Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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32

Gillian ließ sich wieder nieder und nahm ihre Näharbeit auf. Boyce Malvery trat zu ihr.

»Allein?«

»Allein.«

Ohne weitere Umstände trat er an den Tisch und schenkte sich selbst ein Glas ein. Dann sah er sie scharf an.

»Wo ist Judah, und wo ist Ihre Mutter?«

»Ich erwarte, daß Judah jeden Augenblick mit Hanson kommt. Ich dachte, Sie hätten die beiden schon getroffen. Meine Mutter habe ich seit heute morgen nicht gesehen. Sie ist zu der Totenschau nach Malvery gegangen.«

Boyce runzelte ärgerlich die Stirn.

»Was hat sie denn dort zu tun?«

»Sie muß doch hören, ob es Neuigkeiten gibt.«

»Was für Neuigkeiten?«

»Nun, es ist doch absolut notwendig, daß wir auf dem laufenden bleiben. Wir müssen doch über alles informiert sein, damit wir uns danach richten können.«

Boyce nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas, setzte sich dann an den Tisch und seufzte bedrückt.

»Eine verdammte Nacht!« sagte er. »Es kostete allerhand Anstrengung, heute hierherzukommen.«

»Ich erwartete Sie auch beinahe nicht mehr.«

»Sie wußten genau, daß ich kommen würde, und wenn das Unwetter auch noch so groß wäre. Hanson kommt auch, darauf können Sie sich verlassen.«

Er brummte, als er einen Blick auf die alte Standuhr in der Ecke warf. Seine Augen wanderten unruhig und nervös in dem Raum umher.

»Welche Teufelei hat denn Ihre Mutter wieder im Sinn?« fragte er plötzlich. »Sicher führt sie nichts Gutes im Schilde. Was wollte sie denn nur bei der Verhandlung?«

»Vor allem wollte sie erfahren, wie es in Malvery Hold steht.«

»In Malvery Hold? Was geht sie denn das an?« erwiderte Boyce ärgerlich.

»Sie wollte eben hören, wieviel man über den toten Matrosen und Ihren Vetter Dick wußte.«

»Was hat sie denn damit zu tun?«

Gillian sah von ihrer Näharbeit auf und schaute Boyce ruhig an.

»Wenn Leichen hier in der Nähe gefunden werden, dann kommen wir in Teufels Küche!«

Boyce rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Leichen!« sagte er halblaut. »Was für Leichen?«

»Dick Malvery! Man kann nie wissen. Vielleicht wird er bei dem Sturm herausgespült.«

»Sie wissen doch ganz genau, daß aus diesem Strudel keiner mehr herauskommt, der einmal hineingeraten ist«, erwiderte er verbissen.

»Ich weiß nicht einmal genau, ob Dick überhaupt hineingeriet. Sie haben uns das ja nur erzählt.«

»Ich wünschte nur, ich hätte Ihnen gar nichts erzählt!« fuhr er sie an. »Ich muß in jener verteufelten Nacht meine Nerven vollständig verloren haben. Wenn aber die Wellen ihn tatsächlich ans Ufer spülen sollten, dann fällt die Sache auf Sie!«

»Zweifellos. Wir haben ja schon immer die Kastanien für Sie aus dem Feuer geholt, Boyce. Aber warten Sie nur, meine Mutter läßt sich von Ihnen nicht so einfach hinters Licht führen.«

»Was soll denn das nun schon wieder heißen?« rief Boyce aufgebracht.

»Sie ist nicht so dumm, wie Sie glauben. Lassen Sie es sich nur nicht einfallen, sie an der Nase herumzuführen. Sie ist schon furchtbar wütend auf mich und auch auf Sie. Entweder müssen Sie mich heiraten, Boyce, oder sie wird es Ihnen heimzahlen. Sie können ja wählen.«

Boyce stand fluchend auf und ging hin und her.

»Verdammt noch einmal! Habe ich nicht immer gesagt, daß ich nichts tun kann, bevor ich weiß, wie die Sache ausgeht? Wenn der Alte drüben in Malvery Hold endlich abkratzt –«

»Ich habe heute nachmittag in Marshwyke gehört, daß er diese Nacht kaum überleben wird. Blake ist auch im Herrenhaus.«

»Dieser gemeine Lump!« brummte Boyce. »Nun, wenn der Alte stirbt, können wir ja über die Sache reden.«

»Sie werden schon vorher darüber reden müssen.« Gillian legte ihre Näharbeit nieder und beugte sich lauschend vor. »Da kommt jemand«, sagte sie. »Das sind Judah und Hanson.«

Sie ging zur Tür und zog den Vorhang fort. Boyce sank wieder in seinen Stuhl und griff nach seinem Glas. Aber er setzte es nieder, ohne getrunken zu haben, als sich die Tür öffnete und Barbara Clent allein mit ihrem Sohn ins Zimmer trat. Boyce sprang auf und sah sie etwas verwirrt an, denn die beiden machten gerade keinen sehr liebenswürdigen Eindruck.

»Wo ist Hanson?« fragte er.

Barbara Clent lachte, als sie ihren dicken Mantel ablegte, und die beiden Beobachter hinter dem Fenster sahen, daß Boyce zusammenfuhr. Sie antwortete nicht, aber Judah, der in seinem Ölzeug noch größer als sonst aussah, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten.

»Wo ist Hanson? Verdammt noch mal!« rief er. »Festgenommen haben sie ihn!«

Boyce riß sich zusammen und überwand mit größter Energie die unbestimmte Furcht, die ihn ergreifen wollte. Er lächelte sogar ironisch.

»Also los! Nicht so grob, Mr. Judah Clent! Und keine Drohungen! Wer hat Hanson festgenommen?«

»Die Polizei hat ihn verhaftet«, sagte Barbara.

