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Mr. Stephen Pyke hatte seine Geschäftsräume über einem bekannten Laden in der Hauptstraße von Shilhampton. Atherton und Blake fanden ihn in einem Klubsessel, wo er mit dem Durchblättern von Zeitungen beschäftigt war. Er empfing seine Besucher in liebenswürdiger Weise und zeigte kaum Erstaunen, als Atherton ihm erzählte, was sich am Vormittag zugetragen hatte. Er hörte alles an, als ob er die letzten Ereignisse als notwendige Teile einer ganzen Geschichte betrachtete, und schien sich auch nicht darüber zu wundern, daß Atherton ihn wieder aufsuchte.
»Mr. Pyke«, sagte der Polizeikommissar schließlich, »es ist Ihnen doch klar, daß Sie und Ihr Bruder früher oder später als Zeugen unter Eid aussagen müssen, was Sie wissen. Wäre es nicht besser, wenn Sie mir jetzt schon alles anvertrauten?«
»Ich glaube nicht, daß Sie uns zu Aussagen zwingen können. Sie vermuten also wirklich, daß wir mehr wissen?«
»Ja. Wenigstens eine Sache möchte ich erfahren, die Sie neulich abends verschwiegen haben.«
»Nun, und das wäre?«
»Hat Richard Malvery Ihnen gesagt, wer ihm den Scheck gab oder sandte, den Boyce als eine Fälschung erklärte?«
Stephen schüttelte den Kopf.
»Diese Frage möchte ich nicht beantworten, bevor ich nicht mit meinem Bruder gesprochen habe. Und ich glaube nicht, daß wir sie beantworten werden, ohne daß uns die Umstände dazu zwingen.«
»Nun gut, das beweist mir zum mindesten, daß Richard Malvery Ihnen das gesagt hat.«
*
Blake und Atherton fuhren nach Brychester zurück, und erst als sie sich der Stadt näherten, brach Atherton das Schweigen.
»Blake, wenn ich jetzt Boyce Malvery aufsuche, kann ich Sie leider nicht mitnehmen. Ihre Anwesenheit würde die Sache nur komplizieren, da er sehr gegen Sie aufgebracht ist. Da sich die Dinge nun soweit entwickelt haben, muß ich mich einmal über den Scheck mit ihm unterhalten.«
»Ich glaube nicht, daß er Ihnen etwas sagen wird!«
»Nun, das werden wir ja bald sehen«, entgegnete Atherton mit einem kurzen Lachen. »Boyce und ich waren sehr miteinander befreundet, seitdem ich hierherkam, aber in letzter Zeit ist mir manches etwas zweifelhaft an ihm vorgekommen. Wenn die Geschichte der Pykes, die sie uns von dem Scheck erzählten, wahr ist, dann hat Boyce doch keinen Grund, mit seinen Aussagen hinter dem Berg zu halten. Ich werde heute noch ein Wort mit ihm reden. Später kann ich Ihnen ja erzählen, was ich herausgebracht habe – vielleicht ist es aber aus dienstlichen Gründen auch nicht möglich.«
Er setzte Blake im »Kardinalshut« ab und ging zu den Büroräumen des Notars in der High Street. Die Aufgabe, die ihm bevorstand, war weder angenehm, noch leicht. Seitdem Atherton nach Brychester gekommen war, hatten die beiden viel miteinander verkehrt, und das war umso bemerkenswerter, als Boyce Malvery sonst gegen alle Leute sehr zurückhaltend war. Es fiel daher Atherton nicht leicht, den Rechtsanwalt in einer Sache auszufragen, in der er seiner Meinung nach eine recht zweifelhafte Rolle gespielt hatte. Aber Atherton war ohne jede Absicht bereits argwöhnisch gegen Malvery geworden und deshalb fest entschlossen, zu handeln. Entweder brach der Verdacht, den er gegen Boyce gefaßt hatte, in sich zusammen, oder er bestätigte sich. Atherton mußte ziemlich lange warten und wurde dann etwas von oben herab empfangen. Sein alter Freund zeigte nicht das alte, herzliche Entgegenkommen, als er ihm einen Stuhl anbot.
