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Hans Hinnik – warum geht er mir gerade heute durch den Sinn? Macht es die schwüle Sommernacht am Ruder, oder gibt es Mächte, die den Toten rufen können?
Hans Hinnik – das war ein Mensch für sich, eigenartig und wunderlich schon in jungen Jahren. Ich entsinne mich, daß er als Kind einen scheuen Blick hatte und die vor ihm stehenden Leute nie recht ansehen konnte. Aber das Ferne, Weite sah er ruhig, fest und groß. Er sprach nicht so viel als wir anderen Jungen, aber er sprach lauter: er war wohl der kleinste unseres Rudels, aber auch der gebräunteste.
Er wagte alles und gewann – nichts.
Die Gedanken liefen ihm zu weit voraus.
* * *
Einmal hatte es nachts etwas gefroren. Über die seichten Grüppchen zwischen den Wiesen glitten, ›glinserten‹ wir mit großem Geschrei. Dann kamen wir an den breiten Landscheidegraben, der das hamburgische Finkenwärder von dem lüneburgischen Finkenwerder trennt. Unter der dünnen Eisdecke drohte die schwarze Tiefe.
Einige von uns warfen Steine und Kluten auf das Eis, andere hielten sich an den Erlen fest und versuchten, mit einem Bein auf der glatten Fläche zu stehen. Ganz hinauf getraute sich keiner – nur Hans Hinnik. Der überlegte eben, wie er (wenn er drüben wäre) von der anderen Seite abspringen wolle, maß fünf Schritte zum Anlauf ab, schnellte auf das Eis und – brach in der Mitte des Grabens ein. Wir hatten Mühe, ihn herauszufischen, denn er war mit dem Kopfe unter das Eis geraten – aber von dem Tage an stand er bei uns groß angeschrieben, und wir sorgten dafür, daß er bald auch bei den andern Jungen »as 'n fixen Kirl bi de Klütenpann« galt.
Diesen Ruf behielt er. »Jumpten« wir über die Gräben und kamen wir dabei an breite Stellen, die keiner überspringen mochte, dann war Hans Hinnik es, der aus den Holzpantoffeln schlüpfte und mit Hurra in den Graben stürzte. Gab es Obst zu trollen, dann war Hans Hinnik es, der sich als erster über die Kästelten schwang und seiner Lage nicht entgehen konnte. Nahmen wir Krähen- und Elsternester aus, dann war Hans Hinnik es, der in den höchsten Baum kletterte und vier Wochen lang mit verbundenem Kopf umherlaufen mußte.
Seine Hasenjagd auf der Wisch, sein Storchangeln auf dem Fall, der Ochsenritt auf dem Westerdeich, die Binsenschiffahrt nach Nienstedten hinüber – alles endete bös, aber als ein herzhafter Junge leuchtete er vor uns allen.
Ich sehe ihn noch.
Und auch das letzte von Hans Hinnik weiß ich noch so gut, als wenn es erst gestern gewesen wäre, – und ist doch schon fünf Jahre her ...
Heiß und rauchdunstig war es in Madams Saal an jenem Sonntag. An den Wänden perlten helle Tropfen, die Fenster waren beschlagen und unter der Decke sammelte sich das Gewölke.
Ornd, der schon an die dreißig Jahre bei Klaus Mewes als Knecht fuhr, saß vorn am Tisch und högte sich, daß er zwei Wohltäter gefunden hatte, junge, lebensfrohe Fischer, die erst kurze Zeit mit neuen Kuttern unterwegs waren. Eigentlich waren es Judas-Silberlinge, denn er hatte ihnen heimlich verraten, daß Guste Mewes diese Reise mit zur See führe. Er wußte wohl, daß beide bannig nach der blonden Deern guckten, und weil er das Geheimnis lediglich deshalb preisgab, um ihr die Seefahrt so moi wie möglich zu machen, so wollen wir keinen Seeamtsspruch über ihn fällen, über den Schalk von Ornd mit dem faltigen, glatten Gelehrtengesicht.
