Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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16

Mr. Pyke, Eigentümer der Villa, war nicht im mindesten über den Besuch des Polizeikommissars von Brychester überrascht.

»Treten Sie bitte näher, Captain Atherton«, sagte er lächelnd. »Ich erwartete Ihren Besuch schon.«

»Aber aus welchem Grund denn?« fragte der Beamte, als er mit seinem Begleiter eintrat.

Stephen Pyke sah Blake von der Seite an und schloß die Tür hinter sich.

»Wegen des Artikels im ›Argus‹. Meine Person ist doch sehr genau darin beschrieben, und ich vermute, daß dieser Herr –« er nickte Blake zu – »der Redaktion meine Beschreibung brachte. Nun, nichts für ungut, ich nehme es nicht im geringsten übel. Kommen Sie bitte hier entlang, meine Herren.«

Er führte sie durch einen Gang, an dessen Ende eine Tür halb offenstand. In dem dahinterliegenden Raum saß ein anderer Mann, den Blake schon mehrmals in den Straßen von Brychester getroffen hatte und der Stephen Pyke ziemlich ähnlich sah.

»Sie kennen meinen Bruder Daniel, Captain Atherton?« fragte Stephen, während sich der andere von seinem Stuhl erhob. »Darf ich die Herren bekannt machen? Dies ist Mr. Blake, der sich so sehr um die Wiederauffindung Richard Malverys bemüht.«

Nachdem alle mit Whisky-Soda versehen waren, wandte sich der Polizeikommissar an Stephen Pyke. »Bitte fassen Sie diesen Besuch als privat auf. Wir wollen uns nur bei Ihnen erkundigen, ob Sie etwas über den Verbleib Richard Malverys wissen. Ich möchte betonen, daß ich nicht in amtlicher Eigenschaft gekommen bin, und Mr. Blake ist Privatperson. Aber er ist an dem Schicksal seines früheren Teilhabers sehr interessiert.«

Stephen Pyke lachte.

»Sie glauben also felsenfest, daß Richard Malvery verschwunden ist, und zwar infolge eines Verbrechens oder dergleichen? Er verschwand diesmal doch genau so plötzlich und geheimnisvoll wie vor fünf Jahren. Nur hat damals kein Hahn danach gekräht.«

»Er hatte in jenen Tagen aber auch keine fünfzehnhundert Pfund bei sich«, bemerkte Atherton.

»Das ist richtig«, entgegnete Stephen Pyke. »Aber wenn er im Februar auf die Weise verschwunden ist, wie Sie annehmen, hatte er auch keine fünfzehnhundert Pfund bei sich. In dem Artikel des ›Argus‹ ist doch direkt gesagt, daß er tausend Pfund an einen sicheren Platz brachte, also doch höchstens fünfhundert Pfund bei sich hatte.«

»Nun, das genügt auch«, erwiderte Atherton. »Es sind schon viele Menschen wegen weniger Geld umgebracht worden.«

Daniel Pyke, der aufmerksam zugehört hatte, nahm jetzt die Zigarre aus dem Mund und sah den Polizeikommissar an.

»Sind Sie wirklich der Ansicht, daß Richard Malvery aus dem Wege geschafft wurde, daß man ihn ermordet hat?«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

Daniel lachte und nickte zu seinem Bruder hinüber. Stephen lachte auch.

»Uns geht es ebenso. Wir wissen auch nicht, was wir von der Sache halten sollen.«

»Aber Sie wissen wahrscheinlich mehr über die Zusammenhänge als wir«, erwiderte Atherton schnell. »Wollen Sie uns nicht ein wenig auf die Sprünge helfen? Alle die Tatsachen, die Mr. Blake und ich wissen, sind Ihnen aus dem Artikel des ›Argus‹ bekannt. Können Sie uns nicht etwas mehr sagen? Nach Ihren Worten von vorhin sind Sie es gewesen, der Richard Malvery am 26. Februar im Minerva-Hotel aufsuchte.«

Nachdem Stephen seine Besucher mit Zigarren versorgt hatte, ließ er sich auch in seinem Sessel nieder und rauchte eine kurze Pfeife. Es war offensichtlich, daß sich keiner der beiden Brüder durch den Besuch und die an sie gestellten Fragen unangenehm berührt oder verlegen fühlte. Sie sahen keine Gefahr für sich darin, daß sie in den Fall Malvery verwickelt waren.

