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In unruhiger, aber freudiger Erwartung der Dinge lauschte ich in meinem Zimmer auf die Bewegungen, die sich von Zeit zu Zeit über und unter mir in dem allmählich stiller werdenden Hause hören ließen.
Nach etwa einer Viertelstunde vernahm ich deutlich den Tritt des Beamten, der jeden Abend um elf Uhr alle Räume untersuchte, um sich sowohl von der Anwesenheit aller Bewohner wie auch von den getroffenen Maßregeln wider Feuersgefahr mit eigenen Augen zu überzeugen.
Es ist dies eine sehr nachahmungswerte Vorsicht, die man in allen öffentlichen Anstalten einführen sollte, denn wenn einmal unglücklicherweise Feuer in einem großen Kranken- und Irrenhause ausbräche, in welchem immer mehr oder weniger Menschen an ihre Schlafstätten gefesselt sind, wieviel unglückselige und unrettbare Opfer würden dann zu beklagen sein!
Als ich die Türen der Gänge und Zimmer wieder hatte schließen hören und die Schritte des umgehenden Beamten verhallt waren, vernahm ich aus der Ferne die lustige Tanzmusik und das dumpfe Geräusch, welches die über den Boden scharrenden Füße, bisweilen untermischt mit fröhlichem Gelächter, in der Stille der Nacht bis zu mir gelangen ließen.
Der Saal, welcher zu dieser Festlichkeit hergegeben war, lag am Ende des Hauptgebäudes, und zwar auf der linken Seite desselben, die, wie sich der Leser erinnern wird, den sogenannten Männerflügel in sich begriff, weil nur männliche Kranke denselben bewohnten.
Die Direktion hatte diesen Saal gewählt, weil er geräumig genug war und in der Regel leer stand, wenn die Zahl der Kranken die gewöhnliche Höhe nicht überstieg; und es hatten sich an diesem Abende so viele Unterbeamte versammelt, wie bei dem gewöhnlichen Nachtdienst entbehrt werden konnten, um während einiger Stunden sich ihrem beliebtesten Vergnügen harmlos hinzugeben.
Weiß der Himmel! Überall auf der Erde tanzen die Leute gern, es muß also doch wirklich ein großes Vergnügen sein! Denn wo man tanzen sieht, da ist man auch gewiß, Frohsinn und Lebenslust zu Hause zu finden.
Als ich auch diesen für mich nicht sehr verführerischen Tönen eine Weile mein Ohr geliehen, trat ich an ein Fenster und öffnete es. Es war ziemlich finster, naß und kalt; ein feiner Sprühregen schlug mir ins Gesicht, der auch dazu beigetragen hatte, die wenigen bunten Lampen, die der stoßweise daherfahrende Wind verschont, frühzeitig zu verlöschen. Dieser Teil des Festes war also ganz gestört worden.
Es war eine unerquickliche Nacht, mit einem Worte eine jener Nächte, die man sich freut, in seinem Hause, womöglich im warmen Bette, im tiefsten Schlafe verbringen zu können. Und wir sollten in dieser Nacht aus St. James fliehen!
Es schlug halb zwölf Uhr. Gleich darauf trat Phillipps bei mir ein und sagte mit seinem gewöhnlich stillen Lächeln:
»Guten Abend, Sir! Ich soll Sie noch einmal vom Herrn Direktor grüßen und Ihnen seinerseits eine glückliche Reise wünschen.«
»Wie! so habt Ihr ihn noch gesprochen?«
»Ich bin ihm soeben auf der Treppe begegnet, er hat heute in höchsteigener Person die Hausrunde gemacht. Auch würde er noch einmal selbst gekommen sein, sagte er, um Sie bis an die Tür zu begleiten, aber er sei von der Aufregung des Tages übermäßig angegriffen und bedürfe der Ruhe. Daher bitte er um Entschuldigung.«
»So danken wir also der Anstrengung dieses Tages diesen Glücksfall!« erwiderte ich, »er ist sehr gütig, aber heute gehe ich lieber ohne seine Begleitung, so ehrenvoll mir dieselbe auch sonst gewesen wäre. – Ist Alles fertig, Phillipps?«
»Ja, Sir! Alles bereit; Pferd und Hunde sind angeschirrt; Ihre Sachen liegen vor dem Regen sicher – denn in Wahrheit, es ist ein verteufeltes Wetter, und – hören Sie doch, die Menschen lärmen und tanzen da unten, als wenn sie uns recht absichtlich wollten ungestört davonschlüpfen lassen. Hat der Chappert die Schlüssel zu den Korridoren schon gebracht?«
»Nein, er bringt sie erst nach zwölf Uhr auf Mylords Zimmer, wenn er bestimmt weiß, daß Alles in Ruhe und Ordnung ist.«
»Das wird ein unangenehmer Gang werden für Sie da hinauf; könnten Sie denn nicht gleich von hier unten aus mit Mylord nach dem Hofe gelangen?«
»Nein, Phillipps, ich muß hinauf, denn heute kann ich ungefährdeter zu ihm als er zu mir kommen. Und käme er auch herab durch den Korridor, wo die Leute tanzen, können wir doch nicht, da ein fortwährendes Aus- und Einlaufen in jenem Flügel stattfindet. Auf der Seite hier unten hinaus können wir auch nicht, denn da wohnen die Beamten, und wenn die nur das Geräusch wie von einer Ratte an ihren Türen vorbeischleichen hörten, so kämen sie heraus und sähen –«
