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Der Leser kennt das laute Gewühl und die drückende Schwüle, die Anfang August den Reisenden umgeben, wenn er von der Seite der City in die ungeheure Hauptstadt eintritt. Der Eindruck der Unruhe aber und der Verwunderung, den dieses nirgends wieder anzutreffende Treiben auf jeden Fremden hervorzubringen pflegt, trat bei mir diesmal nicht ein, denn ich sah in London jetzt nur den Ort, um welchen meine Gedanken so lange hoffnungsvoll umhergeschwärmt waren und der alle die Vorbereitungen, die ich bisher erzählt habe, durch einen glücklichen Erfolg krönen sollte. Der große Kreis meiner Unternehmungen war mir durch die Ankunft in dieser Stadt, wo alle meine gegenwärtigen Interessen sich vereinigten, geöffnet, und ich beschloß, dieselben sogleich tätig und eilig zu beginnen.
Während meiner früheren Anwesenheit in London hatte ich bei einem befreundeten Landsmanne gewohnt, jetzt aber, um Herr meiner Zeit und völlig unabhängig zu sein, bezog ich ein Hotel, so nahe wie möglich der Wohnung meines Gönners, des Freundes meines Vaters, des berühmten Arztes Sir John ..., der damals in Regent-Street wohnhaft war.
Es ist ein behagliches Gefühl, von einer anstrengenden Reise zurückgekehrt, auf einem stillen und wohnlich eingerichteten Zimmer sich der Ruhe und dem Nachdenken überlassen zu können, ich aber empfand dieses behagliche Gefühl damals nicht. Denn mein Geist war zu rege und umherschweifend und mein Gemüt zu bewegt, um friedlichen Gedanken und ruhigen Betrachtungen Zutritt zu gestatten.
Vor allen Dingen entledigte ich mich des vielen Geldes, welches ich bei mir trug, und ordnete meine Papiere, denn am nächsten Morgen schon wollte ich meine notwendigsten Besuche machen, um mich sogleich von der Lage der Dinge zu überzeugen.
An andere Besuche, in Betreff meiner eigenen Angelegenheiten, dachte ich nicht.
Mein erster Schritt in London sollte daher der auf den frühesten Morgen festgesetzte Gang zu Sir John ... sein, und um ihn von meiner Anwesenheit zunächst zu unterrichten, schickte ich noch Abends zuvor, bald nach meiner Ankunft, eine Karte zu ihm, worauf ich die Antwort erhielt, daß mein Besuch angenehm sein würde und schon erwartet wäre.
Doch um den Leser über die ungewöhnliche Persönlichkeit dieses Sir John ... etwas aufzuklären, halte ich es für geraten, einige Bemerkungen über seine Stellung, seinen Charakter und seinen Wirkungskreis voranzuschicken.
Der Baronet Sir John ... war einer der ausgezeichnetsten Ärzte und zugleich einer der gebildetsten Männer, die ich auf meinen weiten Reisen kennenzulernen das Glück hatte. Mit einem unerschütterlich festen Charakter und doch der zartesten Gemütlichkeit begabt, hatte er durch eisernen Willenfleiß, durch ununterbrochenes Studium an den ersten Quellen ärztlichen Wirkens sowie durch die originelle Begabung seines klaren Geistes Anerkennung und Beifall während der ganzen Laufbahn seines tatenreichen Lebens gefunden. Denker, Arzt und Mensch in einer Person und außerordentlich reich an den mannigfaltigsten Erfahrungen, hatte er stets als Held an der Spitze der Gesellschaft und des akademischen Lebens gestanden. Früher einer der ersten und gesuchtesten Ärzte sowie ein geschickter, kühner Operateur, hatte er sich erst später mit einer fast grenzenlosen Neigung auf das unerforschlich tiefe Studium der Gemütskrankheiten des Menschen geworfen, und seine Bestrebungen waren auch in dieser Richtung von den herrlichsten Erfolgen gekrönt worden.
