Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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12

Blake fand, daß das Minerva-Hotel zu jenen kleinen, altmodischen Gaststätten gehörte, von denen kaum noch ein Dutzend in London übriggeblieben ist, und er wunderte sich, daß Dick Malvery von der Existenz dieses Hauses überhaupt etwas wußte. Es lag an einem kleinen Platz hinter einer der verkehrsreichsten Geschäftsstraßen, in unmittelbarer Nähe der Bank von England. Man mußte durch einen dunklen Gang gehen, dann kam man auf einen kleinen, viereckigen, mit Steinfliesen belegten Hof, in dessen Mitte eine einsame Ulme stand. Ihre grünen Zweige reichten bis an die Fenster des Hotels und überschatteten die kleine Eingangshalle, in die Blake seinen Koffer trug. Das Hotel war alles andere als modern. Eine freundlich dreinschauende Frau, die hinter dem Empfangstisch stand, lächelte über das erstaunte Gesicht des Gastes.

»Ja, Sie können ein Zimmer hier bekommen, Sir«, sagte sie und schlug das Gästebuch auf. »Wir haben im ganzen zwanzig Zimmer. In der letzten Zeit ist nicht immer alles besetzt. Unsere Gäste sterben allmählich aus. Sehen Sie«, fuhr sie fort, als sie Blakes Namen in die Liste eintrug, »dies war früher ein gutes Hotel für die Leute vom Land, die geschäftlich in der Stadt waren. Die Bank von England liegt ganz in der Nähe, ebenso die Hauptgeschäftsstraßen. Aber heute kann man ja in einem Hotel im Westen wohnen und doch in kurzer Zeit in der City sein. Wie haben Sie denn von uns gehört?«

»Ich glaube, einer meiner Freunde wohnte vor einigen Monaten hier«, antwortete Blake, der sich über die Entwicklung des Gesprächs freute. »Es war ein Mr. Richard Malvery aus Kanada. Können Sie sich noch auf ihn besinnen?«

»O ja! Es war ein großer, dunkler junger Herr. Er hat hier zwei oder drei Tage gewohnt und sagte, daß er geschäftlich in der City zu tun hätte. Zufällig kam er hier herein, um ein Glas Whisky-Soda zu trinken, und das Hotel gefiel ihm so gut, daß er sofort wegging und sein Gepäck holte. Sehen Sie, hier steht sein Name«, fuhr sie fort, indem sie in dem Fremdenbuch zurückblätterte. »Richard Malvery, Zimmer fünfzehn. Er war vom 25. bis zum 27. Februar hier und hat uns auch erzählt, daß er von Kanada käme. Aber er hat als seine Adresse hier Malvery Hold, Brychester, angegeben.«

Blake warf einen Blick auf die Eintragung und dann auf das kleine Zimmer hinter dem Empfangsbüro. Niemand war in der Nähe, und er entschloß sich, die Wirtin sofort ins Vertrauen zu ziehen.

»Kann ich mich dort hineinsetzen und einen Whisky-Soda bekommen?« fragte er. »Ich möchte mich ein wenig mit Ihnen über Mr. Richard Malvery unterhalten. – Sehen Sie«, sprach er weiter, als ihm die Wirtin das Glas gebracht hatte, »Mr. Richard Malvery war mein Teilhaber und ist jetzt verschwunden. Er wollte von hier aus zu seinem Vater, Sir Brian Malvery, der in Malvery Hold wohnt. Am 27. Februar ist er gegen Mittag von hier aufgebrochen, und am selben Abend noch war er in Brychester und in einem Dorf in der Nähe. Dafür haben wir bestimmte Beweise. Aber seitdem fehlt jede Spur von ihm.«

Die Wirtin sah ihn interessiert und erstaunt an.

»Und Sie haben auch keine Vermutung, wo er sein könnte?«

»Nein, bis jetzt nicht. Ich bin eifrig bemüht, die Sache zu klären, und zwar im Interesse seines Vaters und seiner Schwester. Deswegen bin ich auch hierhergekommen. Ich wollte versuchen, ob Sie mir etwas über seine Tätigkeit und seinen Aufenthalt hier erzählen könnten. Wissen Sie zum Beispiel, ob er in Begleitung von anderen Leuten hier im Hotel war? Hat er Besuche empfangen?«

Die Wirtin setzte sich nun auch zu ihm an den Tisch.

