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Wenn wir lange Zeit von Allem, was wir das Unsrige nennen und worunter wir nicht allein unsere Besitztümer, unsere Verwandten und Freunde, sondern auch unsere Gewohnheiten, Neigungen und tagtäglichen Beschäftigungen begreifen, getrennt gewesen sind, namentlich wenn eine unbezwingliche Gewalt uns von ihnen entfernt gehalten hat – wie wächst da nicht mit jeder Stunde unser Verlangen, das so lange und schmerzlich Entbehrte wieder vor unsere Sinne zu ziehen, wie sehen wir nicht dem ersten Pulsschlage der Freiheit mit Wonne und Entzücken entgegen, der uns zuruft: Du bist jetzt frei, da hast du wieder, was dir gehört und was du so lange bitter vermißt und so sehnlichst erstrebt hast!
Wenn aber dieser schöne Moment der Freiheit und des uns neu gewordenen Besitzes gekommen, wenn wir den ersten warmen Sonnenstrahl des wieder erwachten Glückes empfinden und nun zum ersten Male die Hand begierig nach dem, was unser ist, ausstrecken – wie schnell und plötzlich ist jene laute Wonne, jenes maßlose Entzücken von uns gewichen, wie schnell erkaltet unser kaum erwärmtes Herz wieder und wie bald ist unser heißes Begehren gedämpft! Sollten wir in diesem erkältenden Gefühle nicht an uns selbst zu zweifeln beginnen und uns fragen, ob wir wirklich das besitzen, was wir zu besitzen so sehnlich verlangten?
Worin liegt diese so schnell erkaltende Stimmung, diese, ich möchte fast sagen, so plötzlich entstehende Fühllosigkeit, diese geistige Erschlaffung?
Liegt sie an dem Nichtigen unserer Wünsche oder in dem Luftgebilde unseres Besitzes, oder vielleicht auch der Überschwänglichkeit unserer aufgeregten Erwartung?
Nein, darin liegt sie nicht, wenigstens nicht allein; sie liegt vielmehr in dem geheimnisvollen Plus und Minus unserer innersten Natur, an dem halb Göttlichen, halb Irdischen in unserer schwachen Brust; sie liegt in dem zwischen Tag und Nacht schwankenden Chaos unserer auf- und niedersteigenden und alle Augenblicke wechselnden Gedanken!
Ach! unsere größte Wonne besteht nur in dem ungestillten Sehnen – im Ehrgeiz wie in der Liebe – unser größtes Entzücken liegt allein in der nebelgleichen Hoffnung eines zu erreichenden Besitzes – die Glückseligkeit selbst, die in den Duft unserer Phantasie gehüllte Glückseligkeit, existiert körperhaft, tastbar und sichtbar nicht, sie ist nur ein geistig ätherisches Wesen, ein Wolkenbild, das wohl in unseren Träumen an unseren Sinnen vorüberzieht, nie aber im Wachen des Lebens und der Wirklichkeit lebt!
Ging etwas von dem, was ich soeben zu entziffern versucht habe, gegenwärtig in Percys Herzen vor, als er stumm, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände wie im Gebet gefaltet, neben mir saß, während seine schnaubenden Rosse ihn schnell seinem Ziele entgegentrugen? Ich weiß es nicht! Ach! wer kann ein zärtliches Herz ergründen und den beweglichen Geist verstehen, die beide nach langem Leiden, nach einem dem Tode ähnlichen Dasein, sich erst wieder an die Freude und die Welt voller Glück gewöhnen müssen, die vor ihnen ausgebreitet liegt; wer kann sagen, so hat dies Herz empfunden, so hat dieser Geist gedacht, wenn dieses Herz stillzustehen und dieser Geist zu schlummern scheint!
Ich vermag es in Wahrheit nicht zu sagen – ich wollte ihn in seinem stillen Nachdenken nicht stören, es war dies heilig und feierlich für mich. Aber das weiß ich, daß Percy nicht der Mann war, laut und lärmend seine Freude kundzutun, sein Herz war zu edel und sein Gemüt zu fromm dazu. Wie der größte Schmerz auf Erden, der Seelenschmerz, nur still und stumm getragen wird, so wird auch das größte Glück und die größte Freude nicht gesprochen, sondern nur empfunden. Sie spricht nicht zu den Menschen, sie spricht und erhebt sich zu Gott. Auch Er, der Urheber alles Glückes und aller Freude, spricht im Stillen zu unseren Herzen, und wir – wir verstehen ihn doch.
