich gehe ihnen aus dem Weg, wenn ich kann, was freilich nicht immer möglich ist. In den nächsten Tagen habe ich dem Vizekönig meine Reverenz zu machen.«

»Du? Davon hast du mir nie erzählt.«

»Es ist von keiner Bedeutung und spinnt sich in ägyptischer Weise schon seit Monaten hin. Vorigen Sommer fiel es Effendini ein, daß ein Vizekönig auch als Erfinder glänzen sollte. Du weißt natürlich nichts von ägyptischen Noraks, Dreschvorrichtungen, wie sie seit dreitausend Jahren am Nil üblich sind und auch von Salomo und Hiob gebraucht wurden. Sie arbeiten langsam wie die Mühlen Gottes, aber dreschen nicht nur das Korn aus, sondern zermalmen auch das Stroh, so daß es für Kamel und Esel genießbar wird. Davon haben die englischen Dreschmaschinen, die man hier einzuführen versucht, keinen Begriff. Das Stroh, das diese liefern, verachtet das Kamel, denn es zerreißt ihm das Maul und der gewissenhafte Esel berührt es nicht, weil er es für ungedroschen ansieht. Nun kam der Vizekönig auf den glänzenden Gedanken, die langsam mahlende Weisheit des Morgenlandes mit der dampfgetriebenen Behendigkeit des Abendlandes in einer Weise zu vereinigen, daß die Dreschmaschine der Zukunft in gleichem Maße dem modernen Menschen und dem altertümlichen Kamel zusagen sollte. Gesagt, getan. Das heißt, nach einem Versuch, der zum Erstaunen Seiner Hoheit jammervoll mißglückte, wurde ich ihm von Halim-Pascha als künftiger ägyptischer Hof- und Staatserfinder vorgestellt und gnädigst beauftragt, die Erfindung des Vizekönigs aus dem Reich der ungeborenen Gedanken in das der rauhen Wirklichkeit zu überführen, mit der ausdrücklichen Weisung, mich nicht allzustreng an den ursprünglichen Plan zu binden. Letzteres darf ich als das Wesentliche der Idee des Vizekönigs bezeichnen und habe nun seitdem in aller Ruhe in diesem Sinne weitergearbeitet. Meine Pläne sind fertig und meine Absicht ist, sie dem hohen Erfinder vorzulegen, womöglich ehe der Streit zwischen Schubra und der Gesira in hellen Flammen ausbricht.«

»So kommst du mit dem Vizekönig in persönliche Berührung?« fragte Buchwald, sichtlich, aber erfolglos bemüht, einen Hintergedanken zu verstecken.

»Nicht häufig und nur oberflächlich, natürlich: Wenn er etwas erfinden will.«

»Und könntest vielleicht unserem Freund dort drüben auf seinem dornenvollen Weg ein wenig weiterhelfen?«

Ich hatte erwartet, daß dies kommen werde, denn ich wußte, Buchwald gehörte mit Leib und Seele zur Pyramidenfamilie, wenn er mir auch noch nicht anvertraut hatte, wie sehr. Doch auch dies sollte kommen. Der Balsam der Abendluft, die Stille des Krankenzimmers, das Stündchen, in dem wir den harmlosen Plauderton unserer alten Freundschaft wiedergefunden hatten –: all das begann zu wirken.

»Soweit geht mein Einfluß in den allerhöchsten Kreisen kaum, trotz aller Dreschmaschinen«, entgegnete ich auf seine Frage vorsichtig. »Mit Halim aber habe ich vor etlichen Tagen über die Phantasien Thinkers gesprochen und – merkwürdig genug – Halim, ein kühler berechnender Kopf im Alltagsleben, macht Miene, die Theorien unseres Freundes ernst zu nehmen. In altarabischen ägyptischen Kreisen habe man vor Jahrhunderten ähnliches ausgeklügelt. Zumindest machte er keine Anstalt, auf den Kopf zu stehen und sich mit den Beinen zu verwundern, wie es ein normal angelegter Europäer getan hätte.«

»Siehst du!« rief der Maler erfreut. »Unser guter Thinker verdient jedenfalls milder beurteilt zu werden, als du zugeben willst.«

