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2. Kapitel

Ich bin oftmals im Leben, und namentlich in meinem Berufe als Arzt, über den merkwürdigen und unerklärlichen Einfluß erstaunt gewesen, den ein menschliches Antlitz in unserer Seele zurückläßt, das nicht allein überaus schön und edel ist, sondern einen unklar und nebelhaft in uns liegenden Keim zu wecken scheint und dadurch, wir wissen selbst nicht wie und warum, unserer Stimmung eine Richtung gibt, die sie vorher nicht hatte. Von jenem Eindruck rede ich, der wie ein geistiger Wink, ein Ausfluß von oben uns überrascht, den wir nicht bezeichnen, sondern nur empfinden können, der, schnell wie der Blitz sich in unser Herz grabend, uns mit Teilnahme erfüllt.

Warum zieht uns dieser tiefe, ruhige, unbefangene Blick des doch nur menschlichen Auges so unwiderstehlich an? Warum klopft unser Herz diesem auf jener Stirn sichtbaren Herzen entgegen? Was will dieser stumme Mund uns, was wollen wir der schweigsam uns gegenüberstehenden Erscheinung sagen? Jenes edle, so ruhige und so schöne Gesicht schwebte mir jetzt wie eine wesenlose Erscheinung vor, die ich in mir zum Wesen gestalten wollte, und was unsere Phantasie einmal erst mit Wärme erfaßt hat, das hält sie mit dauernder Kraft, nach allen Seiten es ausforschend, entwickelnd, Umfang, Inhalt und Tiefe des neugeschaffenen Problems zu ergründen suchend.

Bei aller Ergebung und männlichen Fassung, die auf diesem ausgezeichneten Antlitz thronte, lag etwas auffallend Trauriges in seinen blassen, ich möchte sagen, ein unseliges Geheimnis verbergenden Mienen. Das aber war die Traurigkeit des Wahnsinns nicht, die mir so oft in ihren stark ausgeprägten Zügen entgegengetreten war, nein! diese sanfte, stille und ergebene, doch aber nicht stumpfe Traurigkeit sah aus, als wenn sie aus einer zwar kummervollen und gepreßten, aber doch entschlossen und nur dem Geschick unterliegenden Seele käme. Aus ihr erst mochte der Wahnsinn allmählich entsprungen sein, nachdem die Hoffnungslosigkeit in Verzweiflung übergegangen war. Ja, nur so konnte dieser Mensch gefallen sein, dessen Zustand mir nun klarer wurde. Wenn aber diese Traurigkeit vielleicht zu heben, diese Hoffnungslosigkeit zu erhellen und diese Verzweiflung zu vernichten war, konnte dann nicht auch der Wahnsinn selbst zu besiegen sein? Ich muß gestehen, dieser Anschein hatte etwas für sich, was mich mit Hoffnung erfüllte. Ach! und um diese marmorne Stirn, die den Stempel des Göttlichen so unverfälscht trug, in dem leidenden Zuge um den gepreßten Mund, in dem strahlenden Blicke dieses tief dunklen, eine so klare Seele verratenden Auges lag etwas so unaussprechlich Verständiges, Geistreiches – Geistreiches? Kann ein Wahnsinniger geistreich sein? Gibt es doch viele Wahnsinnige, die, nur in einer einzigen Richtung abirrend, im Übrigen ganz gescheite, außerordentlich begabte und vorurteilsfreie Menschen sind!

Als ich in meinem Zimmer allein war, rief ich mir die ganze soeben gehabte Erscheinung wieder vor Augen. Ich brauchte nicht lange zu rufen, sie hatte schon Boden in mir gewonnen und saß fest in der Tiefe meines geistigen Seins; denn jene hohe, gebieterische Stirn stand immerwährend und unverrückt vor meinem Auge. Ich besichtigte meine beiden Zimmer, was ich stets auf Reisen zu tun pflege, ehe ich mich niederlege, aber wenn ich aus dem einen Zimmer in das andere trat, glaubte ich die dunkle, große Gestalt mit dem duldsam geneigten Kopfe und der unnachahmlichen Haltung vor mir stehen und mich fragend anblicken zu sehen.

Endlich legte ich mich nieder und schloß die Augen; da war sie auch da, und erst nach vielem Bemühen, den Schlaf zu erjagen, schlief ich endlich wirklich ein, aber ich träumte von ihr.

War es eine dunkle Ahnung, die mir andeuten wollte, wie das Geschick jenes Menschen mit meinem Verhalten in einer noch unbekannten Verbindung stehe? – ich weiß es nicht, aber es war so, und ich nahm es willig auf, indem ich beschloß, aufmerksam und des Augenblicks gewärtig zu sein.

Als ich am nächsten Morgen nach einem unruhigen Schlafe erwachte, fielen schon die Strahlen der Sonne in mein Gemach. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn ich besann mich auf Alles, was ich am Abend vorher gesehen, gedacht und geahnt, was ich im Traume zum zweiten Male durchlebt hatte.

Da klopfte es an meine Tür und der Direktor trat herein.

»Aha!« rief er, als er mich noch im Bette sah, »Sie sind also ein Langschläfer, nun, das wird sich bald ändern. Hier ist man früh wach, denn es gibt viel Arbeit, und Sie werden es schon lernen, mit uns des Morgens tätig zu sein.«

Ich wollte mich entschuldigen, als er lächelnd erwiderte:

»Sagen Sie nichts, ich scherze nur. Schlafen Sie aus, und wenn es Ihnen genehm ist, kommen Sie alsdann zu mir hinüber, dann will ich Sie mit der Einrichtung unserer Anstalt bekannt machen.«

»Ich werde sogleich aufstehen«, antwortete ich, »in einer halben Stunde stehe ich zu Ihren Diensten.«

»So will ich Ihnen Ihr Frühstück senden und Sie in einer halben Stunde selbst wieder abholen. Adieu!«

Bald nach seinem Weggehen erschien ein halb blödsinniger Knabe, den man mir zum Diener gegeben zu haben schien, denn er besorgte auch meine Kleider und brachte mein Frühstück. Nachdem ich dasselbe eingenommen, kam der pünktliche Mr. Elliotson wieder, nahm meinen Arm und führte mich im Hause umher.

Ich erlaube mir, eine treue Schilderung von dem Zustande zu geben, in welchem ich dieses wegen seiner Einrichtung und seiner umfassenden Mittel mit Recht berühmte Irrenhaus antraf.

