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Man good! Ein wahres Glück, daß Beeken Schulten nicht selbst des bösen Blickes mächtig war, den sie im Gespräch mehreren alten Frauen des Dorfes anhängte, denn sonst hätte sich Karsten unter den Augen, die sie flagenweise auf ihn warf, sicherlich eine böse Krankheit aufsacken können.
Der Altenteiler bekümmerte sich aber herzlich wenig um sein Ehegesponst. Er lag gemächlich auf der weich mit Wollkissen belegten Bank, hatte die Beine wie zwei Scheunengiebel aufgerichtet, deren Firste seine Knie bildeten, und belüsterte die gemeinen Stubenfliegen unter der geweißten Decke in ihren Lebensgewohnheiten wie ein rechter Naturforscher.
Als Beeken das bemerkte, wurde sie noch ärgerlicher und warf die geschälten Kartoffeln mit solcher Wucht in den neben ihr stehenden Eimer, daß das Wasser über die ganze Dönß spritzte. Auch stach sie den Kartoffeln die Augen so scharf und tief aus wie nie zuvor, in der Hoffnung, Karsten möchte es fühlen. Denn sie war im höchsten Grade unzufrieden mit ihm, weil er niemals aus der Kate zu bringen war, wenn einer beerdigt wurde. Jedesmal drückte er sich – und wenn's sein bester Nachbar war. Am Deich und in den Lannen sprachen sie schon davon: das wußte sie. Es war »rein wat to dull mit em«. Auch diesen Nachmittag spielte er Wruck, obgleich Hein Feldmann begraben werden sollte, ein Bauer vom Landscheideweg, gut bekannt und sogar noch ein bißchen Freund. Als gestern die Totenfrau »angesagt« hatte, war Karsten es gewesen, der erwidert hatte, daß er mit auf den Kirchhof müsse: nun gingen die Weiser der nahen Turmuhr rüstig auf drei, der Küster stand am Schalloch unter der Glocke und blickte den Kirchenweg entlang, um sofort mit dem Läuten anzufangen, wenn der erste schwarze Rock sich zeigen sollte – und Karsten steckte immer noch in seinem Alltagszeug und lag auf der Bank, wie ein türkischer Pascha auf der Ottomane, statt im Abendmahlsrock, mit dem Spint auf dem Kopfe am Fenster zu stehen und auf den Leichenwagen zu warten.
»Sünd doch afsünnerliche Dinger, düsse Fleegen, Moder. Ik belüster jem all een goode Stunn, ober meenst du, wat ik dor leeg ut warr? Nee, Moder!«
Karsten sagte es langsam, aus der geruhigen Tiefe seines guten Gewissens heraus, ohne zu bedenken, daß er damit das Streichholz unter das trockene Strohdach hielt.
»Mit dat Fleegengedriew giffst du di af?« legte Beeken haushoch los. »De Klock is dree un de Liek kann jeden Ogenblick üm de Huk kieken und du hest di noch nich wuschen und noch nich kämmt un nich hier und nich wir! Schomst di nich, du Fleegenjakob! Gliek geihst no de Deel rut und treckst di an!«
»Ik bliew leber liggen, Moder«, versetzte er sorglos. »Wenn de Klock all dree is, denn is' t doch jo all to lot.« Und er legte sich das Kopfkissen wieder etwas bequemer zurecht.
Es sei noch nicht ganz drei: er könne immer noch fertig werden, wenn er nur wollte.
»Nee, Moder, lot man. Ik hebb ok all keen Lust mehr«, erwiderte er und faltete die Hände über der Brust. »Lot mi man bi di blieben. Bi di is't op best, Moder.«
Aber davon wollte sie nichts wissen. Dieser Schmeichelei blieb sie taub, dafür aber entlud sich ihr Groll in einer langen Predigt, die wie eine Gewitterflage über Karsten hereinbrach. Das sage er jedesmal, wenn er zur Beerdigung solle, nicht ein einziges Mal sei er mitzukriegen, jedesmal wüßte er sich anders auszureden. Einmal sei ihm das Wetter nicht zupaß ...
»Ja, Moder, to as Hein-Broder wegkam, wat hett dat ok doch sneet, den ganzen Dag! Dor harr ik mi 'n scheunen Snööf bi upsackt. Un as Korl-Discher beerdigt wörd, to brenn de Sünn as nix godes! Do harr ik licht 'n Sünnenstich bi kriegen kunnt, Moder.«
Gegen diese beiden Leichen wollte sie denn auch noch gar nicht mal was sagen, begann sie wieder, obgleich alle anderen Mannsleute mitgewesen seien, ohne Schnupfen und Sonnenstich zu bekommen. Aber wann er denn woll bloß mal mitgewesen wäre?