Er dachte und lebte jetzt nur in dem Geiste Anderer, die weniger Verstand und Urteilskraft hatten als er, um jenen mattglimmenden Funken, wie Percy es nannte, der von dem erloschenen Lichte noch übrig geblieben war, heller anzufachen; und die Ursachen dieses Erlöschens zu ergründen und zu beseitigen, war die weite Rennbahn, auf der er gegenwärtig seine großen Fähigkeiten tummelte.
Als erstem Arzte am Bethlehems-Hospitale, dem größten Irrenhause der Welt, war das Geschick ihm günstig entgegengetreten, und wie er hier unausgesetzt tätig war, so wirkte er auch mit seinem Rate und seinen Mitteln in der großen Welt fort. Daß ein solcher Mann die Achtung und Ehrenbezeigungen des Aus- und Inlandes und nebenbei ein großes Vermögen auf die segensreichste Art erworben, brauche ich wohl nicht noch besonders zu erwähnen.
Seine Persönlichkeit war so auffallend und originell, wie seine Kenntnisse umfassend und seine Gutmütigkeit erstaunlich waren. In jüngeren Jahren von ruhigem, besonnenem Betragen, erschien er jetzt, in seinem Alter auf den ersten befangenen Anblick eisig kalt. Diese Kälte aber war nicht die Folge eines erstorbenen Herzens, sondern seiner immer mehr und mehr zunehmenden Geistesruhe und Klarheit, sie war die reine kontemplative Isolierung – wenn ich mich so ausdrücken darf – von Allem, was außer ihm lag, und er bediente sich ihrer, um desto ungestörter seine Ideen entwickeln und seine Absichten verfolgen zu können.
Vor zwei Jahren vom Schlage getroffen, bewegte er sich nur mit Mühe; seine Hände zitterten, seine Füße schlotterten etwas und seine Zunge lallte bisweilen, so daß er manche Wörter nur mit Anstrengung aussprechen konnte, die er jedoch, wenn er anstieß, mit der schnellsten Fassung, obwohl langsam und mühsam, wiederholte. Daher war sein Gang unsicher, seine Haltung zusammengesunken, seine Ausdrucksweise in der Regel kurz, schnell, abgebrochen und gab sich oft durch die sonderbarste Zusammenstellung von Bildern und kurzen Ausrufungen kund.
Höchst charakteristisch aber erschien sein geistreiches Gesicht, und der Ausdruck seiner Züge war bisweilen überwältigend und hinreißend. Seine Gesichtsfarbe war bleich, beinahe aschfarbig; wenige Haare bedeckten seinen Scheitel und diese wenigen waren silberweiß. Seine Wangen waren eingefallen, schlaff und der Knochenbau seines ganzen Antlitzes deutlich zu verfolgen. Seinen Mund hielt er, wenn er schwieg, stets zusammengekniffen; wenn er aber sprach, wo er überhaupt ein ganz anderer Mensch wurde, entwickelten sich blitzschnell so sprechende Mienen und Züge in allen Linien um diesen Mund, daß ich oft mit staunender Verwunderung diesem bewegten Spiele seiner Muskeln zusah.