Was zunächst die Baulichkeit desselben und seine nächste Umgebung anbelangt, so war das Gebäude, wie ich schon erwähnt habe, ein sehr großes, durchaus massives, erst vor einigen Jahren wieder neu ausgebautes Haus, das aus einem Hauptgebäude und zwei Flügeln bestand, welche letztere, vorn und hinten weit über die Vorder- und Hinterfront hinausreichend, ein Stockwerk mehr trugen und so das Ansehen zweier stattlicher Türme hatten.

Die ganze rechte Abteilung des Gebäudes war für die weibliche, zahlreichere Hälfte, denn es werden überall mehr Frauen als Männer wahnsinnig, die linke für die Männer bestimmt. Über einem sehr wohnlich eingerichteten Erdgeschoß erhoben sich drei große Stockwerke, deren oberstes mit einem halbflachen Zinkdache versehen war, die sämtlich aber durch große und vergitterte Fenster von gleicher Größe erhellt wurden.

Die ungeheure Vorderfront des Gebäudes, von einigen vierzig Fenstern Ausdehnung, sah in den Blumen- oder Erholungsgarten der Anstalt, in welchem die Männer und Frauen abgesondert zu bestimmten Stunden des Tages die freie Luft genießen und sich an dem reizenden Anblick und dem Duft der Blumen erquicken konnten.

Große, grüne Rasenplätze wechselten anmutig und regelmäßig mit buschreichen Anpflanzungen ab; an dem zierlich erhaltenen Kiesweg entlang zogen sich teils üppig grünende Buchsbaumhecken, teils waren sie von einem dichten Gehege duftender Lavendelblumen eingefaßt.

Schattige Lauben, mit Bänken und Tischen versehen, reihten sich zu beiden Seiten aneinander, und außer ihnen, ebenfalls unter einem schattigen Gebüsch oder an einen breiten Baumstamm sich lehnend, boten sich den Ermüdeten bequeme Sitzbänke dar.

An den äußersten Grenzen dieses Erholungsgartens waren zu beiden Seiten breite, dunkle Weingänge gezogen, die mit ihrem reichen Blätterschmuck überall die hohe Mauer verdeckten, die auch hier, wie hinter dem Gebäude, die ganze Anstalt umfaßte.

In der Mitte dieses einladenden Aufenthaltsortes sprang täglich auf einem runden, mit Wasserblumen besetzten Rasenstücke ein dreißig Fuß hoher Wasserstrahl, der aus dem großen Wasserbassin in der Badeanstalt gespeist wurde und von welchem aus biegsame Lederschläuche nach allen Teilen des Gartens liefen, nicht allein ihn zu bewässern, sondern auch in der heißen Jahreszeit die Luft abzukühlen bestimmt.

Dieser Teil der Anstalt war, wie gesagt, nur dem Vergnügen und der Erholung der Bewohner derselben geweiht.

Hinter dem Hause aber lag der bei weitem größere, mit schönen uralten Bäumen geschmückte, von breiten Kieswegen durchschnittene und ebenfalls mit gefälligen Ruheplätzen besäte Park.

In ihm befanden sich, durch Hecken und Zäune voneinander abgesondert, die Räume für die Spiele, die gymnastischen Übungen und die zur Kur notwendigen Arbeiten der Irren.

Hier sah man zuerst einen großen Platz, zum Zerkleinern des Holzes bestimmt, eine Arbeit, die überall für eine vortreffliche Beschäftigung Gemütskranker gilt.

Dicht daneben war die sogenannte Rennbahn, ein mit weichem Sande bestreuter großer Platz. Hier zogen die Kranken zu ihrer Belustigung und zur Übung ihrer Kräfte das Seil; hier liefen sie um die Wette, hier übten sie sich im Ringen und Springen.

Dann kam die Kegelbahn, sehr beliebt und fleißig besucht. Sie trennte die Rennbahn von dem freien Ballplatze, der ebenfalls ein großer Lieblingsaufenthalt für viele Spiellustige war und von wo aus man denn auch stets ein lautes Rufen und Jauchzen vernahm.

An den Ballplatz schloß sich der sommerliche Fechtplatz, wo mit Degen von Holz und Korbgeflecht und von Einigen, denen man größeres Zutrauen schenken konnte, auch mit eisernen unter steter Aufsicht und Anleitung der dazu angestellten Lehrer gefochten wurde.

An diesen Raum lehnte sich der allbeliebte Turnplatz, und hier vorzüglich war es, wo man die seltsamsten Übungen, die sonderbarsten Anstrengungen und die bisweilen vollendetsten Geschicklichkeiten der im Allgemeinen scheuen, nur in einzelnen Fällen tollkühn sich abarbeitenden Menge sah.

Nach dem Turnplatze folgte die Reitbahn, die im Winter überdeckt werden konnte; denn auch für diese wohltätige Leibesübung war vortrefflich gesorgt und die duldsamsten Schulpferde standen dicht daneben in den massiven Ställen.

Hinter diesen Spiel- und Übungsplätzen lagen die Küchen- und Obstgärten, die meistenteils unter Anleitung zweier Gärtner von den Irren selbst bestellt wurden. Übrigens nahmen Männer und Weiber an diesen Arbeiten teil; doch nie arbeiteten die verschiedenen Geschlechter zu gleicher Zeit und an gleichem Orte.

Ich war von dieser Ausstattung angenehm überrascht und konnte nicht umhin, dem Direktor meinen ungeteilten Beifall darüber auszudrücken. Er schien sich über meine Bemerkungen zu freuen, und ich erfuhr von ihm, daß dies nach und nach entstanden sei und jedes Jahr erweitert und den Umständen gemäß verbessert wurde.

»Aber die Kosten, mein lieber Sir, wo kommen die her?«

»Das ist unsere geringste Sorge, denn sie müssen wissen, daß wir von Seiten des Staates einmal reich begabt sind, dann aber auch sowohl durch reichliche Spenden und Vermächtnisse zahlreicher Gönner, wie auch durch einen vortrefflich verwalteten Grundbesitz unterstützt werden; weshalb denn auch die, Ihnen vielleicht übermäßig erscheinende Besoldung der hier Angestellten möglich ist. Namentlich sind unsere beiden Arzte vortrefflich gestellt. Ärzte müssen gut gehalten werden, wenn sie ihre schwere Pflicht mit Liebe und Selbstaufopferung üben sollen, denn es gibt keinen edleren, aber auch keinen mühevolleren Beruf als den ihrigen. Tag und Nacht ohne Ruhe, stets für das Wohl anderer tätig besorgt, muß die kurze Mußestunde, die ihnen von ihrem sauren Tagewerke übrig bleibt, sorgenlos und angenehm verfließen können, damit sie neue Liebe und Kraft zu ihrem Werke finden.«

Dieses Gespräch fand statt, als wir uns aus dem Parke in das Innere des Hauses zurückbegaben, um auch dies zu besichtigen.