»Süll ik mit den olen Jan-Jipper, den olen Slechtmoker, Moder, un dat mit ansehn, wat uns gode Pastur den swatten Dübel witte Engelflüngken anbacken dä? Nee, Moder, dat geiht gegen mien Notur.«
Aber Beeken hatte noch zwischen fünfzig und hundert Lieken im Kopfe, gute, treuherzige Nachbarn, die sich bei gutem Wetter – dreug un scheun to lopen! – hatten beerdigen lassen, ohne daß Karsten mitgegangen wäre und zählte sie ihm nun der Reihe nach auf.
Karsten lag nun ruhig da, aber daß seine Daumen einander jagten, bewies doch, daß er nachdenklich geworden war.
»Moder, ik mag mit de Lieken nix to dohn hebben. Dor ward so veel bi schreet. Un dat veele swarte Tuch mag ik nich sehn. Laß die Toten ihre Toten begraben, steiht all in der Bibel.«
»Mein Gott nochmal«, sagte sie und hub an, ihm das Gute und Schöne einer Beerdigung zu schildern. Ja, im Gange der Rede vermaß sie sich sogar, zu erklären, daß eine schöne Liek das beste auf der Welt wäre. Was gäbe es wohl besseres, als einen guten Freund ein Stück Weges zu bringen oder am Grabe ein tröstliches Wort vom Pastoren zu vernehmen. Wie es wohl aussehen würde, wenn sie alle so dächten wie er, und der arme Tote seinen Weg allein gehen müßte.
»Dat is em eendohnt, Moder, he ward dor nix mehr von wies.«
Aber die Angehörigen würden es gewahr und für die sei eine kleine Liek das schwerste auf der Welt. Beeken fing nun wirklich an zu weinen und fuhr mit der blauen Schürze heftig über die Augen. Der ganze Deich wüßte es schon, daß er niemals mitginge, und es sei gewiß, daß auch keiner mit ihm ginge, wenn er gestorben wäre.
»Mit mi brukt ok keeneen, Moder.«
So? Und wie sie dann dasäße, wenn die Leute darüber sprächen und sie bedauerten, daß niemand mitgewesen sei! Ob es ihm recht sei, daß sie das alles anhören müsse? – Das Weinen konnte er nicht vertragen, – er legte deshalb die Scheunengiebel nieder und setzte sich aufrecht hin.
»Is dat wohr, Moder? Snakt se dor all öber?«
Gewiß täten sie das. Den ganzen Deich entlang. Er bekäme eine schlechte Liek, das könne sie ihm schriftlich geben. »Moder? ... Moder? ... Moder? ... «
»Wat?«
»Sull dat woll noch anners wardn können, wenn ik nu jümmer mit no'n Liek goh?«
»Gewiß, Voder, wenn du gliek anfangst.«
»Moder, weest du wat? Ik will dor nu mol anto – und will mol sehn, wat ik nich noch een groote Liek, een scheune Liek tohoopbeerdigen kann! Ik bün doch anners keen slechten Kerl wesen, wat Moder? Un wenn ik mi von nu af an bi de Lieken een beeten wies, denn krieg ik woll noch welk op den Dutt.«
Das sage er so, – aber er meine es nicht so, er mache nur Spaß. So die Moder.
»Wat, Spoß? Eernst, Moder, Eernst, segg ik di. Wat is de Klock? Noch vör dree! Is de Liekenwogen all to sehn? Nee! Woneem is mien Tüch, mien Hot? Ik will gliek mit mienen olen Hein Feldmann no den Karkhoff hin.«
Da ließ Beeken das Weinen samt dem Kartoffelschälen sein, suchte seine guten Sachen her und half ihm beim Umziehen unter mancherlei guten Ratschlägen, wo er sich während der Rede aufstellen solle, wann er seinen Hut abnehmen müsse, und was sonst noch dazu gehörte.
Und als die Totenglocken über die Baumkronen und Ährenfelder gingen, langsam, zitterig und ernst, und der kleine, schwarze Zug zwischen dem gelben Roggen erschien, da ging Karsten Schult mit den gewichtigen Schritten, wie er sie sich beim Pflügen, noch mehr aber beim Säen angewöhnt hatte, unbekümmert um die erstaunten Blicke des Gefolges, würdevollen Gesichtes die Wurt hinab, wies den Hund, der ihm nachlief, mit einem mißbilligenden Blick zurück und schloß sich der letzten Reihe an. Beeken stand hinter dem blühenden Schuhbaum und sah ihm zufrieden nach. So war es gut.