»Was es für eine große Ratte ist, haha!«
»Nun, seht Ihr, da bleibt uns nichts Anderes übrig, als im obersten Stockwerk bei den schlafenden oder abwesenden Wärtern vorbeizugehen, durch den Weiberflügel die rechte Hintertreppe zu gewinnen und von da aus ins Freie zu gelangen, wo Ihr uns sogleich erwarten und durch die bewußten Zeichen Halt! oder Vorwärts! gebieten müßt.«
»Daran soll's nicht fehlen. Schlag zwölf Uhr verfüge ich mich hinaus und erwarte Sie bei den Ställen. Verfehlen Sie aber nicht den rechten Weg und gehen, statt nach diesen, auf die erste Brücke los, denn der alte Jakob, glaube ich, ist nicht bei dem Balle, der sitzt in seinem Hause und kann nicht schlafen wegen seines Rheumatismus.«
»Ich weiß es wohl; der Brunnen bleibt links – wir gehen rechts! Wie steht's mit der Finsternis?«
»O, das geht! Fünf Minuten im Dunkeln, und Alles wird zum Greifen deutlich; der Regen aber ist kalt und wird uns ins Gesicht schlagen bei der Flucht.«
»Das schadet nichts! Besser der Regen als der Feind!«
»Wollen Sie nicht Ihren Mantel über Ihren Rock ziehen – es wird kalt sein und Sie werden sich auf Ihrer Flucht erhitzen.«
»Ich denke den Mantel an Chappert zu geben, damit er Grund hat, mich bis zum Stalle zu begleiten.«
»So, so, es ist gut, Sir! Sie haben an Alles gedacht!«
Dieses Gespräch wurde in meinem Zimmer flüsternd geführt; ich habe es darum hierher gesetzt, um den Leser über die Einzelheiten unserer bevorstehenden Flucht aufzuklären. Wenn er sich an die gleich zu Anfang meiner Ankunft in St. James erwähnte Einrichtung des Irrenhauses erinnert, so wird er einsehen, daß wir nicht gut anders entweichen konnten als durch das obere Stockwerk des Weiberflügels, indem in dem Männerflügel heute Nacht, wie schon gesagt, ein größerer Verkehr stattfand und die große vordere und hintere Tür von einem Portier, der fast beständig wachte, verschlossen gehalten wurde, und daß es somit unnütz gewesen wäre, Percy zu mir herabkommen zu lassen, da wir doch wieder hätten hinaufsteigen müssen.
Jetzt schlug es zwölf Uhr. Phillipps nahm noch einen kleineren Teil meines Gepäcks auf den Arm und ging, indem er sich von dem Portier aufschließen ließ, durch die große Hintertür in den Park hinaus, nachdem er mir noch den glücklichsten Erfolg gewünscht hatte. Ich selbst löschte jetzt mein Licht, trat in den Korridor und schloß die Tür hinter mir zu, indem ich den Schlüssel mitnahm, um ihn an Chappert zu geben, der ihn nachher dem Oberportier einhändigen sollte. Mit diesem selbst hatte ich mich schon abgefunden und ihm gesagt, ich würde mich durch die Hintertür im Männerflügel entfernen, da ich noch Willens sei, dem Tanze eine Weile zuzuschauen. So konnte sich Niemand wundern, daß ich nicht durch den großen Torweg hinausging.
Die Lampen brannten hell auf den Treppen und Korridoren, aber es herrschte überall das tiefste Schweigen. Die Türsteher auf den einzelnen Treppenabsätzen schliefen in ihren Zimmern oder waren im Tanzsaale. Dennoch stieg ich so leise wie möglich die zwei Stockwerke in die Höhe und stand bald vor der bekannten Tür. Die gegenüber liegende Wärtertür war geschlossen, und da ich nicht wußte, ob der darin befindliche Wärter schlief oder ob er anwesend sei, machte ich so wenig Geräusch, wie ich konnte. Leise pochte ich mit dem verabredeten Zeichen an, und sogleich hörte ich den Schlüssel im Schlosse langsam sich umdrehen, den Chappert uns zu verschaffen gewußt hatte. Die Tür öffnete sich lautlos und ich trat in das dunkle Zimmer.
Wir boten uns einen guten Abend; Percy drückte mir die Hand, als ich ihn leise fragte:
»Ist Chappert schon mit den Schlüsseln hier gewesen?«
»Nein, aber vor etwa einer halben Stunde war der Direktor selber bei mir.«
»Wehe, wenn er eine halbe Stunde später gekommen wäre!«
»Gewiß! Glücklicherweise aber hatte ich das Licht schon gelöscht und kleidete mich im Nebenzimmer an.«
»Sind Sie da, Mr. Sidney?« fragte er.
»Jawohl, Herr Direktor!«
»Ah, Sie kleiden sich aus; haben Sie sich heute Abend amüsiert?«
»Es war ganz allerliebst, Sir!«
»Das denke ich auch. Nun, so schlafen Sie wohl! – Und damit schloß er die Tür. Aber sagen Sie mir, ist Phillipps schon im Stall?«
»Alles ist fertig! Doch haben Sie kein Wasser hier? Ich werde von einem entsetzlichen Durst gepeinigt.«
»Still! stoßen Sie sich nicht – da steht es auf dem Tische.«
Ich trat an den Tisch und tastete darauf herum. Ich fühlte ein Blatt Papier.
»Aha!« flüsterte ich. »Sagen Sie Ihren Freunden ein schriftliches Lebewohl?«
»Muß ich es doch, denn mündlich hätten sie es nicht angenommen.«
»Was ist das hier?« fragte ich, indem ich noch ein kleines Stück Papier in die Höhe hob.