Durch das große Eingangstor, wenn man vom vorderen Garten hereinkam, trat man in eine Art geräumiger Vorhalle, die von den aufwärts führenden Treppen durch eine verschließbare Glaswand geschieden war und von deren hochgewölbter Decke eine glänzend polierte metallene Lampe, die vom Einbruch der Dunkelheit an bis zum hellen Morgen mit sechs großen Flammen brannte, herabhing. Steinerne, breite Treppen führten doppelt gewunden hinauf in die höheren Stockwerke und hinab in die hellen und weiten Räume des Erdgeschosses.

In diesem letzteren befanden sich die Küchen, die Vorratskammern, die Wasch- und Rollstuben und ebenso die Wohnungen der Hauswarte, der Köche, der Mägde, der Waschfrauen und vieler anderer Personen, die in dem großen Hause zu allerlei Dienstverrichtungen gebraucht wurden.

Die langen und von Zeit zu Zeit durch Glastüren verschlossenen Korridore waren breit, hell und hoch und durch eine hinreichende Anzahl vortrefflicher Lampen hell zu erleuchten.

Jetzt traten wir in das erste Stockwerk. Die Zimmer desselben waren fast glänzend eingerichtet. Im ersten Teile des Hauses befanden sich die Wohnungen der Oberbeamten: des Direktors, des Predigers, der Ärzte, des Verwalters, des Apothekers, mehrerer Lehrer und vieler Anderer, auch waren hier die Besuchszimmer gelegen, also auch die meinigen. Von den Zimmern der Ärzte und des Direktors liefen sinnreich konstruierte Schallröhren in die oberen Stockwerke, mittels welcher sie Alles vernehmen, aber auch ihre Befehle schleunigst hinaufsenden und ebenso schnell hinaufgerufen werden konnten.

In der linken Hälfte des Hauptgebäudes befanden sich die Bibliothek, die Apotheke, die Bandagen- und Instrumentenkabinette und mehrere größere und kleinere Säle, wie z. B. der Konferenzsaal, das Billard- und Lesezimmer der Beamten, einige Erholungs- und Gesellschaftssäle für die Irren, sowie ebensolche für den Unterricht und verschiedene Männerarbeiten bestimmt.

In dem linken Flügel, innerhalb des sogenannten Turmes, lag die ziemlich große Kirche der Anstalt, die, würdig, aber einfach geschmückt, mit einer sehr wohlklingenden Orgel versehen war.

Im rechten Flügel des unteren Stockwerkes lagen die Säle für die weiblichen Handarbeiten, die Spinnstuben, die Lernzimmer und die Unterhaltungssäle für die Frauen und Mädchen.

Das zweite und dritte Stockwerk war gleichmäßig einfach, aber höchst zweckdienlich ausgestattet. Hier nämlich lagen die Krankensäle und kleineren Krankenzimmer in einer langen Reihe nebeneinander, die Privatzimmer in den Flügeln, die allgemeinen im Hauptgebäude. Die jüngeren Leute, männliche und weibliche, wohnten im dritten Stockwerk, die älteren im zweiten, damit sie nicht so hoch zu steigen brauchten.

Zwischen je zwei Krankenzimmern befand sich jedesmal ein Wärterzimmer, welches groß genug war, vier Wärter bequem beherbergen zu können, die sich zwei und zwei nacheinander ablösten, so daß jederzeit zwei im Krankensaale verweilten. Bei den Frauen waren dies natürlich Wärterinnen, ältere und jüngere, größtenteils Frauen derer, welche bei den männlichen Kranken denselben Dienst verrichteten. Es waren dies sämtlich sehr verständige, auserlesene und kräftige Personen, die wohlunterrichtet und gut besoldet wurden und welche vor ihrer förmlichen Anstellung eine bestimmte Lernzeit durchmachen mußten.

In den Flügeln beider Seiten lagen außerdem die Badestuben und die sonst zur Kur notwendigen Örtlichkeiten mit den dahin gehörenden Gerätschaften.

Namentlich aber waren die Badestuben und die dazu erforderlichen Räumlichkeiten mit einem gewissen Luxus und allen möglichen Bequemlichkeiten ausgestattet. Da waren Dusch-, Staub-, Tropf-, Dampf-, Sturzbäder und alle die mannigfaltigen Abarten derselben.

Außerdem befand sich dort ein großes Billardzimmer mit zwei Billards darin für die Kranken.

Die Krankensäle selbst waren höchst reinlich, luftig und hell. Die Erleuchtung geschah durch vortreffliche, am späteren Abend grün beschattete Lampen.

Die weiß überzogenen, reinlichen Betten, auf eisernen Rollfüßen beweglich, standen in zwei parallellaufenden langen Reihen, eine an den Fenstern, die andere an der entgegengesetzten Seite. An dem Kopfende eines jeden Bettes stand eine Art Tisch, mit verschließbaren Fächern und Kasten versehen, am Fenster eine Kommode, am Fußende ein Stuhl und ein stets mit weißem Sande gefüllter, zierlicher Spucknapf; über dem Bette hing ein kleiner Spiegel und die den Kranken bezeichnende sogenannte Nationaltafel; die anderen notwendigen Bedürfnisse lagen hinter einer grünen Gardine verborgen.

Die Privatzimmer waren natürlich nach den Mitteln und dem Geschmack ihrer Bewohner eingerichtet, doch sah ich nur wenige davon, denn ich wollte den Besitzern derselben mit meiner Neugierde, die fast allen Kranken so lästig ist, nicht beschwerlich fallen.

Auf jedem Treppenabsatze in jedem Stockwerke, ebenso an jeder Wendung des Hauses war ein Türsteher angestellt, der das Aus- und Eingehen der Kranken und die Besucher überwachte.

Den Privatzimmern gegenüber lag jedesmal ein Wärterzimmer, denn jeder Einzelne dieser Kranken hatte seinen eigenen Aufseher oder Aufseherin, die jedoch unter sich von vierundzwanzig zu vierundzwanzig Stunden abwechselten.