»Sie haben also doch endlich einmal Zeit gefunden, Ihren neuen Freund allein zu lassen und einen alten Bekannten aufzusuchen, Atherton?« fragte er ironisch, während er sich eine Zigarre ansteckte und seinem Besucher den Kasten zuschob. »Es ist lange her, seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe.«
»Reden Sie doch keinen Unsinn, Malvery«, entgegnete Atherton ruhig. »Sie wissen sehr wohl, wieviel ich in der Sache Ihres Vetters zu tun hatte.«
»Sie haben sich viel Arbeit umsonst gemacht. Meiner Meinung nach lassen Sie sich viel zu sehr von diesem Blake beeinflussen.«
Atherton, der zeigen wollte, daß er nicht gegen Boyce voreingenommen war, steckte sich eine Zigarre an und nahm Platz.
»Sie müßten mich eigentlich gut genug kennen, Malvery, um zu wissen, daß ich mich nicht beeinflussen lasse. Sie vergessen, daß ich in meiner Stellung als Polizeibeamter unparteiisch sein muß. Was ich bis jetzt getan habe, war unbedingt notwendig.«
»Ich kann diese Notwendigkeit unter keinen Umständen einsehen. Die ganze Sache erscheint mir so lächerlich! Es hat doch keinen Sinn, etwas geheimnisvoll zu machen, was gar nicht geheimnisvoll ist.«
Atherton lachte gutmütig.
»Im Gegenteil! Die Sache ist wirklich rätselhaft.«
»Kein bißchen!« entgegnete Boyce entschieden. Unwillkürlich nahm er die Haltung an, in der ihn Atherton schon häufig vor Gericht gesehen hatte. »Ich sage Ihnen, was daran geheimnisvoll erscheint, ist nur Mache. Also hören Sie auf mich. Sie haben mir noch nicht die Möglichkeit gegeben, mich zu der Sache zu äußern, denn Sie haben ja die ganze Zeit in der Gesellschaft dieses Blake zugebracht.«
»Das ist zwar nicht ganz richtig, aber sprechen Sie nur weiter.«
»Jeder, der meinen Vetter Richard Malvery etwas genauer kennengelernt hat, weiß ebensogut wie ich, daß er ein vollständig verantwortungsloser, leichtsinniger Mensch war. Vor allen Dingen änderte er seine Meinung wie eine Wetterfahne. Fragen Sie doch die Leute in der Stadt. Die können Ihnen sagen, daß man sich auf ihn in keiner Weise verlassen konnte. Wenn er einen Entschluß gefaßt hatte, war eine Viertelstunde später wieder alles über den Häufen geworfen. Niemand kann mich davon überzeugen, daß der Aufenthalt in einem rauhen, fremden Land ihn von Grund auf ändern konnte!«
»Ich höre eifrig zu«, meinte Atherton, als Boyce eine Pause machte.
»Ich will Ihnen ja gern zugestehen, daß alles, was Sie über Richard Malvery in Erfahrung gebracht haben, wahr ist oder daß es der Wahrheit sehr nahekommt. Wir wollen einmal annehmen, daß er am Abend des 27. Februar tatsächlich in Brychester auftauchte, daß er mit dem Wagen des alten Abinett fuhr, daß ihn Briscoe sah, daß er heimlich in Malvery Hold war und dort tausend Pfund in eine Schublade legte –«
»Das sind erwiesene Tatsachen, dabei gibt es doch nichts mehr anzunehmen. Ich habe die Banknoten selbst gesehen.«
»Bis dahin nehme ich auch alles als wahr an. Ich gebe auch zu, daß er später noch nach Shilhampton ging. Aber weiter gehe ich nicht. Ich habe meine eigene Ansicht darüber, was dann passierte.«
»Ich würde sie sehr gerne hören.«
»Nun gut«, fuhr Boyce gleichgültig fort. »Meine Ansicht gründet sich auf eine genaue Kenntnis von Richards Charakter. Bedenken Sie, er hatte fünfhundert Pfund in der Tasche. Das muß doch für einen Menschen wie ihn eine sehr große Versuchung gewesen sein. Als er nach Malvery Hold kam, hat sein Vaterhaus sicher keine große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Sie kennen ja das alte Haus gut genug. Also ist er einfach auf und davon. Vielleicht nach Paris, vielleicht auch nach Monte Carlo. Möglicherweise ist er auch irgendwo überfallen worden und hat so sein Ende gefunden. Es ist aber ebenso leicht möglich, daß er plötzlich wieder in Brychester auftaucht und Sie auslacht, weil Sie so viel Aufhebens seinetwegen gemacht haben. Ich sage Ihnen, Atherton, es existiert nicht der geringste Beweis, daß Richard Malvery in dieser Gegend blieb oder daß er hier von irgendeinem Mißgeschick ereilt wurde. Und wenn Sie noch so viel Nachforschungen anstellen, wird es Ihnen nicht gelingen, etwas herauszubringen!«
Die letzten Worte sagte er halb ironisch, halb trotzig, dann bückte er sich, nahm den Feuerhaken und begann in dem brennenden Holz herumzustochern.