Ich nickte: »Zumindest solange er wie ein Märtyrer seines Glaubens hier liegt. Bedenklich und bedauerlich ist mir nur, daß er dich einzuspinnen droht. Für schwache Geister – schwach in Wahrscheinlichkeitsberechnungstheorien, in mathematicis im allgemeinen – sind seine Schlüsse das reinste Opium.«

»Schwach!« lachte Buchwald, mit der Miene reinster Glückseligkeit, wie ich sie in diesem Grade noch nie aus seinem ehrlichen Gesicht hatte strahlen sehen; »schwach! Ich fühle mich wie ein Riese, dir, der ganzen Menschheit gegenüber. Armer Eyth! Wie maulwurfsblind die Weisen dieser Welt doch manchmal sind. Ich könnte seit gestern die große Pyramide ohne Schwierigkeit umreißen und ans Herz drücken, so stark fühle ich mich. Auf ihrem Gipfel fing ich an, zu erstarken.«

Er sprach lauter, als in einem Krankenzimmer neben dem Bett eines Schlafenden nötig war und ich gestehe, ich erschrak ein wenig. In der Aufregung dieser letzten Tage schien mir etwas mit den Gehirnorganen meines Freundes schiefgegangen zu sein.

Doch nun, zögernd, stückweise, kam es allmählich zutage: das erste Wiedersehen in der Königskammer, die Geschichte auf der Pyramidenspitze, der kleine Kiosk, die Märchenschlacht und die schwimmende Lotusblume. Es war ihm nicht ganz wohl beim Erzählen. Er versicherte mir zehnmal, daß, wenn sie wüßte, welch guter Kerl ich wäre – ich nickte zustimmend –, sie mir dies alles selbst sagen würde. Etwas zurückhaltender hätte er allerdings sein können. Allein sein volles Herz konnte all das Glück nicht mehr fassen und so wurde ich auf jenem Fenstersims in Shepheards Hotel der erste Vertraute des großen Geheimnisses. Daß mir dabei ein leiser scharfer Stich durchs Herz ging, war beschämend. Doch ging dies vorüber und nur noch ein- oder zweimal spürte ich in den nächsten Tagen ein Zucken, wie in einer kleinen halbvernarbten Wunde. Tief kann sie nicht gewesen sein, sagte ich mir, wohl mit Recht.

Er war noch mitten im Erzählen, als vorsichtig an der Türe geklopft wurde und fast gleichzeitig der weiße Schädel des schwarzen Boabs durch die Türspalte drang. Er hielt uns zwei Karten entgegen und fragte, ob die Herren eintreten könnten. Joe war gleichzeitig aus seinem Schlaf erwacht und rief, ohne an seinen Fuß zu denken, wie er es in gesunden Tagen getan haben würde: »Natürlich; ja wohl!« Buchwald betrachtete die Karten. Wir hatten O'Donald und Ben Thinker zu erwarten.

Der Doktor hatte seinen Moskitovorhang weit aufgeschlagen, machte aber einen entschlossenen Versuch, ihn wieder zu schließen, als er hinter O'Donald die Gestalt seines Bruders auftauchen sah. Der Prokurist bemerkte die Bewegung jedoch rechtzeitig, schüttelte dem Kranken mit der Rechten lebhaft die Hand und befestigte gleichzeitig das Netz mit der Linken in einer Weise, die ein ähnliches strategisches Manöver für die nächste halbe Stunde unmöglich machte. An Gewandtheit und Kaltblütigkeit in allen Lebenslagen gebrach es O'Donald nicht.