Im rechten Flügel endlich, der Kirche im linken gegenüberliegend, befand sich der große Konzertsaal der Anstalt, der über fünfhundert Personen faßte, ein ungeheurer, hoher und weiter Raum, der auch für Theatervorstellungen hergerichtet werden konnte, denn auch für diese Art von Erholung war in St. James vortrefflich gesorgt. Von der Decke dieses Saales hingen drei große prächtige Kronleuchter herab; die Wände matt rosenrot, mit sinnig abgeteilten Feldern, in denen Blumenstücke gemalt waren, zählten auf jeder Seite vier kleine Nischen, in welchen sich kleine Statuen befanden, von denen jede einen kleinen gläsernen Wandleuchter hielt, so daß, wenn bei einer Feierlichkeit alle Lichter brannten, hundertundzweiundfünfzig Flammen den Saal erleuchteten.

Die acht Fenster in diesem Saale konnten durch wolkenartig gearbeitete weiße Vorhänge verschlossen werden.

Der Platz für das Orchester war etwas erhöht, der übrige Teil des Saales mit Stühlen und Bänken vollständig besetzt.

»Das Alles ist ganz vortrefflich, Sir«, sagte ich zu dem Direktor, der mich auf alle Einzelheiten aufmerksam machte, »ich habe nie etwas Ähnliches an Zweckmäßigkeit, Geschmack und Eleganz gesehen.«

»Ja! und nun sollen Sie unsere Musik hören«, erwiderte er, »da werden Sie erst staunen. Dieser versöhnende Geist ist eins unserer kräftigsten und beliebtesten Heilmittel, und erst seit drei Jahren sind wir vollständig mit allen nötigen Instrumenten und ihren Spielern versehen. Sehr viele Irre haben bisweilen eine wahre Leidenschaft für die Musik und die Erlernung von musikalischen Instrumenten. Man begreift erst die beruhigende Wirkung dieser göttlichen Kunst, wenn man Gelegenheit hat, sich so davon zu überzeugen, wie wir sie haben. Alle Sinne der Wahnsinnigen sind mehr oder weniger stumpf; der des Gehörs allein, und zwar des Gehörs für Musik, scheint feiner ausgebildet zu sein als die anderen, was mir ein Beweis ist, daß beim Wahnsinn das Gefühlsvermögen bei weitem entwickelter ist als irgendein anderes. Daher ist denn auch bei uns die Musik das letzte und kräftigste Beruhigungsmittel für die Aufregung der Leidenschaft und die Überspannung der Nerven.«

»Sie mögen Recht haben«, unterbrach ich ihn, »zumal die Erfahrung auf Ihrer Seite ist, aber Sie werden mir die Bemerkung erlauben, daß die Musik nicht immer beruhigt, im Gegenteil, sie regt sogar bisweilen auf.«

»Ganz gewiß! Aber diese Klippe umgehen wir dadurch, daß wir unsere Musikstücke nach unserem Zwecke wählen oder diejenigen Kranken von der Aufführung ausschließen, bei denen doch noch irgendeine Aufregung zu fürchten wäre.«

»Aber woher nehmen Sie die vielen Musiker, die zu einem ordentlichen Orchester gehören?«

»Das scheint in der Tat schwieriger als es ist. Nicht allein fast alle unsere Beamte sind musikalisch und spielen die verschiedenartigsten Instrumente, sondern auch einige Irre sind ausgezeichnete praktische Musiker, ja, wir haben sogar einige Komponisten darunter, und was nun unsere Musiklehrer betrifft, so leisten sie das Möglichste, und sie werden auch durch ihre glücklichen Erfolge ermuntert, denn ihre Schüler machen ihnen Ehre und diese selbst streben nach Beifall und Lob, denn der Mensch, auch der Verrückte, ist nie ohne Ehrgeiz. Übrigens musizieren wir fleißig, denn wir geben regelmäßig alle Jahre vier große Konzerte und alle acht Tage ein kleines, und dann teilen wir für die vorzüglichsten Leistungen angemessene Preise aus. Zu diesem Behufe haben wir auch einen Musikorden gestiftet, und Sie werden die Inhaber desselben mit Stolz und erhobenem Selbstgefühl ihre unschuldigen Insignien tragen sehen und leien können, welche Nacheiferung eine solche Belohnung hervorzurufen im Stande ist. Ebenso geben wir regelmäßig jedes Jahr zwei Theatervorstellungen, und wenn Sie so lange hierbleiben, wie Sie uns versprochen haben, so sollen Sie sich von dem Nutzen derselben und den Freuden, die sie schaffen, genügend überzeugen. Doch diese Seite unserer Bestrebungen ist vorzugsweise Sache des Oberarztes, der sein ganzes Augenmerk auf diese Kurart gerichtet hat.«

Die Kranken selbst, die wir auf ihren Zimmern trafen, fand ich alle mit etwas Nützlichem beschäftigt; sie erhoben sich sämtlich bei unserem Eintreten und erwiesen dem Direktor durch eine Verbeugung ihre Achtung und ihr Wohlwollen.

Übrigens fand ich alle Gattungen von Irren, wie sie gewöhnlich in Irrenhäusern gefunden werden, auch hier vor. Von den Stumpf und Blödsinnigen, die mehr Tieren als Menschen gleichen, an, den sogenannten Melancholischen, die die Einsamkeit lieben und düstere, schwere Blicke um sich werfen, dann den eigentlichen Narren, die ewig schwatzen und nirgends Ruhe finden, bis zu den Tobsüchtigen hinauf, die teils durch Zwangsjacken, teils durch ernsthaftere Mittel unschädlich gemacht werden müssen, sah ich alle die traurigen Übergänge dieser leider so häufigen und bei den übertriebenen Anforderungen und steigenden Bedürfnissen des jetzigen Lebens immer mehr und mehr sich ausbreitenden entsetzlichen Krankheit.

Was die Kleidung der Kranken betrifft, so bestand die der Ärmeren allgemein in reinlichen, leinenen, blau und weiß gestreiften Beinkleidern und Überröcken, anständigen Halstüchern, dunkelblauen Tuchwesten und wollenen Strümpfen und Schuhen; die Frauen waren dementsprechend gekleidet. Die Bemittelteren dagegen, besonders die Privatkranken, die ihr eigenes Zimmer bewohnten, kleideten sich nach ihrem eigenen Geschmack; nur füge ich die Bemerkung hinzu, daß närrische und übertrieben luxuriöse oder kokette Kleidungen, sogenannte Phantasieroben, nicht geduldet wurden.

Auffallend war mir die Menge junger und wirklich recht hübscher, sogar einiger schöner Mädchen, die alle mehr oder weniger geschmackvoll, viele gar elegant und reich gekleidet waren.