»Mein Bruder und ich«, sagte Stephen, »haben die Sache eingehend besprochen. Ehe Sie kamen, hatten wir gerade beschlossen, eine klare Aussage über das zu machen, was wir von der Rückkehr Richard Malverys im Februar wissen. Wir dachten schon daran, zu einem Rechtsanwalt zu gehen, aber wir können unsere Aussagen ja ebensogut Ihnen gegenüber machen.«

»Das freut mich. Sprechen Sie zunächst ganz vertraulich mit uns, eine offizielle Aussage können Sie ja, wenn nötig, später noch machen. Wir wollen die Sache soweit wie möglich auf private Weise klären.«

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte Stephen. »Am 25. Februar erhielt ich also einen Brief von Dick Malvery, der am Tag vorher in Liverpool zur Post gegeben war. Er teilte mir darin mit, daß er nach England zurückgekehrt sei und genügend Geld mitgebracht habe, um seine Schulden in Brychester zu bezahlen, und daß er mich in gewissen persönlichen Angelegenheiten gerne sprechen möchte. Da er damals Brychester in einer für ihn unangenehmen Situation verlassen hatte, wollte er gerne wissen, wie die Dinge jetzt stünden. Er schlug vor, daß ich ihn am 26. in London aufsuchen sollte. Das tat ich auch, und ich brachte ungefähr eine Stunde im Minerva-Hotel zu, wo wir verschiedene Punkte wegen seiner Rückkehr nach Brychester besprachen. Im Lauf der Unterhaltung stellte es sich als wünschenswert heraus, daß er auch mit meinem Bruder Daniel sprechen wollte.«

»Aus welchem Grund?« fragte Atherton.

»Den Grund hierfür wollen wir vorläufig außer acht lassen. Ich gebe Ihnen augenblicklich nur einen klaren Bericht über das, was wir über Richard Malverys Aufenthalt wissen. Ich sagte eben, daß es wünschenswert war, eine Unterredung zwischen ihm und Daniel herbeizuführen. Ich verließ Richard, und als ich am Abend nach Hause kam, sprach ich mit Dan und traf die nötigen Vorbereitungen. Am nächsten Morgen sandte ich Richard das Telegramm, das Mr. Blake in der Brieftasche in Malvery Hold fand, und das Richard davon verständigen sollte, daß er Dan zu jeder beliebigen Zeit in meinem Hause treffen könnte. Wie Sie wohl wissen, kam er am Nachmittag des 27. nach Brychester, ging dort zum Postamt und fuhr mit Abinetts Wagen bis zum Kreuzweg bei Marshwyke. Er sagte uns das auch und amüsierte sich darüber, daß ihn der alte Mann ebensowenig wie Nick Briscoe und seine Gäste erkannt hatten. Aber wir wußten damals nicht, daß er bereits in Malvery Hold gewesen war. Das haben wir erst heute morgen im ›Argus‹ gelesen.«

»Davon erwähnte er damals kein Wort«, warf Daniel Pyke dazwischen.

»Richard Malvery kam also am 27. Februar spät abends zu Ihnen?«

»Ja, er war von etwa Viertel nach neun bis halb elf bei uns.«

»Und was geschah dann?« fragte Atherton.

»Dann ging er natürlich wieder. Er sagte, er wolle nach Malvery Hold gehen. Er benutzte den Uferweg; das konnten wir deutlich sehen, weil wir ihn noch bis zum Tor begleiteten. Und seit der Zeit haben wir nichts mehr von ihm gehört.«

Atherton und Blake schwiegen.

»Ich möchte noch etwas erwähnen«, fuhr Stephen fort. »In dem Artikel des ›Argus‹ wird auch von einem Scheck gesprochen, den Richard Malvery irgend jemand aushändigte. Ich habe diesen Scheck in London kassiert. Richard gab ihn mir, weil er mir noch Geld schuldete. Ich konnte mich nicht mehr auf die Summe besinnen, als ich ihn in London traf, fand aber dann den genauen Betrag hier in meinen Notizen; es handelte sich um zwölf Pfund. Er machte einen Fehler, als er den Scheck auf den 28. datierte, denn er schrieb ihn am 27. abends an diesem Tisch hier aus. So klärt sich auch diese Sache auf. Das ist nun alles, was wir Ihnen sagen können. Er war hier, ging wieder fort, und seitdem haben wir kein Lebenszeichen mehr von ihm bekommen.«

»Nicht die geringste Nachricht haben wir von ihm erhalten«, fügte Daniel hinzu.