»Nun, damit die Bitterkeit des großen Schreckens, den sie morgen früh hier empfinden werden, durch einiges Süße wenigstens gemildert werde, habe ich eine Fünfhundertpfundnote auf den Tisch zu dem Schreiben gelegt und den Direktor gebeten, sie für arme Kranke oder für ein neues Theaterstück zu verwenden, damit im letzterem Falle ein anderer Mr. Sidney wieder Gelegenheit finde, sich an seinem eigenen Kamine wärmen zu können. Man muß doch den Verwalter wenigstens liebkosen, wenn man den Direktor verletzt. Auch habe ich ihnen in meinem Lebewohl gesagt, daß sie noch mehr von mir hören werden und daß sie mir, wenn sie mich wiederhaben wollten in der Grafschaft Dunsdale einen Besuch abstatten sollten.«
»Sie sind bitter gestimmt, Percy, aber freilich! ich verdenke es Ihnen nicht.«
»Ich mir auch nicht. Im letzten Augenblick fällt mir Alles ein, was ich hier erlitten und draußen in der Welt entbehrt habe – großer Gott! vier Jahre!«
»Sie haben Recht! Aber um wieder auf den Schrecken zu kommen, den sie morgen hier haben werden – der erste Anfall wird lähmend sein.«
»Und gerade heute, an einem so ehrenvollen Festtage, einen solchen unerwarteten Verlust zu erleiden, das ist das Empfindlichste bei der Sache. Das ist die Belohnung, die Krone für so große Mühen, werden sie sagen. Hahaha! Ich sehe sie schon laufen und suchen und fragen und verlegen sein, dann gibt einer dem Andern die Schuld – hahaha! – Haben Sie noch nicht das Wasser?«
»Ja, ja, hier ist es und ich habe auch schon getrunken.«
In diesem Augenblick tat Percy einen Schritt und ich hörte das Klirren von Sporen an seinen Füßen.
»Aber um Gotteswillen! Sie tragen Sporen!« rief ich.
»Ich weiß es wohl, daß sie klingen, und werde sie noch einwickeln. Aber ich befinde mich in demselben Anzuge, in welchem ich herkam. Ellinor soll mich so wiedersehen, wie sie mich verlassen hat – ich habe die Kleider seit jenem Unglückstage nicht wieder angehabt – es war mein improvisiertes Hochzeitskleid! – Fühlen Sie, wie entsetzlich mager ich geworden bin –«
Er führte meine Hand an seine Brust – in diesem Augenblick huschte etwas draußen vor der Tür vorbei. Gleich darauf ließ sich das leise Pochen hören, das uns Chappert ankündigte. Percy umwickelte seine Sporen, während ich die Tür öffnete. Es war Chappert.
»Hier bin ich, Gentlemen!« sagte er. »Guten Abend, oder vielmehr gute Nacht und guten Morgen! Es ist Alles, wie es sein soll; aber es tut mir leid, die Schlüssel zum großen Korridor Ihnen nicht einhändigen zu können – ich habe sie nicht erhalten können; die Teufel von Frauenzimmern haben sie mit zum Tanze genommen, als wenn sie auch da etwas zu verschließen hätten!«
»Wie kommen wir hinaus?« fragte ich, nicht ohne Verlegenheit und einiges Herzklopfen.
»Ruhig, Sir! Ich habe Ihnen einen anderen Weg vorzuschlagen. Er ist freilich etwas unangenehmer, sonst aber ebenso sicher. Sie müssen durch die Krankenzimmer selbst –«
»Durch die ganze Reihe der Frauensäle?«
»Durch die ganze Reihe – es geht nicht anders.«
»Aber man wird uns erkennen, es werden nicht Alle schlafen – man wird Lärm machen, Chappert –«
»Man wird keinen Lärm machen, man wird sich viel zu sehr fürchten. Freilich werden nicht alle Weiber schlafen und man wird Sie wenigstens erkennen. Das schadet aber nichts, man kennt Sie als Arzt, aber hier Mr. Sidney – Seine Herrlichkeit, wollt' ich sagen – den darf man nicht erkennen, und deshalb habe ich den Mantel wieder mitgebracht, den ich schon unten auf dem Pferde hatte – und das ist auch die Ursache meiner Zögerung gewesen – Sie müssen sich das ganze Gesicht einhüllen, Mylord!«
»Das ist sehr unangenehm – und wo sind die Schlüssel zu den Krankenzimmern?«
»Hier ist der eine – von der ersten Tür – nehmen Sie ihn, aber verwechseln Sie ihn nicht mit dem andern –«
»Nein!« sagte ich, und steckte ihn in die rechte Tasche.
»Und hier ist der zweite für die letzte Tür.«
Ich nahm ihn und steckte ihn in die linke Tasche.
»Die Zwischentüren sind, wenn nicht offenstehend, doch unverschlossen; meine Frau, die noch auf ist, hat es mir versichert –«
»Aber die Wärterinnen, werden uns die nicht verraten?«
»Nein, das werden sie nicht; denn ein Teil von ihnen ist zum Tanze gegangen und ein anderer schläft fest, und sollte irgendeine zufällig noch wach sein, nun, dann müssen Sie auf einige kleine Aushilfen bedacht sein.«
»Gut! Wir gehen also geradeaus – bis zur letzten Tür, die verschlossen ist?«
»So ist es, und verschließen Sie sie wieder von außen und bringen Sie mir den Schlüssel zurück, damit ich ihn wieder an seinen Ort lege, denn es darf Niemand wissen, daß er in fremden Händen war.«
»Aber die Türsteher auf der hinteren Treppe?«
»Sie schlafen oder tanzen. Die Tür, welche von dem untersten Flur ins Freie führt, werde ich, ehe Sie da sind, von außen öffnen; im Park gehen Sie vorsichtig bis zum Brunnen, und da müssen Sie warten, Mylord, während wir nach den Ställen gehen und Ihr Pferd holen.«
»Es ist gut, es ist ganz gut«, sagte Percy, »ich weiß es.«
»Aber noch einmal, gehen Sie vorsichtig, meine Herren.«
»Gewiß, und am ersten Oktober erwarte ich Euch in Dunsdale – Ihr versteht mich?«
»Ich komme, o, ich komme gewiß; man wird mir keine angenehmen Tage hier geben, das versichere ich Ihnen, und darum kündige ich morgen schon meinen Dienst auf – doch, meine Herren, ich denke, es wird Zeit, es geht auf ein Uhr!«
»So gehen wir denn mit Gott!« sagte Percy. »Lebe wohl, Zimmer – wenn ich euch wiedersehe, meine Tröster in der Einsamkeit, meine Bücher und dich, meine Orgel, dann werde ich glücklicher sein – lebt für jetzt wohl!«
Chappert schlich zuerst hinaus, und schlüpfte die Treppe hinab. Percy, bis an die Augen in seinen großen Reitermantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gedrückt, trat auf den blendend hellen Korridor hinaus; ich folgte ihm, schloß leise die Tür und steckte den Schlüssel zu mir.