So hatte ich denn die meisten Krankenzimmer besucht, und ich hatte alle Ursache einzugestehen, daß viele meiner Erwartungen übertroffen worden waren.

Die Wohnung des Irren von St. James aber, nach der ich ein so lebhaftes Verlangen trug, war mir nicht gezeigt worden, auch erwähnte der Direktor ihn gar nicht, obgleich er mich auf einige andere Privatkranke aufmerksam gemacht hatte. Gern hätte ich etwas Näheres über ihn erfahren, allein ich beschränkte noch meine Neugierde, indem ich mir vornahm, erst meine eigenen Beobachtungen über ihn zu sammeln, bevor ich mir die genauere Auskunft von seinen Pflegern erbat.

Hierauf führte mich Mr. Elliotson in seine eigene Wohnung, die ich wie das vornehmste Haus in London ausgestattet fand. Bei dem zweiten Frühstück, welches ich hier mit meinem gastfreien Wirte einnahm, hatte ich auch das Vergnügen, den Prediger der Anstalt näher kennenzulernen, der zufällig eben in die Türe trat, als der Kork von der ersten Flasche gezogen ward.

»Haha, Mr. Bromfield!« sagte der Direktor lächelnd, »Sie können keinen Propfen springen hören, ohne dabeisein zu müssen.«

»Sagen Sie lieber, ich habe ein gewisses Ahnungsvermögen, wo einer springen wird«, antwortete Mr. Bromfield, »denn sonst hätte ich unmöglich so schnell hiersein können, da der interessante Knall geschah, als ich gerade zwischen Tür und Angel stand.«

»Sie haben doch keinen Schaden von dem Schreck davongetragen, wie?«

»O nein, Sir! Sie wissen ja, ich liebe derartige Geräusche und habe auch viel dergleichen in meinem Leben gemacht«, setzte er mit einem heiteren Blick auf mich hinzu.

Dies waren die ersten Worte, die ich den Geistlichen von St. James in meiner Gegenwart mit dem Direktor wechseln hörte, und ich schloß daraus, daß Beide auf einem guten Fuße miteinander standen; auch ging das Gespräch noch eine Weile in ähnlicher Art fort, und ich konnte hinlänglich bemerken, daß Mr. Bromfield ein lustiger Gesellschafter und eben kein Duckmäuser war. Meine späteren Erfahrungen über ihn bestätigten denn auch diese Meinung vollkommen; er war gerade das Gegenteil davon.

Übrigens war er ein höchst origineller Mensch, der außer seinem weißen Halstuche mit lang herabhängenden Zipfeln, und seinem langen, bis weit über die Knie herabreichenden schwarzen Rocke nichts Priesterliches an sich hatte. Sein Gesicht war ohne Bart, immer heiter und von einer etwas rötlichen Farbe, besonders aber fielen mir seine lebhaften Augen auf.

Mr. Bromfield war bei weitem mehr der Geselligkeit und ihren reellen Freuden als den abstrakten Studien einer in zu enge Grenzen gewiesenen Wissenschaft zugetan, und er wollte sich auch jetzt, glaube ich, für die vielen Schicksalsprüfungen, die er hatte bestehen müssen, dadurch schadlos halten, daß er den Rest seines kostbaren Lebens wie ein echter Lebenskünstler hinbrachte. Denn er war früher als ein guter Kanzelredner berühmt, in einer kleinen wohlhabenden Stadt Englands Pfarrer gewesen, hatte aber diese einträgliche Stelle, ich weiß nicht aus welchen Gründen, verlassen und sich zufolge eines Befehls auf ein königliches Schiff verfügen müssen, das für eine drei Jahre dauernde Weltumseglungsreise bestimmt war.

Mr. Bromfield nahm jede Gelegenheit wahr, sich von den guten Sitten der Bewohner der Welt zu unterrichten, und er zog eine dreijährige Wasserreise einem vielleicht ebenso lange dauernden Aufenthalte an einem langweiligeren Orte, wo es auch sehr viel Wasser gab, vor. Der gute Mann kehrte nach überstandener Prüfungszeit nach England zurück, und es ist kein Wunder, daß ein so langes Verweilen unter so vielen Wilden, die er gesehen, ihn eben nicht viel zahmer gemacht hatte, und so sah er sich genötigt, auch aus dem beschwerlichen Marinedienst Seiner Majestät zu scheiden.

Jetzt aber hatte der in alle Welt wandernde Jünger nicht mehr viele Aussichten auf eine gute Pfarrei, aber der Himmel, der seine Lieblingskinder immer beschützt und versorgt, fügte es, daß einige ihm noch nicht erstorbene Gönner, die die Welt liebten, wie er sie liebte, ihm soviel Einsicht und Erfahrung zutrauten, um den Wahnsinnigen in einer entfernten Provinzstadt täglich einige heilsame Lehren zu geben. So kam er denn nach jener Irrenanstalt und von da, weil er sich in seinem neuen Berufe durch einen gewissen Takt auszeichnete, den er bis dahin noch nicht besessen, durch abermalige Verwendung jener Gönner nach St. James.

Hier stand er seinem Amte mit einem gewissen natürlich-gesunden Sinne vor, und sein früher etwas flüchtiger Charakter hatte sich endlich gesetzt. Dennoch aber liebte er immer noch Witz und Scherz, auch war er dem Vergnügen der Jagd und anderen erlaubten Zeitvertreiben wie der lebenslustigste Jüngling ergeben. Ich ergötzte mich an seinen Erzählungen von den vielen Bekehrungen, die er bei verschiedenen wilden Völkern versucht haben wollte und die ihm, wie er sich rühmte, meistenteils dauerhaft geglückt waren, sehr. Ob er aber Heiden zu Christen oder Christen zu Jägern bekehrt hatte, das weiß ich in der Tat nicht anzugeben, denn als ich ihn danach fragte, lachte er herzlich und meinte: wir verständen uns für eine halbe Stunde Bekanntschaft schon ziemlich gut.

Nach Beendigung unseres Frühstücks begab ich mich auf mein Zimmer, wo ich jedoch nicht lange allein blieb, denn es ließen sich Mr. Lorenzen, der Oberarzt, und Mr. Derby, der Unterarzt, bei mir anmelden. Es dauerte nach den ersten freundschaftlichen Begrüßungen gar nicht lange, so waren wir im lebhaftesten Gespräch über die Behandlung Geisteskranker begriffen.