Es war gegen Anbruch des Tages, als Percy aus seinen Träumereien emporfuhr. Er nahm den Hut ab und strich sich mit der Hand über die immer noch bleiche, gedankenschwere Stirn, als wolle er das Letzte, was ihn gequält, wegwischen und neue, frohere Lebensbilder seinem aufgeregten Geiste entgegentreten lassen. Er nahm meine Hand und drückte sie innig.
»Vergeben Sie mir, mein Freund«, sagte er, »daß ich so lange schwieg – mein Herz ist wahrlich nicht stumm gewesen. Aber ich habe so viele Gedanken in mir und nur so wenige Worte dafür! Freiheit – Ellinor – mein Vater – und die Zukunft! in diesen vier Worten ist Alles enthalten, was ich Ihnen sagen könnte.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, erwiderte ich, »schweigen Sie, reden Sie, wie Sie wollen, ich verstehe Sie doch!«
»Ach ja, Sie verstehen mich! Wie ist dieses Bewußtsein so süß, von denen verstanden zu werden, die auf unserer dornenvollen Lebensreise unsere Gefährten, unsere Brüder sind, wie Sie mir Beides geworden sind.« Er drückte meine Hand fester mit der seinigen und blieb dann wieder still.
»Ach!« fuhr er nach einer Weile fort, »sehen Sie, die dunkle Nacht schwindet, und der helle Tag bricht an!«
Er ließ ein Wagenfenster herunter und blickte hinaus.
»Freiheit! Freiheit! Wie bist du so süß! – Luft! Luft! Wenn du auch kalt und feucht bist, wie erwärmst du mein erstarrtes, durch Sklaverei erstarrtes Herz. – Wie lange haben wir noch, bis wir bei ihr sind?«
»Wenn wir so Tag und Nacht fortfahren könnten, so würden wir vielleicht morgen Mittag da sein.«
»Und darf ich nicht erfahren, wo es ist?«
»Nein, Sie sollen sehen und dann erst erfahren.«
»Gut! ich ergebe mich in Ihren Willen; tun Sie, was Sie wollen, Sie haben es gut mit mir gemeint vom Anfang an und werden nicht nachlassen bis zum Ende!«
Der Tag brach an. Er brachte heiteres Wetter mit sich; der Regen hörte auf und auch der Wind ließ etwas nach, so daß hier und da schon einige hellblaue Streifen wolkenlosen Himmels durch den Nebelflor blickten.
Um acht Uhr Morgens hielten wir in einem Dorfe an, wo die Pferde einige Stunden ruhten und wir ebenfalls, denn wir verspürten einige Müdigkeit, nachdem wir schon mehrere Nächte wegen der großen Aufregung schlaflos zugebracht hatten.
Um zwölf Uhr Mittags fuhren wir wieder weiter und hielten schon Abends acht Uhr an, um unsere erste Nachtruhe zu halten. Morgens sieben Uhr aber waren wir schon wieder unterwegs, und ich gedachte am Morgen des nächsten Tages bei Sir Robert Graham einzutreffen; doch bestimmte ich nichts voraus, da ich beabsichtigte, Percy mit der freudigen Nachricht zu überraschen, wir seien, wo wir sein wollten.
Allein je weiter wir an diesem Tage vorrückten, umso unruhiger wurde er. Viertelstundenlang lehnte er aus dem Wagen und musterte scharfen Blickes rings die Gegend, als ob er die Stätte suchen wollte, die würdig wäre, das Kleinod seines Herzens zu beherbergen.
Es wurde Mittag. Wir stiegen aus, um zu essen, aber er berührte kaum die ihm vorgesetzten Speisen. Hastig und mit langen Schritten ging er im Freien auf und nieder, richtete keinen Blick mehr auf die Gegend, auf seine herrlichen Pferde, die er erst so aufmerksam bewundert hatte, auf seine treuen Diener, die ihre Augen mit dem lebhaftesten Entzücken auf sein schönes und Vertrauen erweckendes Antlitz gerichtet hielten.
Wir fuhren wieder vorwärts; der Nachmittag rückte weiter vor. Unterdessen war der Himmel klar geworden und die Sonne schien freundlich auf unseren Weg, den wir so eilig zurücklegten. Jetzt aber sank sie wieder tiefer, die Schatten der Gegenstände um uns her wurden allmählich länger.