Guste stand hoch und stolz in der Reihe der andern geschmückten Mädchen und sprach mit ihren Freundinnen. Nach den Junggästen zu gucken, die die andere Seite des langen Saals einnahmen, hatte sie nicht nötig. Ihre festen Tänzer, junge Kutterschiffer, waren ihr gewiß. Unter einem Kutter und unter einem Schiffer tat sie es nicht, und die bevorzugten Fünf oder Sechs sorgten auch schon selbst hinlänglich dafür, daß kein Knecht oder gar ein dreister Koch an sie kam. Wen sie am liebsten hatte, blieb allen verborgen: mehr als gelacht und gescherzt hatte sie eigentlich noch mit keinem, von einigen Gutnachtküssen abgesehen.
Frei war sie und frei war auch ihr Blick. Ein starkes, blühendes Geschöpf, kerngesund, dazu wetter- und seefest. Das vor allem war ihr Stolz, denn darin war sie allen Mädchen vom Deich voraus, die die See noch kaum gesehen hatten. Guste aber war noch jeden Sommer einige Reisen mit hinaus gewesen.
Es freute sie, daß es morgen wieder seewärts gehen sollte, und sie dachte mit Wohlgefallen an die See und an die lustige Fischerei. Da draußen um Helgoland war es besser als hier, wo sie sich begaffen lassen mußte wie eine auf der Bühne!
Vor der Schenke stand Hans Hinnik und rührte angelegentlich seinen Grog um. Er war spät gekommen und hatte noch kein einziges Mal getanzt. Eigentlich hatte er überhaupt zu Haus bleiben wollen, aber seine Mutter hatte ihn weggejagt, damit er einmal unter Leute komme und sich auch einmal als Schiffer zeige. Denn Hans Hinnik hatte sich einen Ewer von Blankenese gekauft: zwar war es nur ein alter Kasten, aber es war doch immer ein Ewer.
»Schullst man een utgeben up dien nee Schipp«, lachte einer, der früher mit ihm zusammen gefahren hatte, aber Hans Hinnik löffelte ruhig seinen Grog und kehrte sich nicht an den Spötter.
Als er indessen gleich danach die hintere Wand des Saales betrachtete nach Kindergewohnheit, da kam es ihm vor, als seien aller Augen auf ihn gerichtet, den Schulhäuptling, als wunderten sie sich alle, daß er so untätig und still dastand, und als erwarteten sie eine Tat von ihm. Er dachte weiter darüber nach und nahm sich vor, ihnen einmal etwas vorzutanzen. Sein Blick überflog die bunte Reihe der Mädchen und blieb an Guste Mewes hängen, der besten Deern. Er hatte noch niemals mit ihr getanzt, obgleich sie als Kinder viel zusammen gespielt hatten, aber heute, wo er Reeder und Schiffer geworden war, wollte er einmal mit ihr tanzen. Das schien es auch zu sein, was sie von ihm erwarteten, oder er kannte sie schlecht.
Mit eins trat er in die Mitte des Saales und rief laut gegen die Musikantentreppe:
»Walzer!«
Viele hörten es und sahen ihn belustigt an. »Hans Hinnik will danzen, Hans Hinnik will danzen ... Du, lapp man nich de Snut ... Krieg man keen Dreucheeber vör'n Steven! ...« Derart waren die Zurufe, die ihn umschwirrten. Die Musik fing mit lautem Gebrumm an zu spielen, und Hans Hinnik bahnte sich einen Weg durch die andrängenden Mädchen, bis er vor Guste stand. Etwas scheu, aber auch trotzig nickte er ihr zu mitzutanzen, aber sie tat, als sähe sie ihn nicht und winkte Jan Greun heran, der mit Ornd am Tisch saß. Jan stand auch sofort auf und kam heran. Als ob nichts geschehen sei, nahm Guste dessen Arm und trat mit ihm vor.
Hans Hinnik stand da wie ein Narr und begriff das Spiel, das mit ihm getrieben wurde. Heftig faßte er Guste an: »Wullt du nich mit mi danzen?«
»Jan is eher kommen«, gab Guste scharf zur Antwort.