»Es freut mich, Sie so munter zu sehen, lieber Herr Thinker«, rief er fröhlich. »Man sieht es Ihnen schon jetzt an, daß der kleine Unfall Ihre gewohnte Beweglichkeit nicht lange stören wird. Sie sind ein merkwürdiger Glücksvogel, eins ins andere gerechnet.«

»Sie sind ein merkwürdiger Optimist«, versetzte Joe mit einem sauern Lächeln. »Aber Sie waren mir ein guter Freund in der Not; das werde ich Ihnen nicht vergessen, wenn wir auch in andern Dingen manches anders ansehen mögen. Was stellen Sie sich unter einem Glücksvogel vor?«

»Na, zum Beispiel einen gelehrten Herrn, der in der Dunkelheit von einem Waschhausdach schießt und den Hals dabei nicht bricht«, antwortete O'Donald ernsthaft, ohne die tiefe Falte zu beachten, die auf Joes Stirne entstand. »Da Sie meine wohlgemeinten Glückwünsche heute Vormittag nicht anzunehmen geruhten, so versuche ich mein Glück heute abend zum zweitenmal. Daß sich hierbei Ihr Herr Bruder anschließt, ist unter den interessanten Umständen, in denen Sie sich befinden, nicht mehr als Christenpflicht, hoff' ich.«

»Er ist unverbesserlich, dieser Prokurist«, sagte Ben etwas kleinlaut, indem er an das Bett trat und Joes freie Hand ergriff. »Aber er hat recht, Joe, trotzdem. Wir sind und bleiben schließlich Brüder. In einem wildfremden Land, wenn uns unverdientes Unglück niederdrückt, denken wir eher daran, wo wir unsere natürliche Stütze suchen sollten.«

»Ich habe das nie vergessen, Ben«, versetzte der Doktor mit einem schmerzlichen Zucken um den Mund. »Wir wären uns nicht so fremd geworden, wenn du dich manchmal des Geistes erinnert hättest, den unser guter Vater in uns zu wecken sich bemühte. Ach Ben! Es waren schöne Zeiten am Loch Mulardoch. Du warst schon damals der Geschicktere, aber du versuchtest wenigstens nicht zu zerstören, was mir heilig ist.«

»Und du, Joe, wußtest damals noch nicht, daß du dich an Dinge klammerst, die des Zerstörens kaum wert sind; denn sie sind der Vernichtung geweiht, was wir auch tun mögen.«

»Wie meinst du das?« rief Joe Thinker und richtete sich auf, bereit, den Kampf zu beginnen. Doch Ben bezwang sich und fuhr fort:

»Und doch waren wir Brüder und freuten uns einer glücklichen Jugend unter einem Dach, an einem See, auf denselben unvergeßlichen Bergen. Wozu hat es geführt? Heute liegen wir beide samt unsern Lebensaufgaben in diesem verrückten Land, das du so wenig verstehst als ich, elend und hilflos am Boden.«

»Was – du auch?«

»Ich auch, ja. Schlimmer als du. Ich wollte, ich hätte dein Bein – das heißt – hm – ja – ich wollte, ich könnte dir helfen, wie du mir helfen könntest.«

Sobald O'Donald bemerkte, daß die Brüder sich in friedlicher Aussprache zusammengefunden hatten, zog auch er sich in die Fensternische zurück, in der Buchwald und ich der weiteren Entwicklung entgegensahen. Fast ungestört und ohne zu stören konnten wir hier, während die Abenddämmerung hereinbrach, unsere eigene Unterhaltung weiter führen, ohne außer acht zu lassen, was an dem Krankenbett vorging. O'Donald kam wie gewöhnlich nicht mit leeren Händen. Dem findigen Prokuristen war es bereits gelungen, den Schleier wenigstens teilweise zu heben, der die Geheimnisse der letzten Nacht verhüllte. Mit einem Gemisch von Entsetzen und Unglauben vernehmen wir, daß das Abenteuer des wackeren Doktors mit einem Besuch bei Madame Geraldine in Verbindung stand. Näheres zu erfahren sei noch nicht möglich gewesen, erklärte unser Gewährsmann und gab sich gleichzeitig redlich Mühe, uns zu versichern, daß ein unter ähnlichen Umständen nächstliegender Gedanke den Tatsachen sicherlich nicht entspreche. Dieser Ansicht schloß sich Buchwald sofort mit leidenschaftlicher Entschiedenheit an. Ich war leider mit den Wunderlichkeiten des Lebens schon allzu vertraut und glaubte mir schuldig zu sein, eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten.