»Ja«, sagte sie. »Ein Herr besuchte ihn am zweiten Tag, als er hier wohnte, nachmittags. Er kam ungefähr um drei und ging um vier wieder. Sie haben sich in der Ecke dort eine Stunde lang unterhalten.«

»Können Sie sich auf diesen Mann noch besinnen? Das wäre sehr wichtig.«

»Ja, ich kann mich gut an ihn erinnern. Er schielte nämlich auf dem einen Auge und sah etwas unangenehm aus. Er war klein, und ich hielt ihn für einen Rechtsanwalt.«

»Haben Sie etwas von der Unterhaltung der beiden gehört?«

»Ich hörte nur, daß der kleine Herr sagte, er müsse um vier Uhr fünfundvierzig nach Shilhampton zurückfahren. Und ich glaube, er hat diesen Zug auch benützt, denn sie gingen um Viertel nach vier von hier fort. Ich kann mich an solche Einzelheiten sehr gut erinnern, weil das Geschäft eben nicht mehr so gut geht und man nicht viel zu tun hat. Ich kann mich auf Mr. Malvery noch sehr gut besinnen. Am Morgen seiner Abreise gab er meiner kleinen Tochter noch ein paar Ansichtskarten aus Kanada, und gegen Mittag ging er dann zum Bahnhof.«

»Wissen Sie, ob er am Morgen seiner Abreise ein Telegramm erhielt?«

»Er bekam an beiden Morgen ein Telegramm, jedesmal während er beim Frühstück saß.«

Blake trank seinen Whisky-Soda aus und erhob sich. »Nun, das ist wenigstens etwas«, sagte er. »Wenn Zimmer Nummer fünfzehn frei ist, in dem Mr. Malvery wohnte, dann geben Sie es mir bitte. Nicht, daß ich erwarte, dort noch irgendeine Spur zu finden«, fügte er lächelnd hinzu, »aber ich möchte gerne darin wohnen.«

Und als er sich später in dem Raum umsah, fand er auch wirklich nichts, was ihn an Malvery erinnerte. Blake hörte nun nichts Neues mehr über seinen Freund – die Wirtin hatte ihm alles erzählt, was sie wußte. Am nächsten Morgen ging er zu den Geschäftsräumen der Canadian Bank of Commerce und erfuhr dort nähere Einzelheiten von einem Beamten, nachdem er alles genau erklärt und seinen Paß vorgewiesen hatte.

Richard Malvery hatte am 26. Februar gegen Mittag auf der Bank vorgesprochen, um festzustellen, ob sein Geld richtig von Kanada überwiesen worden war. Es handelte sich um etwas mehr als zweitausend Pfund. Am nächsten Tag kam er wieder und hob fünfzehnhundert Pfund ab. Seit der Zeit war er nicht mehr auf der Bank gesehen worden und hatte sich auch nicht schriftlich an sie gewandt. Blake hatte eine Liste der Nummern der Banknoten mitgebracht, die er in der Brieftasche in Malvery Hold gefunden hatte, und überreichte sie dem Kassenbeamten, damit er sie vergleichen konnte. Eine kurze Prüfung genügte und bewies, daß die Banknoten dieselben waren, die Richard auf der Bank abgeholt hatte.

»Die übrigen fünfhundert Pfund wurden ihm in fünf Einhundertpfundnoten ausgezahlt. Diese hatte er wahrscheinlich noch bei sich, nachdem er die Brieftasche, von der Sie uns erzählt haben, in dem Sekretär versteckt hatte.«

»Es wäre aber doch möglich, daß er das Geld schon ausgegeben hatte?«

»Zwei Monate sind ungefähr vergangen, seit die Scheine an Mr. Malvery ausgehändigt wurden. Da diese großen Banknoten heute auch als Zahlungsmittel von Hand zu Hand gehen, wird es schwierig sein, ihren Weg zu verfolgen. Aber immerhin haben Sie einen Anhaltspunkt, wenn Sie wissen, daß sie wieder bei der Bank von England eingegangen sind.«

»Aber wie könnte mir das helfen?« fragte Blake.

