Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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8

Briscoe zeigte auf eine Nische in der dicken Wand, in die ein Fenster eingelassen war.

»Gehen Sie dorthin, dann können Sie alles unbemerkt mitanhören, was im Gastzimmer gesprochen wird. Das Fenster ist einen Spalt geöffnet. Wenn Sie den Vorhang ein wenig heben, können Sie auch hineinschauen. Gerade jetzt sind verschiedene Gäste da, und sie sprechen alle über die ausgesetzte Belohnung. Judah Clent ist der große, starke Mann mit den Goldringen in den Ohren.«

Blake fühlte sich etwas unbehaglich bei dem Gedanken, daß er den Lauscher spielen sollte. Aber da er sich nun schon so tief in das Abenteuer eingelassen hatte, kam er der Aufforderung des Wirtes nach und hob vorsichtig den Vorhang. Briscoe flüsterte ihm noch zu, daß er bald zurückkommen würde, und ging dann in die Gaststube.

Der niedrige, viereckige Raum nebenan war von Tabaksqualm erfüllt, der, vermischt mit dem Geruch von schalem Bier und Alkohol, durch die Öffnung auch zu Blake drang. Es sah nicht sehr gemütlich aus in dieser Gaststube. Der Fußboden war mit roten Ziegeln ausgelegt, die Tische und Bänke bestanden aus roh zusammengezimmerten Planken, und nur hier und dort stand einmal ein handfester Eichenstuhl. Von der Decke hing eine verräucherte Lampe herunter, und an den weißgetünchten Wänden waren eingerahmte Reklamebilder von verschiedenen Brauereien und Brennereien aufgehängt.

Vier Männer in rauher, dunkelblauer Seemannskleidung saßen in dem Raum, und es fiel Blake nicht schwer, Judah Clent von den anderen zu unterscheiden. Das Licht der Lampe fiel voll auf Judahs sonnenverbranntes Gesicht und sein wirres, ungekämmtes Haar. Sein Gesicht war von einem kurzen Seemannsbart eingerahmt. Er sah stattlich und stark aus, und seine Zähne glänzten weiß, wenn er lachte. Im Mittelalter hätte er einen prächtigen Piraten oder Freibeuter abgegeben.

Judah Clent hielt in der einen Hand ein Glas Grog, in der anderen eine Zigarre. Er redete auf die andern ein, als deren Herr und Führer er sich zu fühlen schien. »Wenn dieser junge Malvery tatsächlich hierher zurückgekommen ist, dann soll er sich nur in acht nehmen, daß er mich nicht trifft. Das kann ich euch nur sagen!«

»Ich glaube, du verstehst die Sache nicht richtig«, sagte ein älterer Mann. »Es heißt ja gar nicht, daß er hierher zurückgekommen ist. Er soll nur im vergangenen Februar dagewesen und dann verschwunden sein. Und die Belohnung soll der bekommen, der weiß, was aus ihm geworden ist.«

»Ja, so fasse ich es auch auf«, bestätigte ein anderer. Clent setzte sein Glas hin und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Habe ich vielleicht nicht dasselbe gesagt? Woher wollt ihr denn wissen, daß er sich zu dieser Stunde nicht in unserer Gegend herumtreibt? Gibt es in Marshwyke vielleicht nicht genug leere Häuser, wo er sich verstecken kann?«

Die anderen sahen sich schweigend an. Daran hatte noch keiner gedacht. Clent warf ihnen einen düsteren Blick zu.

»Alle Knochen im Leibe zerschlage ich ihm, wenn ich ihn erwische!«

»Sie werden sich noch in Ungelegenheiten bringen, Judah Clent, wenn Sie weiter so reden«, mischte sich der Wirt ein. »Es gibt einen Gesetzesparagraphen gegen Bedrohung. Halten Sie Ihre Zunge etwas im Zaum. Sie haben in den letzten Jahren dauernd solchen Unsinn geschwätzt, und wenn Sie so fortfahren –«

»In diesem Land kann jeder anständige Mann seine Meinung frei äußern. Ich werde doch wohl noch laut aussprechen dürfen, was ich denke!«

»Aber Sie dürfen das Leben anderer Leute nicht bedrohen!« erwiderte Briscoe. »Man hat noch nicht vergessen, was Sie früher über Mr. Richard sagten, und wenn er wirklich letzten Februar zurückkam und dann plötzlich verschwand, wird sich die Polizei wohl noch danach erkundigen, ob Sie nicht etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben.«

»Ja, Briscoe hat recht«, stimmte einer der Leute zu. »Für solche Sachen hat man ein gutes Gedächtnis, und es ist schon mancher durch seine Schwätzereien ins Unglück gekommen.«

Clent nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und setzte es dann energisch auf den Tisch zurück.

»Wenn ich den Kerl im vergangenen Februar oder später getroffen hätte, würde man die Spuren schon in seinem Gesicht sehen«, brummte er. »Aber es kann niemand ein Wort gegen mich sagen, denn im Februar und März war ich auf Fahrt in der Levante!«

Als Blake das hörte, spitzte er die Ohren. Wenn das stimmte, hatte Judah Clent also nichts mit dem Verschwinden Richard Malverys zu tun.

»Am 10. Februar bin ich von Shilhampton abgefahren«, fuhr Clent fort, »und ausgerechnet am 13. März bin ich wieder zurückgekommen. Wenn ihm also in der Zeit etwas passiert ist, dann habe ich leider nichts damit zu tun!«

Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann drehte sich ein älterer Mann plötzlich zu dem Wirt um. Briscoe warf einen Blick nach dem Fenster mit der roten Gardine, als ob er Blakes Aufmerksamkeit auf diesen Mann lenken wollte.