Das Gespräch der Brüder zog sich in die Länge. Buchwald und ich faßten uns in Geduld und wunderten uns gelegentlich, weshalb der Prokurist seinen ruhelosen Blick mit so gespannter Aufmerksamkeit nach dem Bett richtete. Dort war mit der zunehmenden Dämmerung die Unterhaltung immer leiser und zugleich lebhafter geworden. Buchwald zündete zwei Kerzen an, die auf dem Seitentisch standen. Es war, als ob das trübe flackernde Licht auch das flüsternde Gespräch neu belebte.

»Verspreche mir eins, Ben!« sagte soeben der Doktor heftig. Er saß auf die Ellbogen gestützt aufrecht im Bett und hielt die Hand seines Bruders krampfhaft fest.

»Ich kann nicht!« versetzte der andere mit schmerzlicher Entschlossenheit.

»Versprich mir, daß du deinen gottlosen Plan fallenlassen willst«, fuhr Joe fort. »Dann unterschreibe ich, was du mir vorlegst, ohne zu fragen. Kannst du denn nicht sehen, daß es zu deinem eigenen Heil dient, was ich verlange? Versprich mir wenigstens, daß mein Geld nicht dazu dienen wird, das entsetzliche Projekt zu fördern, das dir der leibhaftige Satan vorgespiegelt haben muß.«

»Wie kann ein Mensch wissen, wozu Geld dient, das er nicht mehr sein eigen nennen kann?« fragte Ben. »Mute mir keine Unmöglichkeiten zu. Sage kurz und bündig, daß du dich weigerst, deinen einzigen Bruder aus einer schmachvollen Lage zu befreien, was du mit einem Federstrich tun könntest. Sage mir, daß dir die Ehre unseres Namens ein solches Opfer nicht wert sei, daß du die phantastischen Träumereien, die du dir vormalst, höher anschlägst als das einzige, was uns unsere Eltern auf den Lebensweg mitgeben konnten. Denn daß es sich hier um unseren guten Namen handelt, Joe, habe ich dir hoffentlich deutlich gemacht.«

»Aber, im Namen von allem, was uns heilig ist, wie konntest du dich – uns – in eine solche Lage bringen?«

»Kann ich dir das erklären, wenn du es noch nicht begriffen hast? Glaubst du nicht, daß auch ich meine Ziele, meine Ideale habe, für die ich Opfer zu bringen bereit bin, für die ich Hab und Gut und das lumpige Leben einsetzen könnte, so gut wie du? Wenn ich zu weit ging – glaubst du, ich mache mir nicht selbst Vorwürfe genug? Aber ohne zu wagen, bleibt jedes Ideal ewig ein leerer Schall, und wenn das Wagnis mißglückt, sind wir die unglücklichen Narren, die verdienen, zugrunde zu gehen. Ja, so ist es! Unsere eigenen Brüder sind dann gewöhnlich die ersten, uns versinken zu lassen. Schön ist es nicht, Joe; ideal gedacht ist das nicht.«

Sie hatten laut und erregt gesprochen. Um so eindrucksvoller war die kurze Pause, die auf Bens Worte folgte.

»Gib mir die Tinte«, sagte jetzt der Doktor, kurz und tonlos.

O'Donald schien auf etwas dieser Art gewartet zu haben. Er hatte schon seit Minuten das Auge auf das Tintenfaß gerichtet, das auf dem Seitentisch zwischen den zwei brennenden Kerzen stand. Rasch ging er auf den Tisch zu, zog gleichzeitig ein Notizbuch aus seiner Tasche und entfaltete einen kleinen Zettel, der in demselben lag. Dann bot er Joe die eingetauchte Feder und überlas, gegen den Kranken gewendet, das Papier halblaut:

»Ich, Joseph Thinker, von Pyramiden Villa, Sydenham, in Kent erkläre hiermit, daß ich für eine am 2. April 1865 von meinem Bruder Benjamin Thinker bei der Ägyptischen Handels-Gesellschaft zu erhebenden Summe von zehntausend Pfund hafte.«

Joe unterschrieb. O'Donald hielt den Zettel vorsichtig über eine der Kerzen, um die Unterschrift zu trocknen, und legte ihn wieder in seine Brieftasche, mit dem bewegungslosen Gesicht, das er in Augenblicken ernster Arbeit anzunehmen wußte. Ben drückte dem Doktor die Hand. Der ungewohnte Zug der Sorge, der den ersteren seit zwei Tagen nicht verlassen hatte, war verschwunden. Die alte, fast knabenhafte Fröhlichkeit wallte wieder auf, nur leicht gedämpft von einem Gefühl wirklicher Rührung, das er, nach englischer Art, so rasch als möglich zu unterdrücken suchte.