Percy bewegte sich auf seinem Sitze hin und her, Unruhe sprach aus allen seinen Zügen und Gebärden. Ich merkte ihm wohl an, daß er etwas auf dem Herzen hatte, bisweilen sogar trat es ihm bis auf die Lippen, aber noch zauderte er, es auszusprechen.
Ach! ich wußte wohl, was es war. Ich frage dich noch einmal, Leser, hast du schon geliebt? Und wenn du diese Frage bejahend beantwortest, o, dann sei auch so aufrichtig und sage mir, wann hast du am heißesten, aber auch am zartesten geliebt?
Ich weiß, was du mir sagen willst – am innigsten und zugleich am feurigsten, aber auch am verlangendsten hat dich die untergehende Sonne an deine Liebe erinnert!
Es wird ruhiger, stiller, feierlicher um dich her, es wird traulicher, einsamer, und diese Einsamkeit ruft das Nachdenken hervor. Alle deine Gedanken und Empfindungen, die am Tage nach Außen strömten und im ganzen reichen Umkreise der Natur wie fleißige Bienen umherschwärmten, kehren in ihre Heimat, in deine Brust zurück.
Und wie der schlummernde Abend sich mit seinem sanften, schattigen Fittich langsam und nebelhaft auf die Gefilde legt, so zieht eine unbestimmte Traurigkeit, die aber nicht bitter, sondern süß ist, in dein Herz, und du wendest alle deine Gedanken und Gefühle auf den innersten Kern deines Daseins, auf das Mädchen deiner Liebe.
O, wenn sie jetzt bei dir wäre, mit dir diese sinkende, große Sonne zu betrachten, mit dir sich in dieses Feuermeer zu tauchen und die duftige berauschende Luft in ihre Seele einzuschlürfen! Wenn sie jetzt, neben dir sitzend, ihren Kopf an deine klopfende Brust lehnte, und du, ihre Hand in deiner Hand haltend, ihren träumerischen Blick mit deinem durstigen Blicke trinkend, ihr Alles, Alles sagen könntest, was in deinem Herzen für sie schlummert – dann wärest du glücklich, dann wärest du nicht allein! Die irdische Sonne, sie erlischt dir und du willst ein anderes Licht, deine Seele zu entzünden, und sie ist dieses Licht und diese Sonne, und in ihr liegt die Wärme und die Liebe, die die ganze Welt deiner unermeßlichen Träume beleben und verwirklichen könnte!
Endlich sah ich ihn an und lächelte heiter.
»Sie wollen mir etwas sagen, Percy, lassen Sie es mich doch hören.«
»Ja!« erwiderte er. »Sie haben es erraten. Es ist nicht ganz richtig hier in mir, die Zeit währt mir zu lange. Gibt es keine Möglichkeit, sie noch heute Abend zu erreichen?«
»Zu Wagen nicht!« entgegnete ich.
»Also doch, doch auf andere Weise?« fragte er rasch.
»Nun ja, wenn die Pferde es aushielten und wir sie tüchtig ausgreifen ließen, könnten wir wohl gegen die elfte Stunde der Nacht da sein.«
»Ha! und da zögern Sie noch? Und wenn alle diese Pferde zusammenstürzten, ich muß hin! – Halt!« rief er dem Kutscher zu, »Halt!«
Wir waren im Nu aus dem Wagen. Bravour und zwei der tüchtigsten Renner wurden sogleich ausgewählt und reisefertig gemacht. Percy bestieg den ersteren, ich und Phillipps die anderen. Den Dienern ward die Weisung gegeben, langsam nachzukommen, Phillipps Doggen wurden in den Wagen gesperrt und nun jagten wir ohne Rast und Aufenthalt davon.
Ich habe nie ein tolleres Reiten erlebt. Nach den ersten zehn Minuten glaubte ich, Percy werde nachlassen in seiner Hast, aber es ging nur immer schneller und reißender vorwärts. Es war ein Reiten, was man auf Tod und Leben nennt. Nichts hielt uns auf, und glücklicherweise waren die Pferde vortrefflich. Gräben, Hecken, Zäune – Alles, was uns in den Weg kam, ward übersprungen, Alles überrannt, der kürzeste Weg war unserem leidenschaftlichen Führer, von dem alle Ruhe gewichen war, immer der liebste, und davon ging es wie in der wildesten Jagd.
