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Die Kugelbake vor Cuxhaven ist die große Nebelfrau der Elbmündung. Wer sie einmal bei Daak und Dunst über die Watten starren gesehen hat, weiß das. Vordem stand dort bei Nebel und trüber Luft eine Fischersfrau von Döse, ein armes, irres Weib, das ihren verschollenen Mann auf der See suchte; jahrelang hat sie dort gestanden, alle alten Schiffer haben sie gesehen, – bis die riesige Bake sie ablöste.
An dem Balkengestell dieser Bake zog ich die Schuhe aus, streifte die Strümpfe ab, nahm auch meine Mütze in die Hand und watete barhäuptig und barfüßig, von der Sonne erwärmt und von dem salzigen Wasser gekühlt, über das weite Watt dem stillen Duhnen entgegen.
Die auf der Reede von Cuxhaven – twüschen de Baaken, wie die Schiffer sagen – liegenden drei großen, dicken Barken kamen aus Sicht, dafür aber stieg der graue Normannsturm von Neuwerk höher aus den Watten, die beiden binnensten Feuerschiffe der Elbe leuchteten herüber, und vor und hinter ihnen wurde es nicht leer von Schiffen. Krabbenjollen und Fischerewer segelten ein, Tjalken und Gaffelschuner kreuzten seewärts, tiefgehende, schwarze Kohlendampfer zogen zu zweien und dreien ostwärts, Holzdampfer mit gelbleuchtender Decksladung pflügten gen Westen. Sogar hinter der Kimmung, ganz im Norden, hatte der Handel noch schwache Rauchwolken auf der See. Lloydkähne, braunrot, mit großen, gelben Nummern an den Seiten, an langen Trossen hinter ihrem zierlichen Schlepper, klüsten von der Weser herüber. In der Weite standen die dunkelbraunen Segel eines Störfischers regungslos auf dem weißen Wasser, und dahinter tauchten wie Maulwurfshügel die Bäume von Büsum-Hilligenlei auf. Seenot und Seeluft erfüllten mein Herz, als ich vor meinen Füßen nach fliehenden, spinneflinken Krabben und auf der See nach Schiffen suchte. Dann dachte ich an die beiden Türme von Altenbruch, die wir vorher passiert hatten, und an das Schifferwort: »Wenn de beiden Turns upeenanner stoht, denn hett de Froo dat Seggen an Burd,« – also daß die Frau so gut wie gar keine Zeit an Bord zu sagen hat, – an den kleinen, zwergenhaften Mann dachte ich, der mir gegenüber gesessen hatte, mit dünnen Mädchenfingern und einem alten Gesicht, aber mit großen, unschuldigen, neugierigen Kinderaugen, die guckten, als sähen sie zum ersten Male ein Schiff, die von den großen Leuten ängstlich abirrten und sich vertrauend den Kindern zuwandten, – und an das schöne, braune Mädchen dachte ich, mit dem viel zu großen Hut, das von einem Kranze junger Herren und Damen mit heftigen Vorwürfen überschüttet wurde, weil es sich zu lange im Tanzkreis aufgehalten und mit anderen Herren schön getan haben sollte. Erst verteidigte es sich klug und gewandt: ein Mädchen könne nichts tun, das ihm nicht verdacht werde, hörte ich als heimlicher Lauscher heraus; dann, als die Meute nicht nachgab, schwieg es, und seine blaugrauen Augen sahen in die Weite, während seine Lippen zuckten. Nachher kam es an die Reihe beim Rundgesang: es richtete sich auf, warf den Kopf zurück und sang keck, trotzig und übermütig aus dem Rigoletto: »... Ach, wie so trügerisch sind Weiberherzen ...« Je mehr das Mädchen sang, desto lauter und bitterer wurden die Worte »... alles ist Lüge ...« da überwältigte es das Gefühl, und es barg aufschluchzend sein Gesicht und seine Tränen in sein Tuch ... Die Gesellschaft wurde stumm und verlegen und schämte sich fast.
Als ich unter solchen Gedanken eine Stunde der Gilde der Wattenläufer angehört hatte, verspürte ich Hunger, und weil ich etwas Eßbares mitgenommen hatte, suchte ich mir am Dünenrande einen sonnigen Fleck aus und legte mich auf den weißen, reinen Sand nieder, kurz vor den ersten Zelten und Körben von Duhnen.
Zum Zeichen meiner Rast aber steckte ich den langen Erlenstock, den ich unterwegs aufgefischt hatte, fest in den Sand und knotete mein Taschentuch daran, das nun flatternd im Winde wehte. Das war gut so, denn wer weiß, ob Hans Otto sich sonst nach mir umgesehen hätte, oder ob er von so viel Zutrauen erfaßt worden wäre.