Die auffallendste Sonderbarkeit seiner ganzen Erscheinung bestand aber in dem eigentümlichen Verhältnis seiner Augen zu seinem Blick. Die Augen, graublau, rund und groß, erschienen beim ersten Hinblick, und wenn er still vor sich niedersah, matt, beinahe träge und fast erloschen; sobald er aber aufmerksam den Blick auf Jemanden heftete, sei es im eifrigen Gespräch, sei es bei der Untersuchung und Beobachtung eines Menschen, namentlich bei der Erforschung seines Seelenzustandes, so war man geblendet von diesem eigentümlich brennenden Feuer, von dem bannenden Festhalten, welches dem Scharfblick des Adlers glich, und von dem durchbohrenden Ausdruck seines immer tiefer und tiefer sich einsenkenden Strahlenblickes. Daher denn auch seine große Gewalt über die Menschen und besonders über alle Irren, die diesem Blicke unterworfen waren. Einmal auf einem Menschen ruhig und unverrückt wurzelnd, durchdrang er unwiderstehlich jede Mauer des Willens und des Hinterhalts, und indem er zu Boden schmetterte, las er selbst die Gedanken aus der Seele und die Empfindungen aus dem Herzen seines Opfers. Dieser seinen klaren Geist und seinen überwältigenden Verstand verratende Blick reichte hin, seinen Willen überall durchgeführt zu sehen, und kein Mensch, auch der roheste und unbändigste nicht, vermochte ihm zu widerstehen, er bezwang Jeden.
Wie er aber streng als Arzt, bestimmt in seinen Entschlüssen und unbeugsam in der Ausführung derselben sich zeigte, war er aufrichtig als Freund, milde als Mensch und nachsichtig gegen Irrtümer, vor allen Dingen aber nie übermäßig eitel und eingebildet, nie übelwollend und neidisch wie viele seiner Kollegen, nie nachtragend – immer offen, immer freisinnig, immer heiter, und auch insofern ein beneidens- und nachahmungswerter Mensch.
Eine Eigentümlichkeit aber hatte er sich in seinen späteren Jahren zugelegt – mein Vater wenigstens hatte sie an ihm noch nicht gekannt – er liebte den Scherz, dieser ernste Mann, und nichts ging ihm in Gesellschaft über einen guten Spaß, den er gar zu gern selbst, in seiner abgebrochenen Redeweise aber scharf und schlagend, vortrefflich erzählte und dabei nie die Grenze der Wahrheit und des Anstandes überschritt. Wer ihn so zum ersten Male sah und eine Weile plaudern hörte, konnte unmöglich jenen erhabenen und geistvollen Denker in ihm vermuten, als welcher er doch überall bekannt, ja berühmt war. Ebenso war seine gewöhnliche Unterhaltung, obgleich immer geistreich und mehr ahnen lassend als aufschließend, keine gesuchte, gewählte, vielmehr ließ er sich gehen und sprach ganz nach seiner Bequemlichkeit und seiner Laune.
So war denn dieser seltene und geniale Mann von denen, die ihn kannten, über Alles geehrt und geliebt, von denen, die ihn nicht kannten, angestaunt und von seinen Kranken gefürchtet, aber gesegnet, denn sie wußten, daß er hielt, was er versprach, und daß das Andenken an ihr Leiden in seinem Herzen nicht verloren war.
Zu der Stunde, in welcher ich ihn zu Hause wußte, begab ich mich in seine Wohnung, und ohne mich von seinem Kammerdiener, der mir gesagt hatte, daß sein Herr schon zweimal nach mir gefragt habe, melden zu lassen, eine Gunst, die nur Wenigen vergönnt war, trat ich bei ihm ein und fand ihn vollständig zum Ausfahren gekleidet, wie er es immer war, auf einem Lehnstuhle, in seinem großen Empfangssaale sitzend, dessen Wände mit den vortrefflichsten Ölgemälden bedeckt und dessen übriges Mobiliar von dem feinsten Geschmack zeugte, aber von der solidesten Beschaffenheit war.
Als ich die Tür, durch welche ich eingetreten war, schloß, drehte er sich halb auf seinem Stuhle herum, und den Kopf, wie er es pflegte, nach vorn geneigt haltend, rief er, seine zitternde Rechte mir schon von Weitem entgegenstreckend, in einem so gutmütigen und sanften Tone, wie ich es stets von ihm gewohnt war:
»Ach, da ist ja der kleine Job!«
Denn so nannte er mich, obgleich ich weder Job hieß, noch klein war; aber Job war in früheren Zeiten der Spitzname meines Vaters gewesen und von diesem auf mich übertragen, denn Sir John, wie fast jedem großen Manne, waren seine Jugenderinnerungen heilig, und so mußte es mir denn eine Ehre sein, wenn sich der alte Herr auf meine Kosten ein so kleines Vergnügen machte.