»Dat is nich wohr, Guste«, schrie Hans Hinnik erregt, aber Jan schob ihn nachdrücklich an die Seite, lachte breit und laut und sagte mit gutmütigem Spott:
»Danz du man mit dien Zegenbuck!«
In diesem Augenblick legten die Musikanten mit gewaltiger Lungenkraft los, wie sie stets zu tun pflegten, wenn ein Streit im Saal entstand, und Hans Hinnik wurde von den tanzenden Paaren fast umgerissen.
Als aber der Schnellwalzer zu Ende war, standen die beiden jungen Seefischer einander Aug in Aug gegenüber.
»Jan Greun, du müßt nich meenen, wat du allens moken kannst«, sagte Hans Hinnik, sich mühsam beherrschend, aber der riesige Jan lachte ihn aus: »Ruhig Blot, Hans Hinnik, anners kriegst du de Utsettung!«
»Wullt free Deel?« fragte da aber Hanns Hinnik ausbrechend, und Jan sagte vergnügt: »Jo! Kumm man her, wenn du'n Kirl büst!«
Freedeel – der alte Schlachtruf pflanzte sich im Saal fort, und das Tanzen hörte für eine Weile auf. Die Spielleute legten die Blasdinger weg. Die Deerns stellten sich auf die Stühle und Tische, damit sie besser sehen konnten. Die Jungen aber drängten zusammen und schlossen einen weiten Kreis um die beiden Kampfhähne, damit keiner ungerechten Beistand erhalte. Gleichwohl bildeten sich erregte Gruppen hin und wieder. Auch die Friedensstifter waren am Werke.
Zuerst hatte es ein großes Gelärm und Hallo gegeben, – nun wurde es aber allmählich stiller und stiller.
Denn was sich fassen wollte, waren keine Handwerksburschen. Das waren auch keine unvernünftigen Jungen, die nach dem ersten Glas Grog übereinander herfallen.
Jans riesenhafte Kraft war bekannt am Deich. Er zog ein Boot allein aufs Bollwerk und schleppte den schweren Hamenanker fünfzig Schritte weit, und wenn es sein mußte, hievte er auch die Kurre ohne Hilfsmann ein, – niemand mochte mit ihm anbinden. Aber auch dem gewandten, stewigen Hans Hinnik trauten sie etwas zu. So erweckte diese Schlägerei eine große Spannung im Saal.
Hans Hinnik schüttelte trotzig den Kopf, dann riß er sich von den Männern des Friedens los und ging Jan auf die Jacke. Es wies sich bald, daß er dem Riesen nichts anhaben konnte. Wie er auch zuschlug und sprang, wie er auch riß und zerrte: fest, wie auf seinem Deck stand der große Jan auf dem glatten Saal und ließ seinen Gegner ruhig in Schweiß kommen.
So rangen sie lange miteinander, bis es dem Kleinen gelang, dem Großen einen heftigen Stoß unters Kinn zu versetzen.
Da gröhlte Jan Greun laut wie beim Rüschen mit der Kreek: »Reine Bohn! Arms und Been köst Gild!« – und kegelte Hans Hinnik den Saal entlang, daß es zu hören war. Hans Hinnik warf sich blitzschnell mit dem Gesicht auf den Boden und bedeckte sich mit den Händen den Kopf, um die Fäuste nicht so stark zu fühlen.
Jan kniete auf seinem Rücken und hatte ihn mit der Linken im Genick gepackt. Die Rechte hob er zum Schlage.
Da nahm aber ein großer Haufe der Junggäste den Part des Unterlegenen: »Jan Greun, lot em los!« scholl es drohend.
»Kommt ji ok man noch mit her,« rief der Riese, »denn is't een Afwaschen!«
In diesem Augenblick trat aber auch Guste Mewes dazwischen. Sie hatte sich in den Kreis gedrängt und beugte sich zu Jan nieder: »Lot em los, Jan,« bat sie dringend.
Auch Jacob, der zweite von Ornds Wohltätern, legte sich ins Mittel: »Fierobend, Jan,« sagte er.
Da stand Jan auf, wieder Herr über sich, und drückte Guste die Hand.
Die Musik fiel brausend ein, und der Ring löste sich.
Hans Hinnik aber schlich gesenkten Hauptes hinaus und wriggte unter dem schweigenden, sternklaren Heben nach seinem Ewer hinaus.