Auf den Zehen schleichend drückten wir uns an des Türstehers Tür vorüber und kamen an die Tür, welche den Mittelflur von dem Weiberflügel trennte. Sie war, wie immer bei Nacht, verschlossen. Ich nahm den Schlüssel aus der rechten Tasche und schloß, ohne Geräusch zu machen, langsam auf. Wir sahen in einen langen, ebenfalls hell erleuchteten Korridor tief hinab bis zu eben der letzten Tür, die verschlossen sein sollte und zu welcher Chappert den Schlüssel nicht hatte erhalten können. Gern hätte ich mich davon überzeugt, denn wir hätten, wenn das nicht der Fall war, nicht durch die Krankenzimmer zu gehen brauchen, wogegen ich einen großen Widerwillen hegte. Doch Chappert hatte es so gesagt und ihm mußte ich glauben. Wir traten durch die erste Tür zur linken Hand und befanden uns in einem großen Krankensaale von etwa sechs bis sieben Fenstern Länge. An beiden Seiten und in schönster Ordnung standen die Bettreihen, auf jeder Seite etwa acht. Eine grüne beschattete Lampe hing in der Mitte von der Decke herab und erleuchtete matt den stillen, langen Saal. Wir hörten die Töne des gesunden Schlafes, des Schnarchens, auch wohl einen langgezogenen Seufzer, mit Husten und Räuspern abwechselnd, als wir durch die freie Mitte des Saales schritten, und kamen zu der angelehnten Tür am Ende des Saales.
Ich machte sie auf und streckte vorsichtig den Kopf hinein – es war das erste Zimmer der Wärterinnen – kein Mensch befand sich darin.
Wir schritten hindurch und gelangten in den zweiten, fast noch einmal so langen Krankensaal, als es der erste gewesen war. Die Lampe an der Decke brannte weniger hell und verbreitete ein düsteres, fahles Licht ringsum. Kaum waren wir eingetreten, so fuhren wir zurück, denn wir gewahrten an dem entgegengesetzten Ende eine aufrecht und langsam einherwandelnde, in einen weißwollenen Nachtmantel gehüllte Gestalt. Man hörte nicht ihren geräuschlosen Schritt, nur ihr auf dem Boden lang nachschleppender Mantel verursachte ein gespensterhaftes Scharren, und sie schien, wie sie so gemessen daherkam, nicht zu gehen, sondern zu schweben. Die nackten fleischlosen Arme hielt sie vorn unter der Brust gekreuzt.
Ich blieb einen Augenblick stehen und sah sie mir genauer an da hatte sie uns aber auch schon erblickt und trat, ohne im Geringsten erschreckt zu sein, mit feierlich langsamen, pathetischen Schritten auf uns zu.
Sogleich erkannte ich an dieser abgemessenen Bewegung und an den langen, weit über die Schultern und fast bis zu den Hüften herabfließenden hochblonden Haaren, sowie an dem beinahe kreideweißen Gesicht eine jener ruhelosen, aber gutmütigen Unglücklichen, die nie schlafen, nie toben, nur in ewig redseliger Stimmung jeden Anlaß ergreifen, diese ihre Lieblingsneigung zu befriedigen.
Sie kam allmählich zu uns heran, und da sie mein Gesicht sehen konnte, auf welches der blasse Schein der Lampe fiel, glaubte ich, sie würde mich erkennen, denn sie hatte mich oft auf ihrem Saale gesehen und mit mir gesprochen.
Als sie dicht vor mir war, blieb sie stehen, heftete ihre glanzlosen Augen, in denen der Wahnsinn seine ewige Wohnung aufgeschlagen zu haben schien, auf mein Gesicht, lächelte und sagte anfangs leise, als ob sie die um uns herum Schlafenden nicht stören wollte, aber mit jenem gebrochenen Tone, den nur diese Kranken haben und der, einem pfeifenden Winde ähnlich, aus der klanglosen Brust über die immer bebenden Lippen tritt:
»So spät noch Besuch? Ei, ei! das ist hübsch von Ihnen, setzen Sie sich!«
»Still!« flüsterte ich, indem ich auf die Schlafenden wies, und wollte an ihr vorüber gehen; aber die Unglückliche, die so ungern allein war, wollte ihren späten angenehmen Besuch nicht so bald entschlüpfen lassen und, ohne daß ich es verhindern konnte, mit einem ihrer knöchernen Finger sich in eins meiner Knopflöcher einhakend, hielt sie mich unwiderstehlich fest und fuhr fort:
»Nicht so schnell, Männchen – ach! ich bin so allein! Wenn sie wüßten – ach!«
»Ich weiß, ich weiß!« sagte ich und suchte mich von ihr loszumachen.