»Da ist ja endlich der kleine Job«, rief er, »mit seinen Geheimnissen aus St. James, he? Ist doch sonderbar, alle Leute auf der Welt haben Geheimnisse, und ich habe in meinem Leben keins gehabt! Hm!«
»Dafür haben Sie, Sir, viele Geheimnisse der Übrigen gewußt!« entgegnete ich, ihm herzlich die Hand drückend.
»Hm! Wer Anderen etwas verbirgt, verbirgt sich selbst in der Regel am meisten – und nun, kleiner Job, wie geht's?«
»Ich danke von Herzen, Sir, bei Ihnen geht es mir immer gut!«
»Und glücklich einmal wieder da? Diese Reiselust – komisch Ding! Ist doch am besten und ruhigsten zu Hause – aber es freut mich – was machen die da oben?«
Er meinte hiermit St. James, weil es nördlich von London liegt.
Ich bestellte ihm die Grüße, die mir aufgetragen waren, und überreichte ihm den bewußten Brief des Oberarztes, den er beiseite legte, und wollte eben auf das Abenteuer kommen, welches mich an seine Seite gerufen hatte, als er lächelnd sagte:
»Warte noch ein bißchen damit, kleiner Job – was macht Mr. Derby, der Unterarzt? Trägt er noch immer seinen hellblauen F – Frack?«
»Ja, er trägt einen blauen Frack.«
»Fatales Wort das – F – Frack, meine Zunge will gar nicht mehr fort, Job, hm! Der blaue F – Frack! Kennen Sie die Geschichte vom blauen Frack, he?«
»Nein!« sagte ich und lächelte, denn ich wußte, daß die Geschichte jetzt kam.
»O, Sie sind in St. James gewesen und wissen das nicht! Ist gar keine Lust mehr da – na! Sie sollen gleich hören: Damals, als ich da oben war – ist etwas lange her – trug sich diese Geschichte zu. Denn Mr. Derby kleidete sich immer in einen blauen Frack; da er außerdem nur noch einen schwarzen hatte, der jedoch nur bei großen Feierlichkeiten zum Vorschein kam, war der Bratenrock–hm! war bald eine bekannte Sache das, und Mr. Derby hieß allgemein: der blaue Frack! Als nun einmal ein Festtag herbeikam, beschlossen seine geliebten Pfleglinge, sich einen Spaß mit dem blauen Frack zu machen. Eine gewisse, lustige Person, die außer daß sie verrückt war, auch als Schöngeist galt, dichtete eine Komödie und nannte sie: der blaue – F – Frack! Komödienspiel war immer Mode unter Leuten ohne Verstand – hm! besonders damals zu St. James. Hm! – Sie lächeln, kleiner Job? Aber ich habe auch Komödie gespielt – als Liebhaber – machte immer den Anbeter, haha! Nun die Rollen wurden verteilt und gelernt. Die Kegelbahn war das Schauspielhaus – Zuschauer sitzen – Akteure kommen – aber da fehlt das Beste – die notwendigste Garderobe – der blaue F – Frack! Ja, was nun? Stille, sagte der Schöngeist, Mr. Derby schläft, ist die Zeit seiner Mittagsruhe – werde den Rock aus seinem Zimmer stibitzen. Gut! schleicht zu ihm hinein – ha! da liegt der Rock auf dem Stuhl – vortrefflich! – nimmt ihn wie der beste Taschenspieler, läuft im Triumph nach der Kegelbahn – hier ist er, Gentlemen, der blaue F – Frack! Haha! wird mit Beifall empfangen – Händeklatschen muß dabei sein, sonst ist's Nichts – und das Stück nimmt seinen Anfang.