Er wußte nicht, wer im Saal für ihn eingetreten war, und daß sein Heldentum unter den Junggästen zu neuen Ehren gekommen war, daß sie wieder anfingen, seinen Mut zu rühmen, das wußte er auch nicht. Er glaubte, sie lachten nun alle über ihn, und er kroch beschämt in seine Koje.
* * *
Es war noch nicht Hochwasser am andern Morgen, da standen auf Klaus Mewes' Kutter schon alle Segel, und das Geklapper der Ankerwinde schallte lustig über die Schallen und Fallen. Guste ging auf dem Deck auf und nieder und blickte nach dem Deich mit seinen Linden und Eschen, der mehr und mehr zusammenschrumpfte, wie die Elbe sich erweiterte und vergrößerte.
Wie ein Traum aber ging der gestrige Abend ihr durch den Sinn, und er verflog auch jetzt im hellen Sonnenschein noch nicht ganz. Sie war nicht recht zufrieden mit sich selbst.
Der Wind war so südlich, daß sie schier dalsegeln konnten, und so schlank, daß der prächtige Kutter mit guter Schnelligkeit elbabwärts segelte. Neben ihm flimsten Jan und Jakob mit ihren Fahrzeugen. Guste hatte erst ein wenig die Unterlippe hängen lassen, als sei es ihr nicht recht, daß ihr Geheimnis verraten war, aber dann erwiderte sie doch den lauten »Guten Morgen« der beiden Junggäste und freute sich, daß sie nun auch auf See Nachbarskinder um sich haben sollte.
In ihren weißbunten Buscherumpen standen die beiden da und hielten sich viel aufrechter als sonst, sie befahlen und riefen ihren Leuten auch viel mehr und viel lauter als zu anderer Zeit, so daß die kluge Guste mitunter laut auflachen mußte.
Hinten vorm Fleet und vor dem Nienstedter Fall erschienen Segel über Segel, und eine Menge von Ewern und Kuttern folgte den dreien. Aber deren Vorsprung war zu erheblich, und es waren zu gute Segler, als daß sie hatten eingeholt werden können. Auch die aus dem Schatten des Süllbergs hervorgleitenden Blankeneser Ewer blieben zurück.
Es war ein schöner und zugleich machtvoller Anblick, die vielen braunen Segel und bunten Steven auf dem Wasser stehen zu sehen, und Ornd konnte es nicht lassen, Guste darauf aufmerksam zu machen.
»Dat hett doch wat up sik mit Finkwarder,« sagte er schmunzelnd, und Guste nickte ernsthaft.
Der Wind frischte auf. Als sie bei Schulau um die Huk bogen und die Schoten weiter wegfieren konnten, kamen die ganzen Lappen aus Sicht.
Sie blieben aber nicht lange allein, denn bald nachher puddelte sich ein kleiner schwarzer Ewer um die Ecke und schob sich langsam aber ständig näher. Alle Segel standen – vom Klüver bis zum Nackenhut. Aber was für Segel waren das? Grau und braun und weiß und gries, über und über mit großen Flicken bedeckt und doch zerrissen. Und das Fahrzeug erst: wie sah es aus! Der Bug mochte zu Störtebekers Zeit einmal weiß gewesen sein, nun aber hatte er sicher schon jahrelang keinen Teer und keine Farbe mehr gesehen und erinnerte, ebenso wie der ganze Rumpf, an altes Bollwerk.
Klaus Mewes lachte, daß eine Schar von Möwen aufflog, die auf dem Wasser geschlafen hatte:
»Dat is Hans Hinnik mit sien Admirolschipp.«
Jan fand es auch sehr spaßig. »Hans Hinnik mit sien Amerika,« gröhlte er herüber.
Auch Jakob mochte sein Vergnügen daran haben. »S. M. S. Hans Hinnik,« rief er laut.
Der alte Ornd aber lachte nicht mit.
»Dat is Hans Hinnik,« sagte er ernst und bedeutsam.
»Hans Hinnik?« fragte Guste und auch sie konnte nicht lachen. Wohl sah der Ewer ärmlich und erbärmlich aus, aber zum Lachen war das nicht.