»Heute abend an Bord seines Schiffes. Und Sie sind der Nächste, der drankommt, Sie feiner Gent!«

Boyce leerte sein Glas bis auf die Neige und goß sich dann aufs neue ein. Die andern drei beobachteten ihn schweigend.

»Nun wollen wir einmal die Lage besprechen«, sagte er mit einem harten Lachen. »Was haben Sie gehört? Ich muß alles wissen.«

Der Zollinspektor schlich sich leise von Atherton fort, um seinen Leuten einen Befehl zu geben.

»Ich bin gleich wieder hier«, flüsterte er Atherton zu. Als er nach einer kleinen Weile wiederkam, wiederholte Boyce eben seine Frage.

»Also, was haben Sie gehört?« rief er ärgerlich. »Wir müssen jetzt rasch überlegen und handeln.«

»Wir haben genug gehört, um zu wissen, daß die Sache jetzt zu Ende ist«, entgegnete Barbara Clent. »Wir haben es auch satt, Sie hier immer in Schutz zu nehmen. Die Polizei hat Hanson festgenommen, und sicher hat man auch Sie ausspioniert und angezeigt. Mr. Malvery, Ihr Spiel ist aus!«

»Sie meinen wohl Ihr eigenes Spiel?« erwiderte Boyce wütend.

Judah kam mit einem Fluch näher.

»Benehmen Sie sich hier, sonst schlage ich Ihnen die Knochen im Leibe entzwei«, rief er drohend. »Führen Sie bloß keine großen Reden hier!«

»Uns geht es nichts an«, sagte Barbara. »Die Beamten können jeden Augenblick herkommen – sie werden nichts finden, nicht eine Spur. Dafür habe ich immer Sorge getragen. Und wenn sie kommen, dann wissen wir von Ihren Geschäften mit Hanson eben nichts. Wir haben Ihnen hier lange genug Vorschub geleistet, und jetzt bleibt nur noch übrig, mit Ihnen abzurechnen. Sie werden Gillian niemals heiraten – dazu sind Sie ja gar nicht mehr in der Lage –, und das müssen Sie irgendwie gutmachen. Judah, geh zur Tür.«

Boyce hatte bereits seinen Mantel genommen und war auf den Ausgang zugegangen, während die Alte sprach. Aber vor Judahs großer Gestalt hielt er an.

»Was, Sie wagen es, mich hier festzuhalten? Das tun Sie auf Ihre eigene Gefahr, Judah Clent. Ich gehe, und wenn Sie versuchen, mich daran zu hindern, dann wird es Ihnen leid tun. Und Sie, Mrs. Clent, sollten es sich nicht einfallen lassen, mir zu drohen! Sie vergessen, daß ich genug über Sie weiß, um Sie auf lange Jahre ins Gefängnis zu bringen. Sie sind in meiner Gewalt und –«

»Da sind Sie schwer im Irrtum! Wir haben Sie unter dem Daumen«, unterbrach ihn Barbara mit einem häßlichen Lachen. »Sie mögen sich für schlau halten und auch schlau sein, aber wir sind auch nicht dumm. Wir haben Sie in der Hand, Mr. Boyce Malvery. Wir brauchen nur ein Wort zu sagen, dann kommen Sie wegen Mordes vor Gericht. Wir haben Ihren Vetter nicht erschossen und in den Strudel geworfen – aber Sie haben das getan!«

Boyce biß die Lippen zusammen und machte sich heimlich unter seinem Mantel zu schaffen. Aber er blieb an seinem Platz stehen.

»Wenn es dazu kommen sollte«, erwiderte er verächtlich, »dann weiß ich nicht, wessen Wort mehr geglaubt wird – meinem oder Ihrem. Fangen Sie bloß keinen Streit mit mir an, sonst zeige ich Sie wegen Mordes an, und Sie kommen bestimmt an den Galgen! Sie können mich auch anzeigen, aber wer wird Ihnen Glauben schenken? Sie können nichts beweisen, und das wissen Sie auch.«

Gillian legte die Hand auf den Arm ihrer Mutter.

»Er hat recht«, sagte sie. »Wir können nichts gegen ihn unternehmen. Der einzige Beweis ist seine eigene Erzählung, wir haben keinen Zeugen. Laß ihn gehen.«

Die Alte sah von ihrer Tochter auf Boyce, und plötzlich verzerrten sich ihre Züge in wildem Haß. Dann warf sie Judah einen Blick zu, den dieser wohl verstand. »Wir lassen die Leute hier nicht so ohne weiteres ungestraft gehen«, sagte sie bedeutungsvoll. »Und wenn es nicht anders sein kann, so sollen Sie wenigstens einmal ordentlich verprügelt werden!«

Judah Clent, der Boyce dauernd im Auge behalten hatte, nahm eine Hundepeitsche von der Wand und ging in gebückter Haltung und mit vorgestrecktem Kopf auf Boyce los. Seine weißen Zähne blitzten, und er erinnerte an ein wildes Tier, das auf sein Opfer losspringen will.

»Los, Judah!« hetzte die Alte.

»Nehmen Sie sich in acht«, brüllte Boyce.

Er trat etwas zur Seite, aber Judah kam näher.

»Schlag zu!« zischte seine Mutter.

Plötzlich schrie Gillian laut auf, und im selben Augenblick fiel ein Schuß, den Boyce aus der Tasche seines Mantels abgefeuert hatte. Judah Clent stöhnte schwer auf und fiel über den Tisch. In der nächsten Sekunde schleuderte Boyce mit einem Faustschlag die Hängelampe zu Boden, sprang in der allgemeinen Verwirrung zur Tür und eilte hinaus in den wütenden Sturm.

 


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