Hier konnte sich die Ausdauer und Tüchtigkeit der ausgezeichneten Pferde bewähren. Aber so willig und kräftig unsere beiden englischen Renner waren, so wacker sie anfangs Stich hielten, es war keine Möglichkeit, mit dem unglaublichen Feuer und der Leichtigkeit, womit er Alles übersprang, mit Bravour zu wetteifern, dessen Kräfte sich von Augenblick zu Augenblick zu verdoppeln schienen. Hätte ihn sein vollkommen sicherer und gewandter Reiter nicht gehalten, er wäre lange vor uns am Ziele gewesen. So aber kannte der Viscount die Gegend und die Wege nicht genau, durch die ich schon mehrere Male gekommen war, und somit war er gezwungen, bei uns zu bleiben.
Während Phillipps Pferd und das meinige bald mit weißem Schaume bedeckt waren, schien Bravour kein nasses Haar zu haben. Seinen kleinen Kopf mit den schnaubenden Nüstern und den flammenden Augen vorweg in die Höhe geworfen und den wallenden Schweif horizontal von sich gestreckt, sprang er mehr in ungeheuren Sätzen, als er lief, über den Anger, die Wiesen, den Berg und das Tal und warf uns den moorigen Boden, den sein flüchtiger Huf aufriß, gegen die Brust und in das Gesicht.
»Das geht lustig her, Sir!« keuchte Phillipps hervor, der neben mir jagte, während der Viscount einige Pferdelängen vor uns voraus war. »Sehen Sie das Tier, wie es fliegt, als wenn es die Sehnsucht seines Herrn teilte, ja, ja, das ist arabisches Blut, so weit haben wir es mit den unsrigen noch lange nicht gebracht. Und wie sein Haar glänzt, als wenn es von flüssiger Seide wäre – herrliches Tier!«
Ich nickte ihm zu, denn ich hatte ein Tuch in meinen Mund genommen, weil ich sonst kaum Atem schöpfen konnte.
Die Sonne war längst unter dem Horizonte, aber der Himmel klar, die Luft heiter, daher die Dämmerung erträglich hell. Dann aber blickte zuerst der Abendstern neugierig aus einer kleinen silbernen Wolke hervor, allmählich mehr und mehr, und endlich das ganze unzählige Heer funkelnder Gestirne.
Es wurde mir immer beklommener ums Herz – der Kopf fing mir an zu schwindeln – ich sehnte mich nach dem Ende des tollen Rittes. Ich sah Phillipps an – er sprach auch nicht mehr, sondern deutete mit der Hand auf die Brust, als wolle er sagen, es greife auch ihn an. Lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten, aber das Ziel unserer Reise war uns wie auf Windesflügeln näher gerückt.
Eben jagten wir über ein großes, weites, etwas wellenförmiges Stoppelfeld, welches ein kleiner, schmaler Bach in leicht geschwungener Windung durchfloß. Vor uns lag ein höherer Hügel. Ich blickte sehnsüchtig nach ihm hin, denn die Gegend kam mir bekannt vor, obgleich ich sie von dieser Seite noch nicht gesehen hatte.
»Robert! Kennen Sie die Gegend?« rief Percy zurück.
»Ja, ja!« rief ich, so laut ich konnte, indem ich das Tuch aus dem Munde nahm.
»Wohin geht's nun – rechts oder links?«
»Immer geradeaus, den Berg hinauf! Dann halt, halt!« schrie ich, denn er flog wie auf Adlerschwingen weit vorauf. Er kam oben an – er hielt. Wir folgten ihm nach und hielten auch, dann sprangen wir alle drei von den keuchenden Pferden, die kaum noch Atem hatten.
Ich sah mich einen Augenblick um – so benommen mir der Kopf und so atemlos ich war, das Herz bebte mir vor Freude bei dem vor mir liegenden Anblick.
»Wo sind wir?« fragte Percy.
»Warten Sie – gleich – ich muß mich erst umsehen und erholen –«
Dem Punkte, wo wir hielten, gegenüber lag ein ebenso hoher Berg wie der, auf dessen Spitze wir uns befanden. Rechts war ein tiefes, breites, liebliches Tal – im tiefsten Grunde desselben stand ein einzelnes Haus mit grünen Läden – dahinter ein größeres Gehöft, eine dunkle Laubmasse davor – Leser, weißt du, wo wir waren?