»Ich danke dir, Joe. Ich weiß was dich dies gekostet hat«, sagte er leise und ernst, den Bruder nochmals bei der Hand fassend. »Pflege dein Bein! Und wenn du eine lebendige Stütze brauchst, schicke nach Nummer achtzehn.«

Dann gingen sie; Ben voran mit elastischen Schritten, triumphierend, O'Donald, wie mir schien, fast etwas kleinlaut. Es war alles so schnell gekommen, daß wir uns ein wenig überlegen mußten, wo wir eigentlich waren.

 

Auch Joe Thinker schien diesem Bedürfnis Rechnung tragen zu wollen. Er war auf sein Kissen zurückgesunken und starrte mit weit offenen Augen nach der Zimmerdecke. Eine tiefe Traurigkeit lag auf seinem Gesicht. Wir hielten es für das beste, sein Nachdenken nicht zu unterbrechen, bis er selbst, ohne den Kopf zu bewegen, mit halblauter Stimme fragte, ob ich noch hier sei. Dann bat er mich, an seinem Bett Platz zu nehmen. Es schien ihm wehzutun, laut zu sprechen, und die hastige Art, wie er die Worte hervorstieß, zeigte deutlich, daß das Fieber im Zunehmen war. Die Bitte Buchwalds, doch lieber zu versuchen, ob er nicht schlafen könne, wies er mit einer ungeduldigen Bewegung zurück, so daß wir uns in das Unvermeidliche ergaben.

»Haben Sie meinen Aufsatz gelesen, Herr Eyth?« fragte er, indem er meine Hand ergriff und sie mit seinen langen feinen Fingern festhielt, als ob er jeden Augenblick fürchte, daß ich ihm entwischen könnte.

»Gewiß, Herr Thinker; und mit der Aufmerksamkeit, die eine so merkwürdige und gründliche Arbeit verdient«, war meine Antwort.

»Was denken Sie von der Sache?«

»Wenn die Zahlen richtig sind – wenn kein Irrtum in den Maßen –«

»Dies ist völlig ausgeschlossen«, unterbrach er mich hastig »Diese Zweifel habe ich durch den Aufsatz selbst unmöglich gemacht, wie sie mir zugeben werden, wenn sie ihn aufmerksam gelesen haben. Die Zahlen stützen sich nicht auf die Messungen von Leuten, die für unsere Auffassung voreingenommen sind. Wir beachten und berücksichtigen aufs sorgfältigste, was aus durchaus andern, ja aus feindlichen Quellen stammt. Feindlich darf ich wohl die französischen Gelehrten der Revolution und die in ihrem Antiquariatsmoder versunkenen Deutschen nennen. Alles, was wir zu diesem Zahlenmaterial beitrugen, ist die gewissenhafte Prüfung der älteren Angaben. Diese bestätigt in noch erstaunlicherem Grade, was schon in Letzteren mit mathematischer Folgerichtigkeit hervortrat: die Beziehungen zur Zahl π, zur Polarachse der Erde und zur Sonnenentfernung, zur Länge des Sonnenjahrs und zum spezifischen Gewicht der Erde, zum fünfundzwanzigtausendjährigen Kreislauf der Präzession der Tag- und Nachtgleichen und schließlich zur astronomischen Festlegung des Erbauungsjahrs der Pyramide. All das in einem unzerstörbaren Steingebilde aus einer Zeit, in der die Menschheit nach unsere gewöhnlichen Begriffen aus ihrer ersten Kindheit heraustrat. – Was denken Sie davon?«

»Was kann man viel denken, wenn uns ein Stein auf den Kopf fällt, er mag noch so fein gemeißelt sein?« fragte ich, in wirklicher Verlegenheit.