»Malvery«, sagte Atherton, der einem Impuls folgte, »ich möchte Ihnen doch etwas Neues mitteilen. Wir haben heute morgen dort drüben in der Gegend von Malvery Hold einen Toten gefunden!«
Boyce ließ den Feuerhaken plötzlich fallen und wandte sich mit aschgrauem Gesicht an seinen Besucher. Auf seiner Stirn stand Angstschweiß.
»Was sagen Sie da?« rief er entsetzt. »Einen Toten?«
»Warum erschrecken Sie denn so furchtbar?« fragte Atherton scharf, denn die Veränderung in Malverys Wesen gab ihm zu denken.
»Haben Sie die Leiche erkannt? War es Richard Malvery?« fragte Boyce erregt.
»Nein, er war es nicht.«
Boyce riß sich zusammen, ging mit einem rauhen Lachen zu dem Schrank in der Ecke, nahm eine Whiskyflasche und einen Siphon heraus, schenkte sich ein Glas ein und leerte es mit einem Zug. Allmählich kam wieder Farbe in sein Gesicht.
»Verdammt noch einmal«, sagte er mit einem krampfhaften Versuch, unbefangen zu erscheinen. »Warum werfen Sie mir so alarmierende Nachrichten an den Kopf? Ich bin tatsächlich sehr erschrocken. Wissen Sie denn nicht, daß ich in letzter Zeit hochgradig nervös bin?«
»Ich dachte, Sie hätten Nerven von Eisen und Stahl.«
»Nein, das stimmt nicht. Mein Herz ist auch angegriffen. Wenn es Richard gewesen wäre – denken Sie doch einmal, was das für mich bedeutet hätte! Wer war es denn?«
Atherton erzählte ihm, was sich ereignet hatte, und erwähnte auch die Aussagen der Pykes. Während er sprach, gewann Boyce allmählich sein Selbstbewußtsein wieder, und als Atherton geendet hatte, stand wieder der kühle und kritische Boyce Malvery vor ihm.
»Ist das alles?« fragte der Rechtsanwalt. »Ihr Bericht von der Auffindung des Toten und von dem Brief, den Sie bei ihm fanden, bestätigt doch nur, was ich gesagt habe. Dick hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, irgendwohin zu gehen, statt nach Haus zurückzukommen. Deswegen schickte er ja seiner Schwester die Nachricht. Es ist doch ganz klar, daß er sich zuerst ein paar Tage amüsieren wollte. Vielleicht lebt er auch jetzt noch in einem Rausch von Vergnügen, wenn er Glück beim Spiel gehabt hat.«
»Ich glaube, daß Richard mit einer ganz bestimmten Absicht fortging.«
»Welche Absicht sollte denn das gewesen sein?« fragte Boyce verächtlich.
»Er wollte die Zwischenperson auffinden, die ihm Ihren Scheck übermittelte«, erwiderte Atherton und beobachtete Boyce scharf. »Oder die wenigstens vorgab, daß dieser Scheck von Ihnen stammte.«
»Es ist gut, daß Sie diesen Zusatz machen.«
Der Polizeikommissar wandte keinen Blick von dem Rechtsanwalt.
»Sie sollten mir alles sagen, was Sie wissen, Malvery; Sie wissen so gut wie ich, daß das ein wichtiger Anhaltspunkt ist.«
»Nein, ich werde Ihnen nichts sagen«, entgegnete Boyce schroff.
Dann bemerkte er, daß ein Klient auf ihn warte. Atherton verabschiedete sich und ging. Aber er fragte sich an diesem Tag noch häufig, warum Boyce Malvery solches Entsetzen gezeigt hatte, als er von der Auffindung eines Toten hörte.