Ich saß noch nicht recht, da rief er von weitem: »Ist das deine Fahne? Ist das deine Fahne?«
Und als ich mich umwandte, kam ein sonnenbraunes Kerlchen von vielleicht drei Jahren, nur mit einer Hemdhose bekleidet, in Eile herangestäubt und rief immerfort:
Das war Hans Otto.
Ich mußte seine Frage bejahen. Er winkte, stellte sich neben mich und begutachtete nun die Fahne nach Farbe und Größe, er prüfte, ob der Flaggenstock fest genug stand, ob die Knoten ihrer Bestimmung Genüge leisten konnten, und ob der Wind von der rechten Seite kam. Nach einem Rundgang um den Flaggenhügel wandte er sich wieder mir zu:
»Hast du die Fahne selbst gemacht?«
»Wenn es nicht unbescheiden klingt, mein Junge, ja.«
»Du kannst fix was!« lobte er.
Ich wehrte ab: »Nur mit Einschränkungen, mein Junge, in andern Dingen bin ich ein großer Stümper.«
»Nun weht sie ja nicht mehr,« klagte er dann.
»Man hat es oft am Mittag, daß der Wind mit einem Male einschläft,« sagte ich auskunftgebend. »Die Schiffer draußen auf See wecken ihn dann schnell wieder auf.«
»Wie machen sie das?« begehrte er zu wissen.
»Sehr einfach. Sie kratzen am Mast. Tu du es auch. Ich will dir aber gleich sagen, daß es ein toller Aberglaube ist.«
Und der kleine Kerl bearbeitete den Stock mit den Nägeln so eifrig, daß ich für die Fahne fürchtete und rief aus Leibeskräften:
»Wind! Wind!«
Zufälligerweise frischte der Wind in diesem Augenblick wesentlich auf, und der Kleine freute sich königlich über die Zauberei.
Seine junge Mutter, die drüben in der Sonne lag, rief ihn: »Hans Otto, komm! Komm hierher!« Aber er verwies ihr solche Störung ernstlich mit der keinen Widerspruch duldenden Antwort: »Du, ich hab' jetzt kein' Zeit!« Diese Sentenz wiederholte er mehrfach, sodaß ich darin eins seiner geflügelten Worte anzusprechen geneigt bin.
Als er indessen hinsah, wurde er gewahr, daß seine Mutter ihm auch eine Fahne gemacht hatte: er lief hin und brachte sie schnell in unser Lager, wo wir sie neben meiner aufpflanzten. Wir stellten fest, daß jede ihre besonderen Vorzüge hatte: meine war bunt, seine weiß, meine klein, aber sie wehte hoch, seine groß, aber sie wehte niedrig.
Danach besann Hans Otto sich auf sein Spiel, das er beiseite geworfen hatte, als er meine Flagge flattern sah, und er unterwies mich in seinem ebenso umfangreichen, wie verzwickten Straßenbahnbetrieb, den er ohne Schienen und Drähte nur mittels eines deichsellosen Groschenwagens und mit Hilfe seiner Hände und einer Anzahl Steine und Korkstücke auf dem Strand von Duhnen unterhielt. Ich arbeitete mich allmählich ein und lernte auch die Haltestellen von Hans Ottos Lingelingbahn kennen und – was schon schwieriger war – unterscheiden, die wohl auch die Haltestellen seiner kleinen Lebensreise waren: Sternschanze, Hauptbahnhof, Wilhelmsburg, Altona, Kiel und Blankenese. Die ganze Bahn war eigentlich nur eine Familiengründung, denn Hans Otto beförderte ausschließlich Onkel und Tanten. Und sonderbare Onkel und Tanten waren darunter. Tante Emma zum Beispiel (ein großes Korkstück) war sehr dick und ging nicht gern, weshalb wir sie immer bis zur Endstation mitnehmen mußten. »Onkel Hermann müssen wir stets einen Fensterplatz einräumen, weil er zu gern ausgucken mag.« Tante Wilhelmine war schwerhörig und kurzsichtig – die arme Frau! – und wir mußten ihr deshalb den Namen von jeder Haltestelle ganz laut ins Ohr trompeten. Onkel Fritz war dreist und ging immer mit der brennenden Zigarre in den Wagen, weshalb wir ihn jedesmal auffordern mußten, die Zigarre wegzuwerfen oder nach draußen zu gehen. Weiß Gott, es gab mancherlei zu bedenken und zu beachten!
Als wir unseren Betrieb stillegten, um zu frühstücken, setzte Hans Otto sich neben mich und half mir wacker bei der Mettwurst, mehr noch beim Kuchen und am allermeisten bei den Bananen. Der geneigte Leser mag daraus ersehen, daß Hans Otto ein Leckermaul ist; fragte er aber weiter nach ihm, so bliebe ich stumm, denn ich weiß Hans Ottos Zunamen nicht, auch weiß ich nicht, wo er wohnt. Wir haben einander nicht nach dem Namen gefragt: ich mochte es schon deswegen nicht tun, weil ich als Arbeiter bei der Straßenbahn doch gewissermaßen sein Untergebener war.