»Was? was wissen Sie? Sie wissen nichts«, fing sie schon lauter an. »Man ist nicht so heftig und kurz gegen mich, das bin ich nicht gewohnt – wissen Sie, daß ich die Königin Elisabeth bin?« Hier warf sie sich in die Brust und sah mich mit einem stolzen, gebieterischen Blick an, »und daß Sie eigentlich vor mir knien müßten – he, wissen Sie das?«
»Jawohl, das weiß ich –«
»Und warum knien Sie nicht? Spricht so ein Untertan mit mir?«
Diese Worte sprach sie noch lauter, denn sie vergaß ihre Umgebung und gab sich schrankenlos ihren Einbildungen hin.
»Lassen Sie mich los, Königin Elisabeth!«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »ich hole auch den Grafen Leicester!«
»Den Grafen Leicester! hoho! meinen Geliebten! hoho! meinen Sie? O, der kommt nicht, der schläft, der schläft fest –«
Ich sah Percy schon an der nächsten Tür stehen – ich hätte alles mögliche getan, um von dem verrückten Weibe loszukommen, riß daher ihren Finger gewaltsam aus meinem Knopfloche und sagte hart:
»Wenn Ihr mich nicht gehen laßt, hole ich die Peitsche!«
»Hoho! die Peitsche!« rief sie jetzt laut aus. »Wann hat Elisabeth die Peitsche zu fühlen gehabt! Oho! die Männer! Küsse und Peitschen! Küsse und Peitschen! – Geht, geht, Ihr seid nicht mein Freund!«
Und ein gellendes Gelächter ausstoßend, wandte sie sich herum und schritt gravitätisch und in sich hineinkichernd den Saal hinab.
Ich eilte Percy nach, der schon im nächsten Wärterzimmer stand, welches ebenfalls leer war.
Wir kamen in das dritte Krankenzimmer, welches ein kleines Gemach war und nur vier Betten enthielt. Die Lampe desselben war dem Verscheiden nahe und flackerte nur bisweilen noch etwas heller auf, dennoch aber konnten wir unter derselben, wo die Stühle zusammengestellt waren, drei Gestalten in ihren weißen Nachtkleidern erkennen, die, sobald wir eintraten, wie aufgescheuchte Vögel in einem lauten Angstruf auseinanderstobend in ihre Betten flüchteten.
Wir schritten rasch durch das Gemach und standen schon an der Tür, als das vierte, im Bette liegende Mädchen sich aufrichtete, schnell Percys Mantel ergriff, den sie plötzlich und so heftig anzog, daß dem Erfaßten und auf diese Weise aufgehaltenen vom unerwarteten Ruck der Hut vom Kopfe fiel. Ich stand sogleich neben dem Bette, hob den Hut auf und sagte:
»Lassen Sie uns gehen, wir haben Eile!«
»Eile? Ei, sieh doch!« lachte das Mädchen und erhob ihren lockigen Kopf gegen mich. »Alle, die zu uns kommen, haben Eile, wieder fortzugehen – haben wir denn Eile? O nein! es ist so schön bei uns – bleiben Sie doch – da ist Betty – da Mary – da Emmy – sehen Sie doch, und ich bin Caroline, die schöne, aber arme Caroline, ach! ich habe noch immer keinen Geliebten!«
»Das ist schade!« sagte ich. »Wir müssen aber gehen, lassen Sie den Mantel los, Caroline!«
»Wo wollen Sie hin? Müssen Sie zu ihr? Erwartet sie Sie? – Ha! das muß schön sein – ich warte schon lange – sagen Sie mir erst, wer sie ist – ich bin neidisch – es braucht keine Andere glücklich zu sein – ich bin es auch nicht, haha! Ach, Caroline ist nicht sehr glücklich!« seufzte sie und ließ den schönen Kopf hängen, so daß die blonden verworrenen Locken ihr Gesicht fast bedeckten, aber immer noch hielt sie den Mantel mit beiden Händen auf ihrem Busen fest.
Noch einmal versuchte ich, ihr den Mantel mit Gewalt zu entreißen, aber es war vergebliche Mühe. Plötzlich aber ließ sie ihn von selbst los, sprang mit einem großen Satze aus dem Bette, umklammerte mich mit ihren bloßen Armen und drückte mir so fest den Hals zusammen, daß ich im ersten Augenblick nicht wußte, wie mir geschah.
Ich weiß nicht, wie wir losgekommen wären, wenn jetzt nicht eines der in ihre Betten geflüchteten Mädchen sich erhoben und mit ernster Stimme gerufen hätte:
»Laß los, Caroline! Es ist ja der Herr Doktor!«
»Ach, der Doktor, und immer nur der Doktor und nie ein Anderer!« flüsterte diese, ließ mich hastig los und kroch in ihr Bett zurück.
Noch einen Blick warf ich auf die vier Betten, unter deren Decken sich die Mädchen verborgen hatten, dann ging ich rasch weiter.
»Das ist schrecklich!« flüsterte Percy, »machen Sie, daß wir entkommen!«
Die dritte Tür war ebenfalls nur angelehnt, sie führte wieder in das Wärterzimmer, und in dem einen Bette desselben lag, laut schnarchend, eine Frau mit einem Kinde an der Brust. Wir schlichen auf den Zehen rasch hindurch und gewannen das vierte Krankenzimmer, welches, in einen Winkel gebogen, halb in dem Hauptgebäude, halb in dem rechten Hinterflügel lag. In der ersten Hälfte, die ziemlich dunkel war, bemerkten wir nichts als schlafende Frauen; aus der zweiten Hälfte aber, die durch den vorspringenden Winkel des Gebäudes von der ersten geschieden wurde, vernahmen wir eine für uns eben nicht erfreuliche Aufmunterung, weiter zu gehen, nämlich ein wildes Kreischen, unterbrochen von einer ernsten, zuredenden Frauenstimme. Es half nichts, wir mußten um die Ecke biegen. Da hatten wir denn das störende Schauspiel vor uns. Auf einem Tische, neben einem Bette, stand eine hell brennende Lampe. An dem Bette stand eine Wärterin – es war glücklicherweise Chapperts Frau – und bemühte sich, ein ungezogenes Mädchen, das sich fast alle Kleider vom Leibe gerissen hatte und ihren Händen entwischen wollte, zu bändigen; aber es gelang ihr nicht, da sie allein war.
