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Atherton wußte, daß Stubbs ein Großsprecher war und sich gern in alle möglichen Dinge einmischte. Deshalb wollte er zuerst den Vorschlag ablehnen und vorschützen, daß er zuviel zu tun hätte. Aber dann überlegte er sich die Sache. Manchmal bekam man von einer Seite Aufklärung und Hilfe, von der man es am wenigsten erwartet hätte. Die beiden begleiteten also Mr. Stubbs die Straße entlang. Aber schon nach kurzer Zeit blieb der Geschworene wieder stehen.
»Da ist sie«, sagte er leise. »«War es mir doch so vorgekommen, als ob ich die alte Hexe in einer dunklen Ecke des Versammlungssaales gesehen hätte! Sie kommt eben aus dem Geschäft von Filson.«
Blake schaute über die Dorfstraße hinüber und sah eine alte Frau aus einem Fleischerladen treten. Sie lenkte unwillkürlich die Aufmerksamkeit aller Blicke auf sich, denn sie war ungewöhnlich groß und kräftig und hatte sehnige Arme, obwohl ihr Gesicht schon von vielen Furchen und Falten durchzogen war. Ihr Haar war jedoch noch schwarz, und ihre Augen blickten fest und entschlossen unter einem merkwürdig geformten Hut hervor. Sie trug einen großen Mantel, der sie vom Hals bis zu den Füßen vollständig einhüllte. In der einen Hand schwang sie einen schweren Stock.
»In früheren Tagen hätte man mit einer solchen Frau kurzen Prozeß gemacht und sie einfach als Hexe verbrannt«, sagte Mr. Stubbs. »Ich dachte mir gleich, daß sie zu der Verhandlung kommen würde, um zu hören, was los war.«
»Das ist ja die alte Clent«, meinte Atherton. »Wirklich eine sonderbare Person.«
Sie waren inzwischen wieder weitergegangen und vor dem Haus des Kolonialwarenhändlers angekommen. Er führte sie durch seinen Laden, in dem es nach Tee, Kaffee, Käse und Schinken duftete, in ein gemütliches Wohnzimmer. Nachdem er seine Gäste mit Getränken und Zigarren versorgt hatte, nickte er Atherton zu.
»Ich lasse mich nicht so leicht davon überzeugen, daß der arme, alte Jakob den Matrosen umgebracht haben soll.«
»Aber wie wollen Sie dann die Worte erklären, die er immer und immer wieder vor seinem Tod sagte?«
»Es gibt viele Dinge in der Welt, die wir nicht erklären können. Ich will ja letzten Endes nicht bestreiten, daß Jakob Elphick nicht vielleicht doch den Matrosen aus Versehen erschlagen hat. Die Aussagen haben mich eben nicht befriedigt. Meiner Meinung nach muß man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß der Mann einen Zusammenstoß mit Schmugglern hatte. Und vor allem hat die Sache viel mit dem Verschwinden des jungen Richard Malvery zu tun. Sie wissen doch noch gar nicht, ob nicht auch Dick Malverys Leiche in dem Graben liegt.«
Weder Blake noch Atherton gaben eine Antwort, und Mr. Stubbs sah sie selbstzufrieden an.
»Sehen Sie, Captain, es gibt Dinge, die weder Sie noch die Zollbeamten wissen. Aber ich lebe seit vielen Jahren hier am Ufer dieser Bucht.«
»Ich lasse mich gerne von Ihnen belehren«, erwiderte Atherton. »Und sicher würden auch die Zollbeamten sehr froh sein, wenn sie Informationen von Ihnen bekommen könnten.«
»Das weiß ich nicht so gewiß. Ich habe schon öfters höheren Beamten Mitteilung darüber gemacht, aber die haben mir stets die kalte Schulter gezeigt. Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, daß in der Bucht von Marshwyke viel geschmuggelt wird, und ich bin ganz sicher, daß die Clents, Mutter, Sohn und Tochter, daran beteiligt sind. Weswegen, glauben Sie wohl, wäre diese alte Hexe sonst heute morgen zur Verhandlung gekommen? Die wollte doch nur hören, ob etwas über sie gesagt würde. Ich glaube, das geheimnisvolle Verschwinden von Mr. Richard hängt hauptsächlich mit den Clents zusammen. Ihr Haus müßte einfach niedergerissen werden, dann würde man merkwürdige Dinge finden!«
»Worauf gründet sich denn Ihr Verdacht?« fragte Atherton.
»Vergleichen Sie doch mal die Clents mit den anderen Leuten von Marshwyke. Das Volk hier ist arm wie überall an der Küste. Es wird gerade soviel verdient, wie zum Leben gebraucht wird. Wir Kaufleute wissen das am allerbesten. Aber diese Clents haben mehr Geld, als sie ausgeben können. Haben Sie schon mal Gillian auf dem Markt von Brychester gesehen? Die geht gekleidet wie eine vornehme Dame. Sie essen und trinken nur das Beste, Haben Sie eine Ahnung, was die alles bei mir kaufen, und ebenso drüben beim Fleischer! Judah hat goldene Uhrketten und Gillian kostbaren Schmuck. Mit diesem Judah würde ich mich an Ihrer Stelle wirklich etwas mehr befassen. Das wäre eine dankbare Aufgabe.«
»Er verdient doch sicher viel Geld, wenn er auf See ist.« Mr. Stubbs schüttelte nur ungläubig den Kopf.