Etwas müde vom Gehen, aber munter und lebendig, kam Karsten nach einer Stunde vom Kirchhof zurück, hängte den Hut auf, zog den Rock aus und erzählte von der Liek, die ihm weit besser gefallen hatte, als er sich gedacht hatte. Er hatte mit vielen alten Bekannten ein vernünftiges Wort gesprochen, hatte viele Leute erblickt, die er lange nicht gesehen hatte, war von der Rede des Pastors recht erbaut worden, und auch mit dem Gesang der Kirchenjungen war er soweit zufrieden. Er wolle nun so dabei bleiben, schloß er. Und einen hätte er schon: Jan Külper hätte zu ihm gesagt: »Kassen, wenn du starwst und ik bün bi Hus, wat ik nich jüst fischen do, denn goh ik ok mit di. Dat hett he seggt, Moder, eben achter de Krümm hett he dat seggt. Jo!«
Von nun an fehlte der Altenteiler bei keiner Beerdigung, zum gerechten Erstaunen des ganzen Dorfes. Er ging immer mit, auch wenn der Tote ihm weltfremd war. Wenn die Glocken läuteten, stand er ernst und schwarz am Hoftor und trat in Reih und Glied. Mit derselben Zähigkeit, mit der er in jungen Jahren den Deich mitgebaut hatte, ging er jetzt daran, sich eine große Liek zu erwerben.
»Op't Wetter kummt een barg an, Moder«, pflegte er zu berichten. »Bi Regen oder wenn dat dick von Dook is, goht se nich gern mit. Am leefsten hebbt se Sünnenschien. Mütt all so 'n beeten mitlopen, wenn dat een goode Liek wardn schall.»
Beeken nickte zu allem ihr Ja, klopfte und bürstete Rock und Hose fleißig aus und sorgte, daß Karsten von der Ansagefrau nicht übergangen wurde. Karsten aber fuhr fort, die Leute nach dem Kirchhof zu bringen und seine Beobachtungen zu machen.
»Mütt ok de rechte Tied wesen, Moder. Int Freuhjohr, wenn de Buern pleugt un de Fohrenslüd Schullen fangt, kann de beste Minsch von de Welt starben, un he krigt nich för een Schillen mit, Moder.«
Im geheimen aber – unauffällig und nebenbei – erfragte und erhorchte er die allgemeine und besondere Beteiligung bei seiner eigenen Beerdigung, jedoch so schlau er es nach seiner Meinung auch anfing, und so gleichgültig er tat, die Leute merkten doch bald, wo er hinaus wollte. Und bald bekamen die Stutenfrauen es in die großen Körbe gepackt und trugen es von Haus zu Haus, den ganzen Deich entlang, daß Karsten Schult für seine eigene Beerdigung klarke und immer noch Leute dafür annehme. Und bald hatte er auch seinen Beinamen weg: Lieken-Kassen.
Hinnik Stihr, der Führer des Leichenwagens, hielt immer schon einen Augenblick still, oder er fuhr doch etwas langsamer, wenn Lieken-Kassen noch nicht parat stand, und die Träger sagten dann zu einander: »Sinnig, Lieken-Kassen hett sik noch nich wuschen,« ein Wort, das Flügel bekam und noch heutigentags am Deich gebraucht wird. Lieken-Kassen wurde ein volkstümlicher Name und Lieken-Kassen selbst ein volkstümlicher Mann. Die Leute drängten lustig dazu, sich von ihm mit Handschlag und Durchschlagen verpflichten zu lassen, daß sie mit ihm nach dem Kirchhof gingen. Es hieß auch, daß Lieken-Kassen sich ein großes Buch angelegt hätte, in das Beeken (denn er selbst konnte ohne Brille nicht schreiben!) alle Leute eintragen müsse, die sich verpflichtet hätten. So ging das Spiel weiter, bis Karsten die Fischer und Bauern samt und sonders für seine Liek gewonnen hatte. Einige Wunderliche, an denen ihm sowieso nicht viel gelegen hatte, zählte er nicht mit.
»Lieken-Kassen hett sien Hot ut dat Schap kreegen, düsse Nacht mütt een starben«, hieß es bei den Frauen. »Weest du, wat een krank is?« – »De ole Angk.« ... »Denn will de dat woll dropen ...«
Je mehr die Leute sich mit ihm beschäftigten, desto mehr hängten sie ihm an.
»Lieken-Kassen hett sien Rock no den Snieder schickt: düsse Week starwt keen.«
Die dreisten Jungen aber riefen wohl übermütig: »Geef uns een Appel, denn goht wi ok mit di no'n Liek!« – und lachten, wenn er schalt oder den Hund hetzte.
Als Hans Bott, der Elbfischer, starb und begraben werden sollte, war es ein nebliger Tag, naßkalt und ruselig, daß Beeken sich ins Mittel legte und ihn bat, diesmal zu Haus zu bleiben. Aber Lieken-Kassen wollte davon nichts wissen: er hätte so viele Botten zu Buch, daß er ihnen das nicht antun könne.