Ja, wir waren angelangt und es war noch nicht neun Uhr. Ach! und ich sah ein freundlich blinkendes Licht vom Tale heraufschimmern – es drang aus dem einen der Fenster hervor – das war das Gemach, worin Ellinor auf ihrem Krankenbette gelegen, von dem ich sie so schnell hatte erstehen lassen – sie saß wieder darin – mit ihrem Vater – sie erwartete uns vielleicht – gewiß, denn sie erwartete ihn ja jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick. Und der rechte Augenblick war nahe. Er war da, Percy war da – schon vor der Tür – o, wenn sie es gewußt hätte! Wie, sagte es ihr das Herz nicht mit seinem ungestümen Pochen, seiner weiblichen, ewig lebendigen Sympathie?
»Nun?« fragte Percy ungeduldig. »Sind Sie fertig mit Ihrer Untersuchung? Ist es noch weit? Kennen Sie die Gegend?«
»Ja, mein teurer Freund!« erwiderte ich. »Ich kenne sie!« Und ich legte meine Hand auf seine Schulter.
Er blickte mir mehr verwundert als überrascht ins Gesicht. Ich fühlte selbst, daß mich sowohl in meiner Haltung wie in meiner Stimme eine gewisse Rührung übermannte.
»Sie zittern – ha! sind wir da?«
Ich nickte.
»Wir sind da?«
»Ja!« sagte ich, »Gott hat gewollt, daß wir da sind, und so sind wir da.«
»Wo, wo ist sie?« fragte er schnell, »dort – dort?«
»Dort! ja – dort!«
Und ich zeigte mit der Hand nach dem stillen, friedlichen Häuschen, in dem sich soeben das Licht aus dem einen Zimmer ins andere bewegte.
»O mein Gott!« rief Percy und sank auf die Knie.
In diesem Augenblicke schaute ich zufällig nach dem Hügel hin, der uns gegenüber lag – und wie wir damals von drüben aus einen Reiter auf unserem Gipfel hatten halten sehen, so schien mir auch jetzt einer auf den anderen zu halten. Doch mußte er soeben erst hinaufgekommen sein, denn vor einer Minute war er noch nicht da gewesen.
Ich machte Phillipps darauf aufmerksam, dann auch Percy, der, wie er in seiner Leidenschaft vorher unruhig gewesen war, jetzt stumm wie das Grab dastand, in tiefes Anschauen und Nachdenken verloren, die Hände gefaltet, ohne Bewegung und scheinbar ohne Anteil in die halbdunkle Ferne hineinschauend, aus der uns jenes Licht wie ein hoffnungsstrahlender Stern entgegenblinkte. So glich er mehr einer Bildsäule als einem gedankenschweren und empfindungsvollen Menschen.
»Wenn er einen Hund bei sich hätte, würde ich ihn für keinen anderen als Bob halten!« sagte ich.
»Er hat einen Hund bei sich, so wahr ich lebe!« rief Phillipps sogleich.
»Nun, dann ist er es auch – er scheint uns zu betrachten, wie wir ihn betrachten –«
»Bei Gott! es muß mein Junge sein mit dem Othello!«
Der Name Othello schüttelte Percy aus seinen tiefen und stummen Betrachtungen. Er horchte auf; wir zeigten ihm noch einmal den Reiter und den Hund und teilten ihm unsere Vermutungen darüber mit. Er blickte wiederholt scharf hinüber.
»Es scheint mir auch so! Aber seid still!« sagte er; »ich will sehen, ob er mich noch kennt, wenn er es ist.«
Er hielt darauf zwei Finger an den Mund und ließ ein langgezogenes, anfangs sanftes, allmählich stärker und schneidender werdendes Pfeifen hören, dessen durchdringender Ton weit über Wald und Flur dahinschwoll. Kaum aber war der letzte, hinschwindende Schall des Pfiffes in die stillen Lüfte verflogen, so hörten wir ein dumpfes, kurz abgebrochenes Geheul – augenblicklich stürzte der Hund sich uns entgegen, eine halbe Minute, er war uns nahe.