»Auf See! Wer beweist Ihnen denn, daß Clent überhaupt zur See fährt? Er verschwindet für einige Zeit, dann kommt er zurück und sagt, er war in Konstantinopel, Buenos Aires, New Orleans und Gott weiß, wo sonst noch, und in Wirklichkeit war er kaum zweihundert Kilometer von Shilhampton entfernt.«
»Wohin geht er denn Ihrer Meinung nach?« fragte Atherton.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, entgegnete Mr. Stubbs ganz leise, nachdem er einen Blick auf die geschlossenen Türen und Fenster geworfen hatte. »Außer mir und meiner Frau weiß niemand etwas davon. Jedes Jahr mache ich mit meiner Frau eine Erholungsreise entweder nach Eastbourne, nach Bournemouth oder nach Brighton. Voriges Jahr sind wir nach dem Festland hinübergefahren. Wir waren noch niemals im Ausland und wollten uns gern einmal Boulogne ansehen. Wirklich ein nettes, schönes Städtchen, besonders wenn man ins Kasino geht, wo sie um Geld spielen. Es ist sehr interessant, dort zuzusehen. Sie kennen es natürlich, Captain?«
»An der Hauptstraße, die vom Hafen zur Mitte der Stadt führt, gibt es viele Kaffees und Restaurants, und gewöhnlich saßen wir abends in einem der Lokale und sahen zu, wie die Leute vorübergingen. Und eines Abends kommt doch tatsächlich Judah Clent dort vorbei! Aber den hätten Sie kaum wiedererkannt, so fein und elegant sah er aus. Wie ein vornehmer Herr! Uns hat er nicht gesehen!«
»War er allein?« fragte Atherton.
»Nein, er ging mit ein paar anderen Herren in Cut und Zylinder, mit denen er sehr gut bekannt zu sein schien. Da sah er wirklich nicht nach einem Matrosen aus, der zur See fährt. Haben Sie einmal Judah Clents Hände betrachtet?«
Der Polizeikommissar schüttelte den Kopf.
»Die gehören keinem Schwerarbeiter, der Taue wickelt und Schiffsmaschinen ölt«, fuhr Mr. Stubbs fort. »Am nächsten Tag reisten wir wieder ab, und einen Tag später kommt Gillian Clent hier zu mir in den Laden, um etwas zu kaufen. ›Ich habe ja Ihren Bruder so lange nicht gesehen?‹ frage ich ganz unschuldig. ›Der ist wohl wieder auf See?‹ – ›Ja, Judah ist nach Archangelsk unterwegs‹, sagt sie. Da haben Sie doch den Beweis!«
Mr. Stubbs schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und nahm einen großen Zug aus seinem Glas, bevor er weitersprach.
»Ich möchte wetten, daß das Haus der Clents ein Hehlernest für geschmuggelte Waren ist. Die lassen sich nicht auf große, schwere Sendungen ein, sondern auf bestimmte hochwertige Dinge, die man leicht transportieren kann. Diese Zollbeamten sind wirklich sehr stupide, die können nur bis zu ihrer Nasenspitze sehen. Aber ich bin doch selbst im Kolonialwarenhandel tätig, und da höre ich verschiedenes. Es gibt zum Beispiel Drogen und Chemikalien, auf denen hohe Einfuhrzölle liegen – da lohnt sich das Schmuggeln schon! Auf Collodium ein Pfund und vierzehn Schilling Zoll pro Gallone! Schwefelsäure – ein Pfund sechzehn Schilling! Dann die französischen Liköre – einundzwanzig Schilling pro Gallone. Und so weiter. In einem leichten Boot kann man eine ganze Menge von diesen Dingen verpacken und sie hier in die Bucht bringen, ohne daß jemand etwas davon merkt. Sie müßten einmal eine Razzia dort abhalten, Captain, dann würden Sie bald herausfinden, womit das Verschwinden Dick Malverys und des jungen Matrosen zusammenhängt!«
Atherton und Blake verließen die Wohnung von Mr. Stubbs sehr nachdenklich. Als sie wieder in das Auto steigen wollten, kam der Zollinspektor auf sie zu, der während der Verhandlung bei der Totenschau eine Aussage gemacht hatte. Er sah den Polizeikommissar bedeutungsvoll an.
»Sie haben doch heute die Andeutungen von Mr. Stubbs gehört?« fragte er. »Wir wissen darüber mehr, als er annimmt, und Sie werden in kurzem erfahren, was wir wissen.«