Beide waren über unser plötzliches leises Eintreten einen Augenblick betroffen, aber die Wärterin erkannte uns sogleich und sagte:
»Ah, Sie sind es, Herr Doktor! Es ist gut, daß Sie kommen; helfen Sie mir Jane ins Bett bringen und ihr die Zwangsjacke anlegen, sie ist unartig.«
»Nein, nein! ich will nicht die Jacke!« kreischte diese und schlug und biß wütend um sich.
Ich ergriff ihre Hand und die eine Hälfte der Jacke, aber auch unseren vereinten Kräften war es unmöglich, sie zu bewältigen; sie war so rasch, so glatt, so klug, uns immer wieder ihre schlanken Glieder zu entreißen, wenn wir sie fest zu haben glaubten.
Percy schaute diesem sonderbaren Kampfe eine Weile zu, dann trat auch er näher, ergriff den einen Arm des Mädchens mit seiner kräftigen Rechten, schob ihn heftig in den Ärmel der Jacke und hielt sie fest.
Dieser schnelle Gewaltstreich mußte der Tobenden zu überraschend und unwiderstehlich vorkommen, denn sie wurde auf der Stelle ruhig und ließ sich von der Wärterin einschnüren.
Während diese noch damit beschäftigt war, sie an das Bett zu befestigen, schlüpften wir rasch durch das nächste Zimmer, welches leer stand, und gelangten in den letzten Krankensaal, der wieder ziemlich lang war und an dessen Ende die Tür lag, die verschlossen gehalten wurde und von uns geöffnet werden mußte.
Eben als ich mich des Schlosses bemächtigt hatte, schoß abermals plötzlich ein Mädchen von ihrem Lager empor, stürzte auf mich los und, ihre Arme wie eine eiserne Klammer um meinen Hals werfend, schrie sie laut auf:
»Da habe ich sie, die Diebe! Sie wollen stehlen – Hilfe, Hilfe! Feuer, Feuer!«
Der entsetzliche Ruf würde in jedem anderen Hause sogleich alle Aufmerksamkeit erregt, und eine Menge Menschen herbeigezogen haben. Hier aber war man an dergleichen Ausbrüche toller Leidenschaft glücklicherweise gewöhnt, so daß man nicht mehr darauf achtete, als hätte Jemand: »Wasser, Wasser! mich dürstet!« geschrien.
Dennoch aber konnte der Ruf uns heute verderblich werden, denn wenn nur ein einziger Mann sich von dem Tatbestande näher überzeugen wollte, so waren wir verraten. Es mußte daher schnell gehandelt werden.
Auf einen Wink von mir bemächtigte sich Percy des Mädchens und hielt sie fest, die sich wütend verteidigte und in seinen Mantel biß, während ich den Schlüssel in meiner linken Tasche suchte, um rasch aufzuschließen.
Aber – o Schrecken! Er ging wohl ins Schloß, aber er öffnete es nicht, ich mochte ihn drehen und wenden, wie ich wollte. Einen Augenblick stand ich verwirrt und in der Tat unschlüssig da – da war es mir, als hörte ich von ferne und hinter uns her Jemanden dem Saale näher kommen, die höchste Eile war vonnöten – da, meinen Irrtum erkennend, bemerkte ich, daß ich den Schlüssel zu Percys Stubentür genommen und den rechten noch in derselben Tasche hatte.
Sogleich schloß ich auf. Nun faßten wir beide das sich sträubende Mädchen, trugen es auf das nächste Bett, banden sie, die entsetzlich nach Hilfe und einmal um das andere Feuer! schrie, mit einem daneben liegenden Gürtel um den Leib an das Bett und – wir hörten schon den schnell näherkommenden Tritt – entfernten uns hastig durch die Tür, die wir eiligst wieder verschlossen.
Es war die höchste Zeit, denn gleich hinter uns trat Jemand ein. Da er aber keinen Schlüssel zu der Tür hatte, konnte er uns nicht nachfolgen – wer es war, weiß ich nicht – es mochte Chapperts Frau gewesen sein, doch war es für uns ein höchst beunruhigender Zufall.
Jetzt befanden wir uns, von den gehabten Anstrengungen tief Atem schöpfend, auf dem Korridor. Wir sprachen nicht, aber wir blickten uns Beide lächelnd an. Dies geschah, während die Lampe, die auf diesem Korridore neben der Treppe, dicht über unseren Köpfen, brannte, noch einmal hell aufflackerte, dann aber plötzlich erlosch und uns in der dunkelsten Finsternis, nicht wissend, wohin wir uns wenden sollten, zurückließ.
Ich war nie diese Treppe hinuntergegangen, wußte daher nicht, wo die ins Freie führende Ausgangstür sich befand; dennoch stiegen wir, so leise wir konnten, die zwei Stockwerke hinab.