Percy sprang freudig wie ein Kind vor und rief:
»Hollah! Othello! Hollah!«
Ach, wer beschreibt diese Szene! Zwölf Schritte ungefähr von Percy entfernt, hielt das treue Tier still, schlug sich heftig die Flanken mit dem Schweife und ließ seine gewöhnlichen Nasentöne hören, als wolle es sich erst von der Echtheit seines Herrn überzeugen. Aber dies dauerte nur so lange wie ein kurzer, flüchtiger Gedanke. Dann ein leises, halb unterdrücktes Wimmern ausstoßend, sprang er dem Mann, den er so lange nicht gesehen und doch auf den ersten Blick erkannt hatte, entgegen, ebenso sein Herr auch ihm und wie ein Freund dem anderen nach langer Trennung die Arme um den Hals wirft, so lagen die mächtigen Pfoten des großen Tieres auf Percys Schultern, so umarmte auch Percy den treuen Hund und rief einmal über das andere:
»O, mein Othello! mein treuer Othello! mein Othello!«
Als er ihn endlich losließ und der Hund sich nun an seine Füße, an seine Knie, an seine Hände schmiegte und ein leises, heiseres, gleichsam weinendes Freudengeknurr ausstieß, und ich nun näher zu ihm hintrat, sah ich, daß Percy die Augen voller Tränen hatte. Aber dieser Hund – woran erinnerte ihn der? Die ganze frühere Geschichte seines Lebens ward lebendig vor seiner Seele – doch, Leser, das weißt du ja, was soll ich dich noch damit ermüden!
»Nun, Percy«, sagte ich, als der Hund auch zu Phillipps stürzte und ihn lebhaft begrüßte, »sind Sie jetzt zufrieden?«
»Ja, beruhigt wenigstens bin ich – denn wo er ist, ist auch sie – gehen wir jetzt langsam und vorsichtig hinab, damit wir sie nicht erschrecken.«
Und zu meiner Verwunderung wurde er so ruhig, wie er gewöhnlich war, wenn ihn keine Leidenschaft aufregte. Der schnelle Ritt, die furchtbare Eile – er wollte damit die Gewißheit erjagen, daß er zu ihr gelangen würde; jetzt, da er sah, wo sie war, schlug sein Herz wieder wie das leidenschaftslosestes Kinderherz.
Nun kam auch Bob auf seinem Ponywallach herangaloppiert und begrüßte uns und ward von Allen auf das Herzlichste begrüßt. Dann nahmen er und sein Vater, die sich viel zu erzählen haben mochten, die Pferde, um sie hinabzuführen, während Percy und ich Arm in Arm den Hügel hinabgingen und dem freundlichen Hause entgegentraten.
Das große Gittertor stand offen. Bob, der es soeben erst verlassen hatte, weil er, wie er sagte, für sich die bestimmte Überzeugung hegte, heute würden und müßten wir kommen, hatte es offen gelassen.
Wir schritten hindurch. Jetzt fühlte ich Percy, den starken Percy wieder an meinem Arme zittern, da wir ihr so nahe kamen. Wir gelangten an die Haustür, vor der die großen Pappeln standen – ich machte sie leise auf.
»Nun«, sagte ich mit bebender Stimme; »die Tür ist offen – in diesem Hause atmet Ellinor!«
»Ach!« flüsterte er, »Ruhe! Fassung! Meine Brust will zerspringen – wenn sie nur da ist – laßt einen Augenblick noch mich erholen.«
Wir standen still, er lehnte sich an den Türpfosten – ich glaubte sein Herz klopfen zu hören.
»Wie Gott will!« sagte er plötzlich und richtete sich hoch und stolz auf, »ich habe mich wieder, kommen Sie!«
»Nein!« erwiderte ich, indem ich meine Hand von der seinigen, mit der er mich erfaßt hatte, losmachte, »ich gehe nicht mit hinein – gehen Sie allein – ich kann mir das alles denken!«
Wir traten in den Flur, in das Vorzimmer – ich machte die zweite Tür weit auf – ein helles Licht leuchtete uns aus dem Nebenzimmer entgegen.
»Guten Abend, Graham!« rief ich hinein, schob dann Percy vor und schloß gleich hinter ihm wieder die Tür, hinter welcher ich stehen blieb. Dann lehnte ich mein Ohr daran – ich horchte – Alles war still – ich lauschte – ich war nur Ohr – da, mit einem Male – »Percy!« hörte ich aufschreien – »Ellinor! Ellinor!« – »Percy!« Und Alles war wieder still – ich wußte, an meinem eigenen Herzen fühlte ich, was geschehen war!