»Und wenn ich Ihnen sage, daß ich in dem Aufsatz nicht die Hälfte von dem angedeutet habe, was uns die Pyramide erzählt!« fuhr Thinker heftig fort. »Zum Beispiel: daß sich aus den haarscharfen Steinfugen in den dunkeln Gängen des wunderbaren Baus die Zeitgeschichte der Menschheit ablesen läßt, wie aus einem Buch. Mißt man mit dem Pyramidenmaßstab die Entfernung dieser Fugen vom Eingang bis in die Königskammer, weiß man, daß der Pyramidenzoll ein Jahr bedeutet, so finden wir mit einer Bestimmtheit, die uns schwindeln macht, die älteste wie die jüngste Vergangenheit aufgezeichnet. Keine Hieroglyphen, keine Keilschrift, keine Stenographie, keine Schreibmaschine kann deutlicher sprechen. Noah, Abraham und Moses, Nebukadnezar und Cyrus, die Gründung Roms und der Fall Jerusalems, Christus, der Mittelpunkt des Ganzen und unsere christliche Zeit mit all den großen Ereignissen, durch die Gott seine Menschheit ihrer Vollendung entgegenführt – und das Ende des irdischen Weltlaufs in drohender Nähe; so nah, daß etliche von uns den Tod nicht sehen werden, ehe der große Tag anbricht – all das enthält dieses Buch, das seit Jahrtausenden versiegelt vor uns lag. Was sagen Sie dazu?«

»Lieber Herr Thinker«, sagte ich, ihn sanft in seine Kissen zurückdrückend, »wenn ich vor einem schlechterdings unlöslichen Rätsel stehe – die Welt ist voll solcher Rätsel auch außerhalb Ägyptens, wenn sie uns auch nicht alle anstarren, wie dieses –, so pflege ich zu meinen Pflügen zu gehen, nehme dem Fellah das Steuerrad aus der Hand und pflüge ein paarmal auf und ab. Bricht dann eine Pflugschar ohne vernünftigen Grund oder reißt ein Drahtseil, so ist mir für den Tag geholfen. Auch ohne einen solchen Zwischenfall fühle ich mich zumindest beruhigt.«

»Sie sind wie die meisten, selbst von den Besseren«, seufzte der Doktor. »Sie kleben an der Erde. Sie haben nicht den Mut, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, demütig, gläubig; nicht den Mut zu erkennen, daß an dem Punkt, wo die eigene Weisheit versagt – und wie bald versagt sie – eine höhere Weisheit beginnen muß. Muß, sage ich. Denn wie könnten wir, wie könnte diese ganze Welt voll unlöslicher Rätsel sein, ohne sie? Der Gedanke ist undenkbar. Und daß diese höhere Weisheit nicht stumm sein kann, so taub wir sein mögen –«

Er hatte dies laut und aufgeregt gesprochen. Jetzt zog er mich zu sich herunter und flüsterte:

»– das ist's, was wir in der Pyramide erkennen. In diesem Bau hat die Weisheit des Höchsten zu uns gesprochen. Nur so ist das Geheimnis erklärlich. Er, von dem Salomo sagt: Du hast alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht. Auch was die altägyptischen und chaldäischen Sagen uns überlieferten, deutet darauf hin. Ein fremder Herrscher, den die Ägypter haßten, der ihre Tempel schloß und ihre Götzenbilder zerbrach, wie Herodot noch erfuhr, war das Werkzeug des Höchsten. Die Zeit, in der dieser Herrscher baute, waren jene heiligen Jahre, in denen in Chaldäa und Syrien auch Abraham die Offenbarungen Jehovas empfing; in denen Gott seiner Erde näher war als zu andern Zeiten. Und die Hand, die er im Lande Ägypten zu diesem seinem Meisterwerk gebrauchte, war keine andere als die Melchisedechs, des Freundes und Meisters Abrahams, des Friedefürsten und Priesters der Gerechtigkeit. Er war der Weise, unter dessen Führung die widerstrebenden Ägypter bauen mußten. Er war es, der die Prophetengedanken des Höchsten für uns in jene Steine schrieb, den Weisen ein Trost und eine Verheißung, den Unverständigen ein unvergängliches Mene tekel upharsin.