Mr. Lorenzen, der Oberarzt, war zwar in England geboren, stammte aber von Vorfahren ab, die früher in Lübeck als wohlhabende Kaufleute ansässig gewesen waren; er war also seinem Ursprunge nach ein Deutscher, sprach aber unsere Sprache nicht, da er nie aus England gekommen war. Er war ein ziemlich großer und mit viel natürlicher Würde begabter Mann von ungefähr achtundvierzig Jahren. Seine Gesichtszüge, obwohl ernst, waren im Ganzen wohlwollend und angenehm, seine Ausdrucksweise bestimmt und überdacht; wenn er aber sprach, leuchtete noch mehr seine ungezwungene Freundlichkeit und Milde aus seinem Gesicht und seinen Gebärden. Vollkommen seinen Pflichten ergeben und von seinem Dienst beinahe erdrückt, ging er doch stets gleichen Schritt mit den waghalsigen neueren Theorien unserer umfangreichen Wissenschaft. Er las des Nachts, wenn schon Alles schlief, und arbeitete schon Morgens, wenn noch Niemand munter war. So gewann ich denn diesen Mann, den ich in die tiefen Lehren der neueren Psychiatrie vollkommen eingedrungen fand, sehr bald lieb, und konnte ihm auch späterhin bei genauerer Bekanntschaft, obgleich er, wie wir sehen werden, nicht ohne Irrtümer war, meine vollkommene Achtung nicht versagen. Er war durchaus der psychiatrischen Behandlung seiner Kranken ergeben und ein Feind jener heroischen und gewalttätigen Kuren, die dem Publikum – und nicht immer mit Unrecht – leider oft genug Gelegenheit gegeben haben, die Irrenhäuser als Stätten der Grausamkeit und Unmenschlichkeit zu verwünschen.

Ganz der Gegensatz im Benehmen, Persönlichkeit und wissenschaftlichen Ansichten war Mr. Derby, der Unterarzt. Schon sein Äußeres und seine Kleidung, die ihm possierlich stand, war auffallend und eigentümlich genug, denn er trug einen hellblauen Frack mit großen vergoldeten Knöpfen, Nankingbeinkleider, eine bunte, großblumige Atlasweste und ein dünnes, schwarzseidenes Halstuch, aus dem ein ungeheuer großer gestreifter Hemdkragen hervorsah, der beinahe sein ganzes kleines Gesicht bedeckte und zwischen dessen abgestumpften Winkeln seine spitze, etwas rötlich gefärbte Nase munter und neugierig hervorguckte. Sein Haar trug er glatt am Kopfe anliegend, und wie es mir schien, war er sorgfältig bemüht, einige graue Streifen darin durch ein künstlich färbendes Mittel zu verdecken. Seine kleinen, grauen und lebhaften Augen sprühten wie ein Meer von Leben und Lebendigkeit. Seine kleine, bewegliche Gestalt verriet Anlage zu einem bedeutenderen Umfange, dies hinderte ihn aber ganz und gar nicht, sich lebhaft, wie ein Mensch von achtzehn Jahren, zu bewegen, alle Augenblicke seinen Sitz, seine Haltung, seinen Gang zu verändern und mit einer den Hörer fast aufregenden Überstürzung zu reden. Übrigens war er ungemein offenherzig und sagte Alles, was er dachte, jedem ins Gesicht.

Sehr bald merkte ich aus dem Gange unseres Gespräches, daß Mr. Lorenzen und Mr. Derby nicht gleichen Heilprinzipien in Ansehung ihrer Wissenschaft und Kunst huldigten. Der Erstere hatte, wie schon gesagt, seine ganze Aufmerksamkeit auf die psychische, der Letztere aber auf die physische Behandlung der Kranken gerichtet. Der Oberarzt hatte jedoch Ansehen und Würde genug, seine Meinung im Allgemeinen durchgeführt zu sehen, und Mr. Derby ließ sich ebensogut leiten, wie jener anzuordnen verstand.

Auch waren sie Beide die besten Freunde und teilten sich ohne Mißgunst und Vorwurf in ihre Arbeit, die, überhäuft wie sie war, einen so regen Geist und einen so tüchtigen Willen wie den ihrigen in vollen Anspruch nahm. Beide waren auch ganz die Männer zu diesem Posten, denn Beide waren voll warmen Eifers in ihrem Berufe, Beide fleißig und von früh bis spät tätig, Beide voll Menschenliebe, und ungeachtet ihrer entgegengesetzten Ansichten arbeiteten sie sich getreulich in die Hände, so daß ihr Wirken segensreich und von allen dabei Beteiligten dankbar anerkannt war.

Etwa nach einer halben Stunde unseres Beisammenseins wurde der Oberarzt abgerufen und ich befand mich nun mit Mr. Derby allein. Die Gelegenheit schien mir plötzlich günstig, über etwas, was mir auf dem Herzen lag, Licht zu erhalten, und ich beschloß, sogleich rüstig ans Werk zu gehen.

»Mein lieber Mr. Derby«, fing ich an, nachdem ich einige einleitende Worte vorausgeschickt hatte, »ich bin Ihnen sehr dankbar für die Unterweisung, die Sie so gütig waren, mir über den glücklichen Erfolg Ihrer so mannigfachen Kuren zu geben, und ich muß gestehen, daß ich, wenn derselbe nur halb so günstig ist, wie mir die ganze Einrichtung und Verwaltung dieser Anstalt wohlgefällt, wohlgefällt, alle Ehrfurcht vor St. James und den Leistungen seiner Ärzte haben muß. Und was Sie für herrliche Exemplare von lehrreichen und seltenen Krankheitsfällen hier haben, jede Art hat ihre eigenen und wieder merkwürdig voneinander unterschiedenen Vertreter.«

»Ja, ja, und Sie kennen sie kaum, das wird noch besser kommen, warten Sie nur.«

Endlich faßte ich mir ein Herz und sagte geradezu:

»Da haben Sie unter Anderen einen hübschen Menschen, da oben im Turme, glaube ich, ist sein Zimmer, es ist ein Privatkranker –

»Ah so, ich verstehe, Mr. Sidney.«

»Ja, das ist er, den ich meine.«

»Ja, ja!« fuhr er mit einer Schnelligkeit im Sprechen fort, die es mir fast unmöglich machte, ihn ferner zu unterbrechen. »Ja, ja, sieht er nicht aus wie ein verwunschener Prinz, dieser Mr. Sidney? Sollte man ihn nicht für eine Art von König halten, wenn man diese majestätische Miene und diese imposante Haltung sieht? Haha! Und nun sollten Sie ihn erst reden hören, wenn er auf dem Konversationsstuhl So wurde der Stuhl genannt, auf dem die Kranken zu sitzen pflegten, wenn die psychische Kurmethode hei ihnen angewandt wurde und sie zu der Überzeugung gebracht werden sollten, sie seien in der Tat nicht recht bei Verstand. sitzt, hier Mr. Lorenzen und da Mr. Sidney, und wenn Mr. Lorenzen ihm seine Sünden vorhält –«

»Was für Sünden?»