Ja freilich, wenn Wiedersehen nicht wäre, dann wäre jede Trennung von dem Gegenstande unserer Liebe wie der Tod – aber darum hat ja die Vorsehung den Himmel des Wiedersehens uns gegeben, damit dieser die Hölle der Trennung vergessen mache, und auf daß die Bitterkeit derselben durch die Süßigkeit jenes Momentes vertrieben werde, wo Herz an Herz sich wieder schlagen fühlt und Auge gegen Auge Liebe um Liebe tauscht!
Wie lange ich in der oben erwähnten Stellung verblieb und was mir während der Zeit durch Kopf und Herz fuhr – ich weiß es nicht. Nur soviel ist mir bewußt: daß ein Entzücken mich überströmte, als wenn ich selbst eine Ellinor gefunden hätte, oder wie es wohl ein Feldherr nach einer gewonnenen Schlacht oder ein König nach Eroberung einer wichtigen Stadt empfinden mag.
Endlich wurde die Tür aufgemacht und vor mir stand, eine brennende Kerze in der Hand haltend, die ehrwürdige Gestalt Sir Robert Grahams, das Gesicht mit Tränen übergossen, die Lippe bebend, aber einen strahlenden Glanz in den feuchten Augen, wie ihn das Licht der Kerze, und wären ihrer tausend angezündet, nicht zu geben vermocht hätte.
»Kommen Sie«, sprach er milde, als er mich sah, »kommen Sie, er sagt uns, Sie seien hier!«
Mechanisch folgte ich ihm bis zu Ellinors Zimmer – hier hielten wir an und erblickten ein Schauspiel, welches mir ewig unvergeßlich bleiben wird.
Auf einem Sessel ohne Lehne saß die nach vorn gebeugte Gestalt Ellinors; zu ihren Füßen, den Kopf auf ihren Schoß gedrückt, lag Percy. Ihre Hände hielten seinen schönen Kopf umschlossen und ihre Lippen waren in seinen dunklen Locken verborgen. Daneben aber saß hoch aufgerichtet der riesige Hund, den klugen Kopf halb zur Seite gewandt, und blickte, von Zeit zu Zeit ungeduldig knurrend und mit dem zottigen Schweife den Boden peitschend, mit seinen großen Augen bald Percy, bald Ellinor gleichsam fragend an.
Sir Robert Graham und ich standen eine Weile sprachlos und sahen dem rührenden Auftritte zu. Kein Laut, kein Seufzer, kein Ausruf der Liebe oder der Freude kam über die Lippen derer, die sich endlich wiedergefunden hatten; ihre Liebe, ihre Freude war allein in ihnen, und sie wußten es, sie brauchten sie einander nicht zu erkennen zu geben. Es lag eine heilige Stille auf diesem vorher so unglücklichen und jetzt so glückseligen Paare; wie im Gebet waren ihre schönen Seelen vereint, sie schienen in diesem Augenblick zu dem zurückgekehrt zu sein, von dem sie ausgegangen waren.
Sir Robert, mit der einen Hand meine Hand haltend, mit der anderen noch immer ein Tuch an seine nassen Augen drückend, stand neben mir, und kein Wort kann aussprechen, welcher Ausdruck auf dem Gesichte dieses tugendhaften und im Dulden so starken Mannes in diesem köstlichen Augenblick lag.
Endlich, durch das Geräusch aufgeweckt, welches Othello verursachte, indem er laut zu wimmern anfing, richtete Ellinor ihr von Glück und Tränen strahlendes Antlitz empor – sie sah mich, und sogleich fuhr sie auf. Percy folgte ihrer Bewegung, auch er erhob sich und nun sahen Beide mich an.
»»Da ist er!« rief sie. »Er hat Wort gehalten!«
Und auch ich fühlte mich von ihren Armen umschlungen und von ihren Tränen benetzt. Ach! die Worte, die mir da gesagt wurden, werden mir in meinem Leben nicht wieder gesagt werden, aber auch das reine Entzücken, welches ich empfand, werde ich nie wieder empfinden.
Ich hänge einen Vorhang über das, was nun folgte. Denn wie man nicht in das Herz blicken kann, in dem das Glück lebendig wird, so kann man auch die Ausflüsse dieses Herzens nicht schildern, welches endlich den Gefühlen freien Lauf lassen darf, die es so lange im Verborgenen getragen hat.