»Wenn Ihre Theorie von Malverys Verschwinden in dem Triebsand richtig ist, dann hätte er diese Scheine mit in die Tiefe genommen. In diesem Fall wären die Banknoten ebenso verschwunden wie er selbst. Wenn sie aber wieder bei der Bank von England eingelaufen sind, dann ist dies der Beweis, daß er sie weitergegeben hat, und dann können wir nach und nach herausbekommen, wer der Betreffende war, der sie erhielt. Wir wollen gerne für Sie sofort bei der Bank von England anrufen und fragen, ob einer dieser Geldscheine wieder eingegangen ist. Am besten ist es, wenn Sie heute nachmittag noch einmal kommen und sich erkundigen.«

»Sie hatten nicht den Eindruck, daß Richard Malvery irgendwie aufgeregt war?«

»Nein, nicht im geringsten. Ich sprach ihn allerdings nur einige Minuten in einer rein formellen Sache. Er schien mir in guter Stimmung zu sein. Ich kann mich nur noch besinnen, daß er damals sagte, er würde sobald als möglich nach Kanada zurückgehen.«

*

Blake ging eine halbe Stunde lang in den Straßen Londons umher. Dann faßte er den Entschluß, den Journalisten aufzusuchen, den Atherton ihm empfohlen hatte, und machte sich auf den Weg zur Redaktion des ›Argus‹.

Er schickte seine eigene Karte mit der des Polizeikommissars Atherton zu dem Redakteur Evan Colwyn. Er mußte warten, aber schließlich führte ihn ein Page in das Büro eines scharfblickenden geschäftigen Mannes, der zwischen vielen Telefonapparaten saß, und der sofort zur Sache kam, nachdem Blake neben seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Guten Morgen, Mr. Blake«, sagte er und nahm die beiden Karten auf. »Soviel ich sehe, sind Sie von Brychester und von meinem Freund Atherton geschickt. Ich vermute, daß Sie hierhergekommen sind, um mir etwas von den Geheimnissen um Mr. Malvery zu erzählen.«

Blake sah ganz erstaunt auf.

»Woher wissen Sie denn etwas darüber? Ich dachte, bis jetzt wäre noch nichts in der Öffentlichkeit davon bekannt.«

Mr. Colwyn lachte.

»Die Sache ist schon ziemlich publik.« Er reichte Blake die Bekanntmachung über die ausgesetzte Belohnung und ein kurzes Manuskript. »Unser Vertreter in Brychester hat uns das eben eingesandt. Er weiß gerade nicht viel, wie Sie bald herausfinden werden, wenn Sie das Schriftstück durchlesen. Aber vielleicht wissen Sie mehr?«

»O ja, sehr viel mehr«, erwiderte Blake, nachdem er das Blatt rasch überflogen hatte.

»Wollen Sie mir das erzählen?«

»Ja, ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß.«

Der Redakteur klingelte zweimal. Gleich darauf trat ein junger Mann mit einem Stenogrammblock ein und setzte sich schweigend. Colwyn wandte sich an Blake. »Also, nun erzählen Sie, bitte, ganz auf Ihre eigene Art und Weise. Sie können so schnell sprechen, wie es Ihnen beliebt.«

Aber Blake sprach langsam. Er wollte sehr sorgfältig sein und einen einfachen, ungetrübten Bericht der Tatsachen geben. Er brachte alles vor, was er bis jetzt über den Fall wußte.

»Über diese Banknoten bekomme ich heute nachmittag noch Bescheid«, schloß er.

»Bitte, rufen Sie uns gleich an, wenn Sie etwas darüber erfahren haben«, bat Mr. Colwyn und wandte sich dann an seinen Sekretär. »Tippen Sie mir das so schnell wie möglich.«

Der Sekretär verneigte sich und entfernte sich sofort.

»Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß dies eine großartige Sache für uns wird. Ich will sie ganz groß aufziehen. Morgen früh können Sie es schon lesen. Aber bitte setzen Sie sich nicht noch mit anderen Zeitungen in Verbindung.«

»Nein, das verspreche ich Ihnen. Sie sollen den Artikel allein herausbringen.« –

Auf der Bank erwartete Blake eine Überraschung.

»Ich habe Ihnen zweierlei Neuigkeiten mitzuteilen, Mr. Blake«, sagte der Beamte. »Zunächst ist nach dem 27. Februar noch ein kleiner Scheck von Mr. Malvery eingegangen, und zwar über zwölf Pfund. Er wurde am 7. März hier vorgelegt und ausgezahlt. Der Scheck selbst war am 28. Februar ausgestellt und lautete auf den Überbringer. Die fünf Hundertpfundnoten sind bis jetzt noch nicht wieder bei der Bank von England eingelaufen.«

 


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