Die Einwände seiner kopfschüttelnden Mutter gegen unsere gemeinsame Tafel wehrte ich lachend ab und er mit seiner bekannten und beliebten Redensart: »Du, ich hab' kein' Zeit!«
Nach dem Essen erbot ich mich, dreister geworden, ihm ein Blankenese zu bauen, wenn er mir dabei an die Hand gehen wolle. Er sagte es zu, und wir gingen an den Bau wie die Fronarbeiter an die Pyramiden. Armer, kleiner Hans Otto. Du hattest nicht einmal eine Schaufel und nanntest auch keinen Eimer dein eigen, aber ist es nicht dennoch gut gegangen?
Haben wir nicht unermüdlich mit Händen und Füßen gebaut und gegraben und ausgeschachtet? Haben wir nicht ein breites, tiefes Bett für die Elbe zurechtgemacht und auf ihr Nordufer einen hohen, gewaltigen Berg getürmt, das getreue Abbild des Süllbergs, fast so groß wie du, Hans Otto? Hätte da einer kommen und zweifelnd fragen können: Soll das etwa Helgoland sein? Gewiß nicht, was?
Und als der Berg hoch und breit genug war, haben wir die Abhänge platt und glatt geklopft, ich mit meinen großen Händen und du mit deinen kleinen.
Haben wir dann nicht aus roten Steinen einen Turm auf den Gipfel gebaut, hatte der Turm nicht eine richtige Flaggenstange und wehte von ihrem Topp nicht ein Tanghälmchen als Wimpel? Hast du nicht hundert rote, weiße und blaue Häuser herangeschleppt, Steine und Muscheln, und habe ich sie nicht nach einem großartigen Bebauungsplan über den Abhang verteilt? Entdeckten wir nicht in den Dünen eine Art von Immergrün, vortrefflich geeignet für die Bepflanzung unseres Berges mit Baum und Strauch?
Und als alles fertig war und wir etwas zurücktraten, um es besser überschauen zu können, hat es da nicht überaus prächtig und lustig ausgesehen, unser buntes, großes Blankenese? Sind nicht die Leute bewundernd stehen geblieben, und hat dein kleines Ohr auch nur eine ungünstige Kritik gehört? Von deiner eigenen Freude will ich ja noch gar nicht mal so viel Aufhebens machen, denn du warst als Teilhaber und Miterbauer vielleicht nicht ganz objektiv; aber sind nicht sogar die drei Marineartilleristen, die großen, braunen Gestalten, stehen geblieben, die doch gewiß schon an Brockeswalde und an die Mädchen dachten; haben sie nicht Lobesworte gefunden und nicht gleich auf Blankenese geraten?
Wir können auf alle diese Fragen getrost und freudig Ja antworten, Hans Otto, und wir werden der Wahrheit am nächsten sein. – Wie lange wir noch dagestanden und uns unseres Werkes gefreut haben, ... ich weiß es nicht, wie ich auch nicht weiß, ob die großen Baggerungen in der Elbe, die wir noch unternahmen, wirklich notwendig waren, oder ob sie hätten gespart werden können.
Auch das weiß ich nicht, warum ich dann mit einem Male aufstand und weiterging, Duhnen zu, denn es lag mir im Grunde nichts mehr an Duhnen ...
Du hast mich nicht festgehalten, Hans Otto, als ich dir zum ersten und letzten Male die Hand gab. Nur gesorgt hast du dich, ob ich morgen wiederkäme, und ich habe es bejaht. Ich sehe noch dein betroffenes Gesicht, als ich wegging. Es war, als könntest du nicht glauben, daß ich von dir ginge. Ratlos standest du neben dem großen Süllberg und sahst mir nach. Und wie lange hast du mir nachgesehn!
* * *
Als ich im Abenddunkel mit der »Cobra« zurückfuhr und nach den Feuern und Lichtern der dunklen Elbe guckte, da habe ich an dich gedacht, Hans Otto, und es ist mir sogar aufs Herz gefallen, daß ich dich belog, als ich dir sagte, daß ich am anderen Tage wiederkommen wolle. Wie wirst du nach der Kugelbake blicken, daß ich kommen soll, dein Blankenese von neuem aufzubauen, das die übermütigen Mädchen in der Nacht, als die Matrosen sie zu greifen versuchten, zertreten haben ...
... und nun sitze ich in deinem Hamburg, Hans Otto, zwischen scharrenden Federn und klappernden Schreibmaschinen und blicke in Bücher und auf Papiere, rechne mit Dollars und Peseten und kann es doch nicht verhindern, daß ich geheimerweise auf einen Rechenzettel schreibe: Hans Otto.
Das soll ein Gruß für dich sein!