»Jo,« sagte Ornd, »den Eber hett he sik ihr güstern von Blanknees köft.«
Da erschrak Guste heftig, denn nun wußte sie mit einem Male, warum Hans Hinnik sie gestern abend zum Tanz aufgefordert hatte. Vorher hatte sie gemeint, der Grog sei ihm zu Kopf gestiegen gewesen.
»So'n lütten, scheeben Putt to fief Groschen«, spottete Klaus, da kam er aber bei seinem Knecht schlecht an: »Beeter 'n lütt Schipp as gorkeen«, sagte er laut, »beter 'n Groschen bor betoln as 'n Doler schüllig blieben!«
»Mit de Dodenkist güng ik nich no See«, ließ sich der Junge vernehmen, der zeigen wollte, daß er auch schon ein fahrensmännisch Gespräch führen könne, »de leckt as 'n Sift un is mörr un verrott, un de Seils könnt jeden Ogenblick dol dönnern.«
»Hans Hinnik is nich so'n Bangbüx as du un dien Sippschupp«, wies aber Ornd ihn zurecht. Er hielt sonst nicht viel von Hans Hinnik, weil der vom andern Ende des Deiches stammte, was ihm gleichbedeutend mit Butenlanner war, aber daß der Junggast mit seinen paar Schillingen den alten, morschen Seelenverkäufer angegriffen hatte, den kein Mensch hatte haben wollen und der kaum noch Feuerholz abgab,– das galt bei Ornd, der schon dreißig Jahre auf ein eigenes Fahrzeug hinsteuerte und es nicht hatte und nicht kriegte.
Die geflickten Segel näherten sich immer mehr. Der alte Putt von Ewer erwies sich als ein ganz ausgezeichneter Segler. In einem Abstand von 20 Faden überholte er langsam den Meweskutter, und die helle Sonne beschien erbarmungslos all seine Risse und Schrammen.
Guste wollte wegblicken, aber sie vermochte es nicht. Mit Gewalt zog es ihre Augen nach dem alten Schiff hinüber, und sie konnte nicht anders, sie mußte Hans Hinnik ansehen.
Er stand an Steuerbord auf den Luken und war mit Knütten von Kurren beschäftigt. Mit Eifer war er dabei. Nadel und Scheeger flogen herüber und hinüber, und Masche reihte sich an Masche. Daneben aber überflog er das Fahrwasser und die Segel und gab dem Rudersmann an, wie er zu steuern hätte.
Da mußte auch Guste sich wundern, denn daß ein Schiffer auf der belebten Elbe, unter Segel, mit den Augen steuerte und mit den Händen knüttete, das hatte sie noch niemals gehört und gesehen.
Und hätte nicht der Ärger über den unheimlichen Segler die Oberhand bei ihrem Vater gehabt, so hätte der wohl laute Bemerkungen darüber gemacht. So aber schwieg er.
Gerade als Mast auf Mast stand, blickte Hans Hinnik nach dem Kutter hinüber und sah Guste an. Groß und fragend, als sähe er sie zum erstenmal, und als wunderte er sich über sie. Und sie blickte nicht zur Seite: ruhig und groß erwiderte sie seinen Blick. Das war ein Augenblick der Herzen. Gustes Augen baten: vergib! Er verstand es, und seine Augen leuchteten auf. Da lächelte sie ganz geheim.
Den nächsten Augenblick aber war das alles vorüber. Die Gaffeln knarrten, das Wasser schäumte, und Hans Hinnik wandte sich wieder seiner Kurre zu.
Der kranke Ewer riß die Führung an sich. Da wurde es doch stiller auf den Kuttern. Daß sie sich von dem Jammerkasten schlagen lassen mußten, war um so ärgerlicher für Jan und Jakob, als es vor Gustes Augen geschehen war.
Guste aber überkam eine kindliche Fröhlichkeit, über die sie sich selbst nicht klar werden konnte und die ihrem verdrießlichen Vater ein vollständiges Rätsel war.