Damit ging er hinaus in all den Regen, obschon ihm die Zähne klapperten. Als der alte Mann dann beim Vaterunser bloßen Hauptes dastand und Regen und Wind mit seinen grauen Haaren spielten, da dauerte es den Pastor, und er betete etwas schneller, als es sonst seine Art war; aber es war dennoch zu viel geworden, denn Lieken-Kassen klagte gleich nachher, als er die Wurt erreicht hatte:
»Moder, de kolen Grösen treckt mi dör. Dat wür doch bannig ruch.«
»Denn man gau op'n Bett«, entschied Beeken und suchte hinter dem Spiegel nach den getrockneten Kamillen und im Eckschrank nach den Hamburger Tropfen.
Aber Kamillentee und die von Karl dem Fünften allergnädigst privilegierte Wunderkronessenz konnten es nicht wieder gutmachen. Den dritten Tag mußte Beeken den Doktor holen lassen und am siebenten auch noch den Pastor.
Mit ihm setzte Karsten die Hauptpunkte seiner Leichenpredigt fest und bedang sich aus, daß seiner Leichengängerei keine Erwähnung getan werden dürfe.
»Wat meenen Se, Herr Pastur, sull dat woll een goode Liek wardn?«
»Gewiß, Karsten Schult, es werden alle mit Ihnen gehen«, tröstete der Pfarrer.
»Dat möt se ok, Herr Pastur. Se hebbt mi dor all de Hand op geben«, sagte Lieken-Kassen nachdrücklich.
Als der Pastor gegangen war, da fragte er Beeken, ob viele Fischerewer da seien, und als er hörte, daß der Weststurm wohl ein Hundert hergejagt hatte, da ließ er die Totenfrau rufen und trug ihr auf, bei allen Fahrensleuten anzusagen, daß er diese oder die andere Nacht sterbe: sie sollten nicht erst fahren, sondern seine Liek abwarten. Beeken schrie auf und jammerte von Sünde, aber Lieken-Kassen lächelte, wie über einen gelungenen Streich, und die gut entlohnte Witfrau richtete ihren Auftrag noch denselben Abend aus.
»Ehr dat se wedder fohrt,Moder«, sagte Karsten leise. »Dat ward de grötste Liek, de dat jichens geben hett.«
»Och, Voder, snack doch nich so.«
»Moder, ik weet, dat dat ut is. Lot jem man nich dösten un nich hungern, Moder, disch jem man düchdig op, dat se all tofreden sünd. Un schree man nich soveel, anners kriegt se nich all jemmer Recht.«
»Och, Voder.«
»Sinnig, Moder, sinnig! Ik hebb dor nu genog an dohn.«
»Lieken-Kassen is dot!« – »Och wat!« – »Jo, jo, würklich, so as he anseggen loten hett, is he ok sterben.« – »Wat kann dat angohn!«
So hieß es am Deich andern Tages, und die Seefischer mußten nun doch zwei Tage mit dem Fahren warten und ihr Wort halten, das sie Karsten bei den Beerdigungen der letzten fünf Jahre gegeben hatten.
Und als zwei Tage um waren, gingen sie alle hinter Lieken-Kassens Sarg und mit ihnen alle Bauern und alle Geschäftsleute. Selbst die paar Wunderlichen gingen aus Neugier mit. Einen solchen Leichenzug, so lang und so dicht, hatte weder der Deich, noch der Kirchenweg jemals gesehen, darüber waren alle einig. Und im Zuge wurden neue Legenden von Lieken-Kassen erzählt.
Es war aber auch ein ausgesucht schönes Wetter, Sonnenschein und Westwind. Die Glocken klangen voller und lauter als je, denn der Küster wußte wohl, für wen er läutete, auch hatte er einen Taler mehr bekommen, als Satz war.
Die Chorjungen sangen auch einen Gesangbuchvers mehr als gewöhnlich. Da mußten die Leute sich wieder wundern. Auch der Pastor machte sich keineswegs leicht davon ab: er sprach recht schön und mit Betonung.
»Dat is würklich een scheune Liek«, sagten die Fahrensleute, als die Glocken wieder erschollen und sie durch das gelbe Korn nach dem Deich zurückgingen.
»Jo, bloß schod, dat Lieken-Kassen dat nich beleewt hett. De harr gewiß ok mit gohn«, sagte Jakob Möller, der lustige, und das Wort lief wie ein heiteres Gelächter durch die Reihen.
* * *
Ja, es war eine schöne »Liek«, und es war wirklich schade, daß Lieken-Kassen sie nicht erlebt hatte.
Er wäre gewiß gern mitgegangen.