»Scheint mir doch merkwürdig«, begann der Alte, »daß dieser Mr. Richard hier gewesen sein soll, wo ihn jeder so gut kennt wie den Kirchturm von Brychester, und daß ihn niemand erkannt haben soll.«

Der Wirt blinzelte wieder zu dem seitlichen Fenster hinüber, und Blake verstand den Wink. Dieser Mann mußte einer von den beiden Leuten sein, die sich gleichzeitig mit Richard am Abend des 27. Februar in der Gaststube aufgehalten hatten.

»Ja«, erwiderte Briscoe. »Sie haben ihn ja wohl auch nicht gesehen.«

»Ich wünschte nur, ich hätte ihn gesehen! Die hundert Pfund könnte ich gut gebrauchen!«

»Können Sie sich nicht auf irgendeinen Fremden besinnen, der es gewesen sein könnte?«

»Nein, ich habe niemand gesehen.«

Judah Clent mischte sich wieder mit verächtlichem Ton in die Unterhaltung.

»Das ist doch ganz klar. Es war doch überhaupt niemand da, den er hätte sehen können. Auf dem Papier steht doch weiter nichts als dummes Zeug. Wißt ihr, was mir für ein Gedanke kommt? Die haben das nur drucken lassen, damit alle Leute glauben, er ist tot. Die ganze Sache ist nur eine Finte.«

»Na, welchen Zweck sollte denn das haben?« fragte jemand.

»Der Alte auf dem Herrenhaus stirbt doch bald, und dann könnte jemand den Titel erben, wenn der junge Malvery auch tot ist. Es ist ganz leicht möglich, daß dieser Rechtsanwalt hinter der Sache steckt. Alle Rechtsanwälte sind Schurken!«

»Aber wozu wird dann eine Belohnung von hundert Pfund ausgeschrieben? Das ist doch direkt, als ob man das Geld zum Fenster hinauswirft.«

»Ach was, der Rechtsanwalt hat sicher die Geschichte ausgeheckt! Es ist doch überhaupt kein Beweis dafür da, daß der junge Malvery im letzten Februar hier war, sonst hätten sie es doch wohl in den Aufruf hineingedruckt. Und dann –«

In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür, und ein Windstoß trieb einen Regenschauer in die Stube. Der plötzliche Zug war so stark, daß die große Hängelampe ausgeblasen wurde. Blake hörte, daß die Tür mit lautem Krachen wieder zufiel. Gleich darauf wurde ein Streichholz hinter dem Schanktisch angesteckt, und in dem unsicheren Licht sah er, daß eine Frau hereingekommen war. Er konnte ihre Gestalt nur undeutlich erkennen, bevor das Streichholz wieder ausging, aber er hatte den Eindruck einer faszinierend schönen Erscheinung, die plötzlich aus dem Dunkel auftauchte und wieder verschwand.

In der nächsten Sekunde wurde die Tür neben ihm geöffnet, und er hörte Briscoes leise Stimme.

»Gillian Clent!« flüsterte der Wirt und nahm die Lampe mit sich, die in dem kleinen Zimmer stand, um sie in die Gaststube zu tragen.

»Einer von euch kann einmal die andere Lampe anmachen. Clent, Sie sind der größte.«

Clent aber starrte ebenso wie die anderen auf seine Schwester. Auch Blake betrachtete sie unverwandt und erinnerte sich plötzlich an Rachel Malverys Urteil über diese Frau. Gillian Clent hatte eine wundervolle Gestalt, schöne Gesichtszüge, dunkle Hautfarbe wie ihr Bruder, und sie schien auch wie dieser über körperliche Kräfte zu verfügen. Ihre Stimme klang fest und energisch und doch weich und melodiös. Blake erkannte sofort, wie gefährlich diese Frau für einen empfänglichen jungen Menschen wie Dick Malvery gewesen sein mußte.

»Komm mit, Judah«, sagte sie. »Ich muß dich sprechen.« Clent sah seine Schwester einen Augenblick an und zögerte, ob er sie trotzig abweisen oder ihr folgen sollte. Aber Gillian lachte nur leise, trat einen Schritt vor und flüsterte ihrem Bruder etwas zu. Judah fuhr zusammen und erhob sich. Er ließ sein halbvolles Glas auf dem Tisch stehen und verließ die Gaststube ohne ein weiteres Wort. Gillian folgte ihm.

Einer der Männer lachte, während ein anderer auf einen Stuhl stieg und die Hängelampe wieder ansteckte. Gleich darauf kam Briscoe zu Blake zurück und brachte ihm die kleine Lampe wieder.

»Haben Sie Gillian Clent gesehen?« fragte er schnell.

»Ja. Sie muß wohl großen Einfluß auf ihren Bruder haben.«

»Ich möchte nur wissen, warum sie ihn fortgeholt hat. Da muß irgend etwas passiert sein. Bisher ist es ihr nur einmal gelungen, ihn mitzunehmen, und das war damals, als ihr Vater tot in den Marschen gefunden wurde. Nicht weit von hier.«

Blake erwiderte nichts darauf. Die Erscheinung Gillian Clents hatte großen Eindruck auf ihn gemacht. Und als er wieder nach Brychester ging, nachdem der Regen aufgehört hatte, kristallisierten sich seine Gedanken zu der einen Frage: Hat Richard Malvery in jener Nacht seine Absicht geändert und ist anstatt nach Malvery Hold nach Shilhampton gegangen? Und wenn das der Fall war, warum?

Nach dem Abendessen ruhte sich Blake in seinem Zimmer aus, als Atherton sich bei ihm melden ließ.

»Es hat sich etwas Neues zugetragen!« sagte er, als er eintrat. »Sie erinnern sich doch noch an Hester Prynne? Sie ist plötzlich verschwunden!«

 


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