Atherton sah von einem zum andern.

»Da wir uns hier freundschaftlich und privat unterhalten, wollen wir ganz offen miteinander sprechen«, sagte er dann. »Ist das wirklich alles, was Sie wissen, oder ist es nur das, was Sie zu sagen beabsichtigen?«

»Warum stellen Sie diese Frage?« erwiderte Stephen.

»Ich habe das Gefühl, daß Sie mir mehr erzählen könnten, wenn Sie wollten. Sie haben uns zum Beispiel nicht das geringste darüber gesagt, warum Richard Malvery eine private Unterhaltung mit Ihrem Bruder wünschte. Warum wollte er denn gerade Mr. Daniel Pyke sprechen?«

»Dafür hatte er einen ganz bestimmten Grund, den ich Ihnen jedoch nicht mitteilen möchte.«

»Nein, darüber können wir nicht sprechen«, bestätigte Daniel. »Das ist eine rein private Angelegenheit.«

Atherton stieß Blake unter dem Tisch an.

»Vielleicht ist diese Sache doch nicht so unbekannt, wie Sie glauben«, entgegnete er. »Darf ich Ihnen sagen, warum er nach meiner Meinung hierherkam? Richard Malvery wollte Sie wegen eines gewissen Schecks über hundert Pfund sprechen, der nach seinem seinerzeitigen Verschwinden eine unangenehme Auseinandersetzung auf der Bank in Brychester hervorrief. Habe ich recht?«

Diese Äußerung machte einen größeren Eindruck auf die beiden Pykes, als Blake und Atherton vermutet hatten. Stephen Pyke erschrak sichtlich, und Daniel setzte das Glas, das er eben erhoben hatte, wieder auf den Tisch. Atherton lachte.

»Also Sie sehen, daß wir ganz gut informiert sind.«

Stephen Pyke sprach zuerst wieder.

»Das hat Ihnen Newman Cuffe gesagt. Nur er und Boyce Malvery wußten davon, und ich bin fest überzeugt, daß Boyce darüber geschwiegen hat.«

»Warum sollte denn der Rechtsanwalt nicht darüber sprechen?«

»Stephen hat recht«, erklärte Daniel. »Mr. Boyce hat Ihnen bestimmt nichts verraten. Diese Nachricht kam von Cuffe.«

»Also habe ich recht?« fragte Atherton. »Richard Malvery wollte Sie wegen dieses Schecks sprechen?«

Aber er sah an dem Gesichtsausdruck der beiden, daß er auf seine Frage keine Antwort erhalten würde. Als Daniel antwortete, sprach er sehr vorsichtig und war wenig mitteilsam.

»Es tut mir leid, Captain Atherton«, sagte er in offiziellem Ton. »Wenn Mr. Cuffe in solchen Dingen das Vertrauen bricht, so tue ich das noch lange nicht. Ich bin bei der Bank angestellt, und ich habe das Dienstgeheimnis zu wahren.«

»Ganz recht, aber Richard Malvery kam doch auch nicht offiziell zu Ihnen; er kam privat. Aber wenn Sie nichts sagen wollen, dann kann ich nichts daran ändern.«

»Wir können weiter nichts mitteilen«, entgegnete Stephen.

Atherton sah Blake an, und die beiden erhoben sich.

»Darf ich wenigstens noch eine Frage an Sie stellen?« sagte der Polizeikommissar. »Warum haben Sie niemals über Richard Malverys Rückkehr und sein plötzliches Verschwinden gesprochen? Es muß Ihnen doch sonderbar vorgekommen sein, daß er sich später nicht mehr sehen ließ, nachdem er Sie an jenem Abend verließ?«

Die beiden Brüder wechselten Blicke und schüttelten dann den Kopf.

»Wir haben nicht darüber gesprochen«, antwortete Stephen. »Aber wir waren auch nicht überrascht, daß wir Richard Malvery nicht wieder gesehen haben, denn wir hatten den bestimmten Eindruck, daß er nach der Unterredung mit Daniel sich nicht mehr hier in der Nähe aufhalten würde. Er hatte guten Grund, nicht hierzubleiben!«

 


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