Drei Tage vergingen und sie gingen wie im Fluge dahin, drei Tage auf stiller, heiterer See, im Sonnenschein der Liebe, der Freundschaft und des Vertrauens. Aber auch die reine christliche Ergebung in ein unvermeidliches böses Geschick wurde in Anspruch genommen, denn in diesen drei Tagen erfuhren Sir Robert und seine Tochter, wo Percy so lange gewesen und wie er dahin gekommen war. Auch das Erstaunen, das Entsetzen, die geistige Erstarrung, die diese Mitteilung hervorgerufen, waren vorüber und Alle empfanden demnach nur umso tiefer den Wert und die Bedeutung der immer noch verhängnisvollen Gegenwart.
Innerhalb dieser drei Tage sandten der Viscount von Dunsdale und ich an den Direktor und Oberarzt des Irrenhauses zu St. James unsere schon lange Zeit vorbereiteten und aufgesparten Briefe. Percy erzählte darin mit kurzen Worten seine Geschichte, ohne jedoch seinen Angehörigen zu nahe zu treten; er berührte schonend und verzeihend die schrecklichen Irrtümer, deren ebenso unschuldiges wie unglückliches Opfer er gewesen war. Auch ich fügte hierüber meine Erläuterungen bei. In Sir Johns ... Namen sprach ich gegen den Oberarzt das fest begründete Urteil aus, daß er auf Treu und Glauben Mr. Sidney für vollkommen gesund betrachten könne und daß derselbe nie geisteskrank gewesen sei. Die Wirkung dieser unerwarteten Lehre muß auf den sonst so biederen, kenntnisreichen und in seiner Kunst so zuversichtlichen Mann eine schreckliche, sie muß für sein ganzes übriges Leben andauernd gewesen sein.
Aber Percy war großmütig, wie es kaum ein Anderer gewesen wäre. Er dankte noch für die mannigfachen Gefälligkeiten und Freiheiten, die man ihm während seines langen Aufenthaltes in St. James erwiesen und gestattet hatte, und bat um Verzeihung wegen des Schreckens, den seine plötzliche Entweichung ihnen verursacht haben mußte. Er nannte St. James ein gastfreies und ein auf ewige Zeiten ihm nie aus der Erinnerung kommendes Haus; und Beides war gewiß wahr und wurde aufrichtig und ohne einen Anschein von Ironie gesprochen. Er bat ferner nur um die Übersendung seiner Orgel und seiner Bücher, alles Übrige, was er zurückgelassen, schenkte er der Anstalt; auch hatte er eine jährlich zu zahlende, nicht unbedeutende Summe zur Unterstützung bedürftiger Kranken ausgesetzt. Endlich aber schloß er mit der Bitte, ihn in Dunsdale mit recht zahlreichem Besuche zu beehren und so auch seine Gastfreundschaft baldigst in Anspruch zu nehmen. Seinen Namen und seinen Titel setzte er, um die Wahrheit seiner Aussage zu bestätigen, vollständig unter dieses Schreiben.
Einer von des Viscount Dienern, die unterdessen mit Wagen und Pferden nachgekommen waren, wurde als Bote mit diesem inhaltreichen und für die Annalen von St. James bedeutungsvollen Briefe an den Ort seiner Bestimmung abgesandt.
Nachdem auch dies erledigt war, wandten wir uns eifrig den Obliegenheiten zu, die von Percy zunächst erfüllt werden mußten und nach denen jetzt, nachdem er Ellinor wiedergefunden hatte, sein ganzes Gemüt dürstete. Es betraf dies die Versöhnung mit seinem Vater, dem Marquis von Seymour.
Die Erwähnung des Namens Mortimer aber, die hier nicht ausbleiben konnte, drang wie ein schneidendes Messer in die Brust aller derer, die dieser Mensch so elend, so unaussprechlich elend gemacht hatte. Percy war aber wieder der erste, der sich zum schnellen und ernsthaften Handeln entschloß. Er war voll Hoffnung und Vertrauen, und das konnte er sein, denn er nahte sich seinem Vater wie seinem Bruder mit edlen Vorsätzen, mit großmütigen Aufopferungen, dem Ersteren sogar mit neu erwachter und nie ganz erloschener Zärtlichkeit und Liebe.