Ohne die Vorsicht Chapperts, der glücklicherweise die Tür, die in den Park rührte, offen gelassen hatte, die sich uns durch abwechselndes, vom Winde hervorgebrachtes Auf- und Zuschlagen bemerklich machte, wären wir in die größte Verlegenheit geraten, denn ein einziges Herumtasten an einer falschen Tür konnte uns verraten. Percy, der, voller Trieb und Sehnsucht, ins Freie zu kommen, mir voranging und den die soeben erlebten Szenen erschüttert haben mochten, erspähte sie zuerst, und in dem freudigen Bewußtsein, jetzt die längst ersehnte Freiheit vor sich zu haben, sprang er rasch hinaus – und das war ein großes Glück. Denn in demselben Augenblick, wo ich ihm nachfolgen wollte, öffnete sich hinter mir eine Tür und eine rauhe Stimme sagte:
»Wer geht da?«
»Ich bin es!« sagte ich laut und fest.
»Wer, zum Teufel! ist das – ich?« fragte der Portier des Hinterflügels, denn er war es, »ich kann nicht alle Stimmen kennen!«
»Ich, der Doktor ...!« sagte ich. »Ich komme eben die Tür herein, die ich offen finde, und weiß nicht, wo ich bin – ich suche mein Pferd –«
»Ah, Sir, Sie sind's! Na, ich dachte schon – aber, zum Teufel noch einmal, wer hat die Tür aufgemacht?«
»Das weiß ich nicht, ich fand sie offen – aber es ist so verzweifelt finster, daß ich mich gar nicht zurechtfinden kann; ich glaube, ich bin in eine falsche Richtung gekommen.«
Der Mann mußte halb im Schlaf sein, denn sonst hätte er Verdacht schöpfen müssen – was hatte ich denn in diesem Flügel zu suchen? Und dann war es auch unwahr, was ich über die Finsternis sagte. Im Korridor freilich war es ganz dunkel, aber außen gewiß nicht so, daß ich nicht hätte den Stall vom großen Irrenhause unterscheiden können.
Ich mußte späterhin selber über meine einfältige Ausrede lächeln, als ich mir das Erlebte zurückrief – genug aber, ich kam mit meiner Aussage davon. Der gefällige Mann beschrieb mir kurz die Richtung, in der ich den Stall finden würde, dann schob er hinter mir den Riegel vor die Tür und sprang, da ihn in seiner dünnen Bekleidung frieren mochte, in sein Zimmer und sein Bett zurück.
Jetzt waren wir endlich unentdeckt im Freien. Im vollen Laufe stürzten wir auf den Brunnen los – hier blieb Percy stehen. Ich selbst verfügte mich in den Stall, der am Ende des rechts führenden Weges lag.
Das Wetter war in der Tat abscheulich, ein kalter Regen strömte herab, der umso empfindlicher war, da bis vor wenigen Tagen eine so große Hitze geherrscht hatte; und der heulende Wind jagte in kurzen abgebrochenen Stößen, Bäume und Sträucher niederbeugend, über die Erde.
In die Nähe des Stalles gelangt, ward ich durch Phillipps, der uns schon sehnlichst erwartete, benachrichtigt, daß Alles zur Abreise fertig sei. Chappert gab mir meinen Mantel, den er bis hierher getragen, und empfing darauf sämtliche Schlüssel von mir. Dann ward Bravour von einem Stallknecht, der des Trinkgeldes wegen, das er von mir erwartete, im Stall geblieben war, herausgeführt und ich setzte mich sogleich auf. Niemals habe ich so große Freude empfunden, in den Bügeln zu sitzen, wie diesmal.
»Wo ist er?« flüsterte Chappert.
»Am Brunnen!«
»Gut! so werde ich ihn bis an das Gebüsch vor der ersten Brücke bringen. Halten Sie daselbst still. Und nun gute Nacht!« setzte er laut hinzu, »leben Sie wohl – ich wünsche eine glückliche Reise!«
Gleich, nachdem er in der Dunkelheit verschwunden und auch der Stallknecht seine Gebühren empfangen und davongeeilt war, fuhr Phillipps mit seinem kleinen Wagen, den drei große gelbe Doggen zogen, aus dem Stalle ins Freie hervor. Vorn auf dem Wagen lagen mein Gepäck und diejenigen Sachen, die Percy gern hatte mitnehmen wollen und die schon Tags zuvor von Phillipps aus seinem Zimmer geschafft worden waren. Hinten stand der schon früher erwähnte große Korb, von Weidenruten geflochten und diesmal mit starken Stricken an den Wagen befestigt, groß genug, um einen Menschen, wenn auch in zusammengekauerter Stellung, verbergen zu können. Die Hunde bellten freudig, als es fortging, und zogen kräftig an – wir bewegten uns langsam der ersten Brücke zu.
Es war nicht so dunkel, um nicht die nächste Umgebung wahrnehmen zu können, obwohl es schwer war, in der Ferne einen Menschen von einem anderen Gegenstande zu unterscheiden. Zu dem vorher erwähnten Gebüsch gelangt, hielten wir still und blickten uns um. Ein leises Pfeifen verriet uns die Anwesenheit Chapperts und seines Schützlings. Phillipps lenkte ganz nahe an das Gebüsch, dann hielt er an und schlug ohne Aufenthalt den Deckel des Korbes zurück. Percy sprang sogleich hervor, warf seinen Mantel hinein und kletterte dann mit unserer Hilfe selbst nach. Darauf wurde schnell der Deckel übergeworfen, mit einem Vorlegeschloß, um jede mögliche Neugier zurückzuhalten, verschlossen, dem zurückbleibenden braven Chappert eine gute Nacht gewünscht, und nun ging es vorwärts auf die Brücke los. Diese war durch das gewöhnliche Gitter versperrt.
Phillipps klopfte an ein Fenster des Wärterhäuschens, welches dunkel war. In diesem Augenblick schlug die große Uhr die erste Morgenstunde – so lange waren wir innerhalb des Hauses aufgehalten worden.