»Nun, ich meine, wenn er ihm einen Begriff von seiner Mangelhaftigkeit hier oben beibringen will!« »Aha! ich verstehe.«

»Da sollten Sie sehen, Sir, wie Mr. Lorenzen schwitzt, denn dieser Mr. Sidney führt eine brave Lanze, bei Gott! haha! das geht immer drauflos, frisch drauflos und schwatzt und schwatzt und schnick-schnackt von Philosophie und Psychologie wie ein Buch, und von Irrtümern derer, die Irrtümer vertreiben wollen, daß einem die Haare zu Berge stehen, hast du nicht gesehen! Und meiner Treu! er spricht sehr gut, ja, er spricht vortrefflich, sag' ich Ihnen, so daß man oft nicht aus noch ein weiß, denn dieser Mr. Sidney ist in jeder Beziehung ein außerordentlicher Fechter, ha! Sie sollten ihn einmal mit dem Degen umspringen sehen, wie die besten deutschen Studenten! Oder auf seinem schwarzen Barbaren sitzen, wie er mit ihm umherrast, daß die Funken stieben, heißa! immer über die fünf Fuß hohe Barriere hinüber, daß es nur so wettert! Und nun gar im Ringen und Laufen oder Klettern auf den Stangen unter den Turnern.«

»Aber, mein Gott! mein lieber Mr. Derby«, warf ich ihm hier ein, »Sie sind ja ganz in Ekstase über diesen Mr. Sidney!«

»Ja, das bin ich, das weiß ich, Sir, ich habe den Jungen lieb, diesen Sidney, und ich gäbe wer weiß was darum, wenn er nicht so schrecklich verrückt wäre. Er ist nun einmal unser Aller Liebling, obgleich man ihn das nicht merken lassen darf, sonst setzt er uns gar die Sporen in die Seite! Ha! Sie sollten sehen, wie das Volk hier ihn hätschelt, und die vermaledeiten Wärter obendrein, und alle Verrückte, männlich und weiblich! Wenn er nur den Kopf hinaus ins Freie steckt, sind sie schon Alle da – ah! da geht Mr. Sidney, da kommt Mr. Sidney! – das hat Mr. Sidney gesagt! – das hat Mr. Sidney getan! – und so hat er es gern! – daß du den Kuckuck kriegst!«

»Nun, das beweist, daß er die Fähigkeit hat, die Neigung seiner Umgebung zu gewinnen.«

»Die hat er, Sir, weiß Gott! Und unter der Fuchtel hat er die Teufel alle, die Besessenen, wenn sie nicht schon verrückt wären, sie würden verrückt aus Liebe zu ihm, glaube ich! Da braucht nur einmal Einer nicht etwas tun zu wollen, was er tun soll und muß, die Jacke her! ruft der Aufseher, die Jacke kommt und präsentiert sich, und Master tut es doch nicht! Da erscheint, wie der deus ex machina, unser Mr. Sidney. Was gibt's da? fragt er – das und das, Mr. Sidney! – Toms, laß das gut sein! sagt er; Tom tu das und tu jenes, sagt er, und Toms tut es ohne Zwangsjacke, Sir! – daß du das Wetter kriegst – das können Sie alle Tage erleben!«

»Das beweist abermals, daß er durch irgendein Mittel große Gewalt über die Gemüter der ihn Verehrenden hat, aber sagen Sie mir, wer ist er eigentlich und an welcher Art von Gemütskrankheit leidet er? Man sieht ihm sein Leiden gar nicht an.«

»Ja, das ist es eben, und doch steckt er voller Teufeleien, wenn er losbricht. Wer er ist? Ah, bah! das möcht' ich selber wissen, und doch kann ich's nicht erfahren. Unter uns gesagt, der Direktor, der seine Instruktionen über ihn hat, weiß es selber nicht genau.«

»Wie lange ist er denn schon hier?«

»Vier Jahre, Sir!«

»Vier Jahre!« rief ich erstaunt, »und noch immer nicht geheilt?«

»Das hat gute Wege, Sir! In Wahrheit, es ist ein höchst sonderbarer, verwickelter Fall – wird kein Mensch daraus klug – er leidet an periodischer Tobsucht – da haben Sie's! In der Zwischenzeit ist er ganz vernünftig und der beste, friedfertigste Mensch.«

»Und wie erkrankte er? Und wodurch?«

»Hm! Sie fragen viel und wollen viel wissen – durch unbekannte Ursachen – weiß kein Mensch – jetzt kommen die Anfälle freilich seltener als sonst.«

»Aber haben denn die, die ihn hierhergebracht, nichts über die Entstehung seiner Krankheit offenbaren können?«

»Ist mir nicht bekannt, Sir, diese Nachforschungen gehen mich nichts an, soviel ich aber weiß, ist die Grundursache niemals und Niemandem bekannt geworden, und er selbst ist darüber gar nicht zu examinieren, sowie man fragt, wird er widerspenstig, er lacht uns aus, ja, wahrhaftig, Sir, er hat uns schon oft ausgelacht und sogar verhöhnt, das ist aber eben die schlimmste Art, da können unsere höflichen Mittel freilich nicht viel helfen und keine radikale Heilung kann auf diese Weise zustandegebracht werden.«

»Und wie haben Sie ihn denn behandelt, wenn ich fragen darf?«

»Hm! ist hier eine andere Behandlung möglich? Wie alle Tobsüchtigen behandelt werden müssen – mit Gewalt!« »Was?«

»Ja, das versteht sich; denn Sie sollten ihn nur rasen sehen! Wenn er vernünftig ist, nimmt er es schon mit Sechsen auf, in seinem Anfalle können es Zehne sein, denn da zerschlägt und zerbricht er Alles, Herr meines Lebens! ich werde meine Lebtage an die Szene denken, als er hierher kam und wir zum ersten Male die Ehre hatten – au weh! Ich war gerade mit Mr. Lorenzen und einigen Männern zugegen, als er aus einem kurzen Schlafe erwachte, in den er gefallen war. – Wo bin ich? Was wollen Sie von mir meine Herren? – Und da er sich durch einen Brustriemen gefesselt sah, der über sein Bett fortging – heißa! reißt er ihn entzwei! – und nun auf uns los! – ha! das war ein Springen und Rennen nach Hilfe und Mannschaft – ja – Sie lachen!«

Ich mußte wider Willen lächeln, als ich mir diese schreckliche, aber auch komische Szene vorstellte, die mir Mr. Derby's Augen, Mienen und Gebärden mit vieler Natürlichkeit zur Anschauung brachten.