* * *
Dwars von Wangeroog fischten sie nun schon drei Tage nach Schollen inmitten von vielen andern Finkenwärder, Blankeneser und Kranzer Fischerfahrzeugen. Der Fang war nicht schlecht, er brachte zehn Stiege im Streek, aber gut konnte man ihn auch nicht nennen, zumal die Schollen auch nur klein und mager waren. Guste hatte in diesen Tagen oft den Kieker vor den Augen gehabt und die weite See abgesucht, hatte auch manches bekannte Fahrzeug entdeckt, aber von dem kleinen, schwarzen Ewer hatte sie nichts erblicken können.
Gegen Abend wurde es schwül und so totstill, daß das Kurren aufgegeben werden mußte. Im Westen stiegen blaue Wolkenmassen aus der See, in denen es mitunter schon schwach aufleuchtete.
Auf der langsam und schwer atmenden See schwammen die schwarzen Tümmler, und ab und zu tauchte der Kopf eines spähenden oder luftholenden Seehundes auf. Die Möven flogen nach Süden, und auch die Ewer zerstreuten sich nach und nach: so daß nur die drei Kutter noch beisammen waren, als es anfing, zu dämmern.
Alle Segel hatten die Fischer einstweilen noch stehen lassen. So dümpelten und kreisten die Fahrzeuge umher, völlig willen- und wehrlos in der Gewalt der Meeresströmung.
Bei Klaus Mewes saßen sie zu viert auf den Luken und waren beim Abendbrot. In der Kajüte war es zum Ersticken heiß.
Guste aß kaum. Immer wieder spähte sie über das Wasser und suchte nach dem Ewer. Ihr graute vor der kommenden Nacht, und sie wünschte doch das Gewitter herbei, damit sie wieder frei atmen mochte. Am Deich hatte sie lächelnd vor dem Fenster gestanden und ruhig in den Blitz gesehen: aber hier, auf einem kleinen Stück Holz, kam doch eine große Furcht über sie.
Da hinten – – – im Westen, wo es weiß aufzuckte, da war wohl auch der Sturm schon unterwegs, und ein kleiner Ewer mühte sich wrack und leck mit der Dünung ...
Da – ein wirbelnder Wind strich in kurzen, warmen Stößen über die See und starb wie er geboren war. Die Fischerleute hatten schon die Hände an die Taue gelegt, denn beim Gewitter werden alle Segel niedergeworfen: jetzt besannen sie sich noch eine Weile.
Die Lichter wurden angesteckt, und ihr müder Schein spiegelte sich auf der Dünung.
Der Windstoß aber hatte ein Fahrzeug mitgebracht, das nun aus der Schummerei herantrieb. Es war ein Ewer, wer es aber war, ließ die zunehmende Dunkelheit nicht erkennen.
Mit ihm aber krochen die Wolkenberge aus dem Wasser, stiegen höher, und dann griff es mit Riesenarmen über den ganzen Himmel. Eine neue Windflage schnob heran und harfte das Vorspiel auf den Wanten. Donnernd und schlagend flogen die Segel auf Deck und Luken nieder, und kahl ragten die Masten und Taue in die Nacht hinein.
Der fremde Ewer klüste näher, und auch auf ihm fielen die Segel.
Als Guste durch das Nachtglas guckte, erkannte sie deutlich und mit großer Freude, daß es Hans Hinnik war. Er lebte, lebte!
Hans Hinnik! Da – wenn die Blitze leuchteten und See und Schiff wie mit Geisterhänden in die Höhe hoben, dann erkannte sie ihn. Er stand unter den Giekbäumen und riß die Segel zurecht. Als er mit seinen Leuten das getan hatte, band er sich eine Laterne an die Wanten und fing wieder an, Kurren zu knütten.
Wie mochte er bei so schwerem Wetter noch arbeiten?
Rollend, in immer kürzeren Abständen, hallte der Donner über die See, und die ersten, großen Tropfen prasselten auf das Deck. Da warf Hans Hinnik seine Kurre unter das Grotseil, stülpte den Südwester auf den Kopf, zog den Ölrock an und ging auf dem Achterdeck auf und ab.
Guste sollte in die Kajüte, aber sie wollte nicht. So mußte sie denn in den geölten Rock hinein und bekam einen Südwester aufgesetzt.