Und nun kommen die Tage, kurz vor dem Ende der Dinge, in der wir die heilige Schrift zu verstehen beginnen; auch die Zeit, in der die Mächte der Finsternis sich gewaltig emporrecken, um zu zerstören, was uns der Herr geschenkt hat. Gottbegnadete Männer, würdiger als ich, haben den Schlüssel des Geheimnisses gefunden. Ich ward berufen, nach Ägypten zu ziehen um mit schwacher Hand den heiligen Bau zu schützen, ich – ich!«

Er hatte sich aufgerichtet und ballte die Faust. Buchwald trat rasch ans Bett und hielt den Kopf des erregten Mannes mit beiden Händen. Das Fieber arbeitete jetzt heftig in dem erhitzten Blut.

»Beruhigen Sie sich, lieber Herr Thinker«, bat ich ihn. »Die Pyramide steht so fest wie je und wird noch Jahrhunderte stehen, verlassen Sie sich darauf.«

»Und wie jammervoll habe ich meine große Aufgabe vernachlässigt!« rief er, sich losschüttelnd. »In trägem Grübeln habe ich Jahre vergeudet, anstatt zu schauen und zu glauben. Die Feinde ließ ich Schritt um Schritt Boden gewinnen. Gestern habe ich in lächerlicher Verirrung meine Rettung gesucht und heute – guter Gott! jetzt erst sehe ich es mit voller Deutlichkeit. Meinem eitlen, weichlichen Gefühl folgend, habe ich dem Feind die Waffen in die Hand gegeben, mit denen er unser Heiligtum zertrümmern wird. – Nun liege ich hier, hilflos und verlassen. – Entsetzlich! – In wenigen Jahren, wenn der schreckliche Tag hereinbricht – und Er Rechenschaft von mir fordert und nach Seiner Pyramide fragt, werde ich zitternd bekennen müssen: Herr, ich war ein ungetreuer Knecht. Deine steinernen Worte liegen zerbrochen im Nil – um den Fluß zu stauen – um Baumwolle zu bauen – ich war unwürdig, ein Gefäß Deines heiligen Geheimnisses zu sein! – Helfen Sie mir! Retten Sie mich!«

Er wand sich in meinen Armen und versuchte aus dem Bett zu springen.

»Hole den Arzt, Buchwald, die Sache wird ernst«, sagte ich zu meinem Freund. »Ich denke, ich kann ihn solange halten. Wir müssen uns auf ein paar unruhige Stunden gefaßt machen. Mit der ägyptischen Nachtluft ist nicht zu spaßen.«

Buchwald ging. Der Arzt, Chinin, Eis – all das war schnell genug zur Stelle, aber eine lange, wilde Nacht wurde es dennoch.

Alles was in Thinker seit Jahren in dumpfer unklarer Gärung gewühlt hatte, brach wie ein Sturm aus ihm hervor: haarscharfe Schlüsse und tolle Hypothesen sprudelten über uns, tiefste Überzeugungen und wirre Herzenswallungen jagten einander, Sinn und Unsinn überstürzten sich. Wenn ich ein Kapitel mit Pyramidentollheiten füllen wollte, so brauchte ich nur die Vorkommnisse der nächsten Stunden zu Papier zu bringen. Doch meinte später Buchwald, meine Notizen enthielten schon jetzt eine genügende Menge brauchbaren Materials dieser Art, um einen aufmerksamen Leser leidlich verrückt zu machen. Er rate mir deshalb, auf die Schilderung jener Nacht nicht näher einzugehen. Er mag recht haben.

Gegen Morgen wurde der Doktor ruhiger und verfiel schließlich in einen tiefen Schlaf, aus dem er, wie mir mein Freund später erzählte, mit dem Gefühl erwachte, daß das Millenium noch nicht angebrochen, daß aber auch noch nicht alles verloren sei.


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