Aber kein Mensch regte sich in dem Wärterhause. Es wurde lauter geklopft. Nichts antwortete – das Haus war verschlossen. Trotz seines Rheumatismus hatte der alte Jakob Toby wahrscheinlich doch nicht dem Verlangen widerstehen können, dem Tanze beizuwohnen.
Nun war guter Rat teuer – wir durften uns nicht zu lange aufhalten, denn durch irgendeinen unglücklichen Zufall konnte trotz aller von uns angewendeten Vorsicht Percys Flucht entdeckt werden.
Ich stieg daher selbst ab und näherte mich dem Gitter in der Absicht, das Schloß aufzubrechen. Eben mit der Arbeit beginnend, bemerkte ich zu meiner freudigsten Überraschung, daß der Schlüssel im Schlosse steckte. Jetzt wurde das Gitter leicht und schnell geöffnet und wir eilten, so rasch wir konnten, hindurch. Die zweite Brücke war ebenso durch das Gitter verschlossen, aber auch hier war der Schlüssel zurückgelassen.
Jetzt mit lebhafterer Hoffnung, das Freie zu gewinnen, rückten wir der dritten Brücke näher – das Gitter war verschlossen, aber kein Schlüssel vorhanden. Es wurde an das Fenster gepocht, aber keine Antwort erfolgte.
»Klopft noch einmal, Phillipps, und lauter!« rief ich stark.
»Hollah! was gibt's?« schallte eine rauhe Stimme heraus.
Bald darauf trat der aus dem Schlaf geweckte Wärter ans Fenster, öffnete es und schaute heraus.
»Aha! Warten Sie einen Augenblick, Sir!« rief er. »Ich will nur meinen Pelz anziehen – das ist ja eine verdammte Nacht!«
Gleich darauf kam er heraus.
»Also Sie wollen wirklich fort?« fragte er; »da wäre ich doch lieber die Nacht im Trockenen geblieben – o, die armen Hunde!«
»Schließt schnell auf«, sagte ich, »Ihr werdet sonst sehr naß; und hier habt Ihr eine Kleinigkeit!«
Damit reichte ich ihm eine Guinea für seinen guten Willen hin, die ich schon in Bereitschaft gehalten hatte.
»Danke, danke, Sir – glückliche Reise!«
»Adieu!« sagte Phillipps lächelnd. »Grüße den Herrn Direktor von mir und sage ihm auch in meinem Namen den schönsten Dank, daß er mich mit meiner Schmuggelware so ungestört hat reisen lassen.«
»Welche Schmuggelware, he?«
»Das wird er dir morgen aufs Wort selber sagen, wenn du ihn danach fragst.«
»Werd's ausrichten, Hundekutscher – wünsche eine recht angenehme Nacht!«
»Und ich einen angenehmen Morgen, wenn du berichtest! Gute Nacht, gute Nacht!«
Ich atmete frei auf – der Schweiß tropfte mir von der Stirn, ungeachtet es nichts weniger als warm war. Wir hielten noch einen Augenblick, während sich Phillipps vorn auf seinen Wagen setzte, dann peitschte er seine Hunde an und wir flogen, was die Tiere laufen konnten, die kleine Anhöhe hinan.
»Zehn Minuten so!« rief Phillipps, »und wir müssen die winzige Meile, und was darüber ist, hinter uns haben!«
Wir erreichten bald den Gipfel des Hügels, dann ging es noch schneller den Berg hinab. Nach wieder etwa zehn Minuten sahen wir auf der Straße vor uns Licht. Wir kamen ihm näher – es waren die Laternen an des Viscount Wagen. Jetzt hielten wir an. Der Korb wurde geöffnet, Percy sprang heraus. Ich war vom Pferde gestiegen und half ihm dabei. Er fiel mir und Phillipps mitten auf der Straße um den Hals.
Dann schritten wir rasch dem Wagen zu, der, mit Sechsen bespannt, im vollen Regen mitten auf dem Wege hielt.
In diesem Augenblick wurde es etwas heller, und obgleich der Mond unter dem düsteren Wolkenschleier, welcher den Himmel bedeckte, nicht sichtbar wurde, so wußten wir doch, daß er aufgegangen war, einiges Licht wenigstens auf unseren dunklen Weg zu streuen.
Aber dieser Weg, so finster er auch sein mochte, für uns hatte er seine Dunkelheit verloren. Es war Tag in uns, und vor dem glänzenden Lichte dieses Tages mußten selbst die Schatten einer englischen Nacht weichen.
»Hier bin ich!« rief der Viscount mit lauter Stimme seinen Dienern zu, als er ihnen nahe gekommen war.
Die guten Leute konnten nicht vergessen, daß sie Engländer waren, sie begrüßten ihren so lange nicht gesehenen Herrn mit einem lauten und wiederholten Hurrah.
Bravour war jetzt mit einer Decke bekleidet, einer der Diener nahm ihn neben sein Pferd an die Leine. Sonst wurde kein Wort gewechselt.
Als alle wieder aufsaßen, Phillipps die auf dem Wagen liegenden Sachen in die Reisekutsche geschafft, seine Hunde losgeschirrt und seinen Karren in einen Graben geworfen hatte, stiegen wir drei rasch ein.
»Fahrt in scharfem Trabe, bis es Tag wird«, rief der Viscount den Vorreitern zu; »den Weg wißt Ihr und nun mit Gott vorwärts!«
In scharfem Trabe ging es vorwärts, querfeldein auf dem Wege fort, den ich selber als den kürzesten und besten bezeichnet hatte.
Das war unsere längst beabsichtigte Flucht aus dem Irrenhause zu St. James.