Der Heben tat sich auf, und der Gewittersturm brach in einer gewaltigen Flage herein. Die See erwachte aus ihrem Halbschlummer und setzte sich weiße Kronen auf, damit sie ihrem wilden Freier gefalle. Wie Nußschalen trieben die schweren Fahrzeuge hin und her und kamen ziemlich weit auseinander. Aus allen Ecken quollen die Blitze, und die Masten klangen bei den schweren Donnerschlägen, als sei mit der Axt daran geschlagen worden.
Hans Hinnik hatte sich an den Setzbord gestellt, möglichst weit aus der gefährlichen Nähe der Masten, und sah starr nach dem Kutter hinüber, denn er hatte Klaus Mewes inzwischen gesichtet.
Nun war es völlig Nacht. Eine Wind- und Regenflage jagte die andere. Steil über ihnen stand das Gewitter und entlud sich mit gewaltiger Heftigkeit. Auch die See kam immer mehr in Wallung.
Es war eine böse Gelegenheit.
Plötzlich flammte im Süden ein roter Feuerschein auf und glomm unheimlich durch Nacht und Sturm.
»Wat is dat?« fragte Guste ängstlich.
»Up Wangeroog brinnt 'n Hus«, antwortete Ornd, aber Klaus schüttelte den Kopf: »Up Wangeroog?
Wi sünd wiet af. Dat is 'n Schipp, dat fluckert up!«
»Man god, wat wi dat nich sünd«, rief der drooke Junge.
»Is dor nich to hilpen?»« fragte Guste.
Ihr Vater verneinte es.
»Nee, bi dütt Wedder nich. Wenn ik 'n groten Damper ünner de Feut harr, denn kunn't woll angohn.«
Guste sah nach dem Ewer und schrie gellend auf: »Hans Hinnik! Hans Hinnik! He will hin!«
Und wirklich: drüben auf dem Ewer war es lebendig geworden. Die Fischer liefen hastig hin und her. Schon stieg die Fock wild klappernd am Stag auf. Dann schlug das Grotseil wie ein tolles Roß um sich, und dann kam die Besan in Wind und Wut. Alles ging in größter Eile vor sich. Schon drehte sich der Ewer, schon reckte er seine Segel, über die die andern so gelacht hatten. Hans Hinnik flog nach dem Ruder und band es fest. Die Segel fielen voll und die Sturmflage warf sich mit solchem Ungestüm darauf, daß das Fahrzeug fast platt aufs Wasser gedrückt wurde. Dann aber luvte es etwas auf und schäumte durch die Seen. Hart an dem Steven des Kutters brauste es vorbei wie der fliegende Holländer.
Guste klomm vornschiffs.
»Hans Hinnik! Hans Hinnik! Bliew hier! Bliew hier!« rief sie angstvoll.
Er hörte es aber nur halb und nahm es für einen Gruß.
»Guste, Guste!« rief er laut und gellend zurück, und es klang beinahe freudig.
»Wat wullt du?« gröhlte Klaus Mewes.
»He schall nich los. He kummt nich wedder!
Der Ewer ging in der Nacht aus den Augen, und der rote Feuerschein schien allmählich zu verlöschen.
* * *
Es soll eine ostfriesische Tjalk gewesen sein, die »Jantjedina« von Westerhauderfehn, mit Getreide von Brake nach Lübeck bestimmt, die in jener Nacht auf hoher See verbrannt ist.
Der schwarze Ewer, der ihr zu Hilfe geeilt war, wie die drei Kutterschiffer bekundet haben, ist längst vom Hamburger Seeamt für verschollen erklärt worden.
Hans Hinnik hat sich aus jener Gewitternacht nicht wieder an den sonnigen Tag begeben. Seine Segel waren zu mürbe gewesen, und seine Planken hatten den anprallenden Seen nicht standhalten können: so konnte er es mit dem schweren Sturm wohl aufnehmen, aber er mußte ihm unterliegen.
* * *
Und auf seiner letzten Fahrt war ihm eine Rose erblüht.
Er aber wußte nichts von ihrem Duft ... der wunderliche Mensch, der alles wagte und nichts gewann.