»Sie lachen, aber Sie hätten dabeisein sollen, nur durch die große Übermacht gelang es uns, seiner Herr zu werden, der wie ein Löwe tobte und brüllte; und erst, nachdem zwei zerschunden, zwei zerschlagen und einem – es war noch dazu ein Familienvater – beinahe die Nase abgebissen war – ha, Sir, da aber konnte man so recht sehen, was es heißt, über Ketten und Blöcke kommandieren zu können und Duschen und Sturzbäder zu haben – ja, Sir, das ist die wahre Kunst!«

Es entstand eine kurze Pause, die ich nur durch einen halblauten Ausruf des Staunens und Mitleidens unterbrach.

»Ist denn niemals Jemand mit Vertrauen und Sanftmut zu ihm getreten?« fragte ich wieder.

»Pah! hat nichts geholfen, was soll hier Sanftmut tun, Lämmer bei Tigern! Und wir mußten vorsichtig sein und auf seine Anfälle achtgeben. Anfangs freilich, ich erinnere mich, wollte er dem Direktor eine Geschichte erzählen – haha! das tut jeder Verrückte jetzt aber schweigt er klüglich davon und scheint sich um einen Vertrauten nicht viel zu kümmern. Im Gegenteil, wenn Jemand zufällig einmal davon anfängt, lächelt er so auf seine eigene Art, was mir manchmal vorkommt, als wenn er noch etwas für uns im Rückhalt hätte – haha! der Schurke! – Wenn er nur könnte, wie er vielleicht wollte! – Nun lebt er ganz gemütlich hier. Als Privatkranker stehen ihm viele Vorrechte zu, und er weiß sie alle aus uns herauszulocken. Auch muß er reiche Verwandte haben, denn er hat viel Geld, dieser Mr. Sidney, lebt wie ein Fürst, hat sein eigenes Pferd, seine Bücher, treibt Musik und studierte gern den ganzen Tag, wenn man es litte, denn das macht ihn erst recht toll. Ja, ja, Sir er führt ein ganz herrliches Leben.«

»Aber er ist eingesperrt und wahnsinnig!« sagte ich, wie zu mir selber, und tat einen waghalsigen Blick in das unermeßliche Reich der Möglichkeiten.

»Hm! – ja! es sind ihrer ziemlich viele von dieser Sorte hier, übrigens, das muß man ihm lassen, hat er auch seine guten Seiten. Er unterrichtet, ganz in unserem Sinne, andere Kranke in allerlei Dingen, wie im Reiten und Fechten, Turnen und Ringen, aber auch im Zeichnen, im Lesen und Schreiben – kurz, worin Sie wollen, denn er ist ein ganz gescheiter Kopf und hat außerdem alle Geschicklichkeiten eines tüchtigen Fechters, wie ich Ihnen sagte, und darum laufen sie ihm auch Alle nach, denn er hat auch ein Stück von einem guten Herzen, für jeden Genossen ein freundliches Wort oder auch ein Stück Geld, was manchmal noch besser ist.«

»Das ist ja ein merkwürdiger Mensch!« sagte ich und stand in Gedanken vertieft da.

»Sie scheinen sich sehr für Mr. Sidney zu interessieren, Sir«, sagte plötzlich der Unterarzt mit einem etwas schneidenden Ton und blickte mich mit seinen grauen Augen eigentümlich forschend an.

Ich war einigermaßen betroffen über diesen plötzlichen unerwarteten Blick, ich lernte durch ihn, daß es nie gut sei, unbekannten Leuten gegenüber vorschnell seine Gefühle zu verraten, und ich beschloß, künftig behutsamer zu Werke zu gehen.

»Ich interessiere mich für Alle« sagte ich, »die ihres Verstandes beraubt sind, und zu denen gehört ja auch Mr. Sidney. Ich bin selbst ein Irrenarzt und da können Sie mir mein Interesse nicht verdenken, Mr. Derby!«

»Ganz und gar nicht! Ich bedaure nur, Ihnen nicht genügendere Auskunft über ihn geben zu können, doch mögen Sie Mr. Elliotson fragen, der weiß vielleicht mehr, als er mir gesagt hat.«

»Bei Gelegenheit!« erwiderte ich gleichgültig und brannte mir eine Zigarre an.

Hier endigte der Besuch des Mr. Derby. Er ließ mich in einer Stimmung zurück, die mir selbst nicht recht klar werden wollte, denn ich war mehr unwillig als traurig gestimmt.

Während zahlreiche Phantasiebilder in allerlei Gestaltung mich erfüllten, um mich auf Wege zu führen, die ich in meinem Nachdenken noch nie betreten hatte und auch nicht zu betreten wagte, wurde es mir so eng, so einsam, so düster in meinem stillen Zimmer, daß ich nach den Sonnenstrahlen des Gottestages Verlangen trug, und ich begab mich in den Park hinab. Als ich aber hier den Anfang eines langen und breiten Weges betreten hatte, sah ich am anderen Ende desselben die unverkennbare hohe Gestalt des Irren von St. James auf und nieder schreiten.

Ich wollte mich zu ihm begeben, da kam mir ein Anderer zuvor, es war der Krämer Phillipps, mein Reisegefährte, der, aus einem Seitenwege hervortretend, langsam und gleichgültig sich Mr. Sidney näherte. Sie waren nicht allein, denn außer anderen Spaziergängern bewegten sich auch die gewöhnlichen Aufseher um sie her, die aufmerksam ihrer Pflegebefohlenen Handeln und Sprechen zu beobachten gewohnt waren.

Da sah ich, wie Mr. Sidney stehenblieb und gelassen auf den Krämer blickte. Dieser trat auf ihn zu und begrüßte ihn artig, aber kurz. Auch der Irre nickte ihm zu – weiter sah ich nichts, denn ich stand zu entfernt, um Beide genauer beobachten zu können.

Ich weiß nicht warum, aber es ergriff mich ein eigentümlich beklemmender Zustand; schnellen Schrittes ging ich einer anderen Gegend des Parkes zu und suchte eine einsame Stelle auf, um hier ungestört zu grübeln und zu phantasieren, wo ich noch kein Recht zu denken hatte.


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