Aber nun geht's los – Mr. Derby erwacht, will ausgehen – auf die Visite. Aber wo ist der Frack? Mr. Derby sucht, findet ihn aber nicht. Mr. Derby wird böse, denn er versteht mit seiner Person keinen Spaß, und schreit und tobt und lärmt und klingelt das ganze Haus zusammen. Zufällig kommen Mr. Elliotson und Mr. Lorenzen auch herbei, und nun geht's allgemeine Suchen los. Aber die alten Burschen merken was und lachen schon im Voraus. – Meine Herren! sagt Mr. Derby, das ist nicht zum Lachen – das ist nichtswürdig, meine Herren, das ist ein dummer Spaß, meine Herren, ich kann doch nicht in Hemdsärmeln auf die Visite gehen – und Sie lachen, meine Herren! – Genug, der Rock fehlt, und Mr. Derby ist in seiner Wut genötigt, den schwarzen anzuziehen! Haha! schwarzer Rock und Nankinghosen, haha! Aber Mr. Derby ist schlau, ahnt das Bubenstück, weiß nicht woher, und stürzt hinaus. Wir alle ihm nach, 's geht in den Park – hoho! meine Herren, was ist das für ein Spektakel auf der Kegelbahn? Und da haben wir's, da findet er sie gerade bei der Kata – Katastrophe. Ha! mein blauer Frack, ruft er wütend, der soll Komödie spielen? Meine Herren, Sie sind Zeuge von der Infamie und dem Attentat gegen meinen blauen Frack – gehen Sie sogleich, Sie Schöngeist, und tragen ihn an Ort und Stelle, Mr. Toms – fünf Eimer – Sie verstehen mich! und der Schöngeist ging und trug den blauen Frack zurück und nahm fünf Eimer kaltes Wasser mit dem Anstande eines Mär – Märtyrers – hahaha! Nun, kleiner Job, weiß du nun die Geschichte von Mr. Derbys blauen Frack?«
»Ja, Sir John, nun weiß ich sie, und ich werde sie nicht vergessen, haha!«
Und wir lachten Beide unmäßig über die Geschichte vom blauen Frack; auch war es unmöglich, es nicht zu tun, bei den unübertrefflich nachahmenden Gebärden des Erzählenden.
Als der alte Herr sich auf diese Weise erleichtert, sagte er ernsthaft:
»Das war gelacht – Lachen ist sehr gesund, das weiß ich am besten – doch nun zu den Geschäften!«
»Jawohl, Sir, ich bin Ihnen schuldig, die Gründe meines Benehmens auseinanderzusetzen, warum ich schrieb und Sie bat –«
»Halt! kleiner Job – geht mich die Geschichte was an? Hat sie Bezug auf mich? Weiß so ungeheuer viel alte Geschichten, hab' kein Verlangen nach neuen –«
»Nein, das nicht, Sir, sie hat keinen Bezug auf Sie.«
»Nun, dann brauche ich sie nicht zu wissen – jeder Mensch hat seine Gründe, warum er etwas Ungewöhnliches tut, Sie auch –«
»Es ist aber ein höchst wichtiges Geheimnis, Sir –«
»O, bin überzeugt – bin überzeugt! Wenn ich nötig werde und Ihnen dienen kann, bin ich bereit, solange hat es gute Wege – wird den kleinen Job nicht auffressen, haha! Aber ich habe auch etwas für Sie und das ist für uns Beide das Wichtigste. Sie kommen mir wie gerufen. – Sehen Sie«, und er zog einen Brief aus seinem Pulte und entfaltete ihn, »da habe ich gestern dieses Schreiben erhalten, von einem meiner alten Patienten, dem Marquis von Seymour–«
»Ha!« rief ich wider Willen und fuhr zurück.
Der Baronet sah mich mit einem seiner forschenden und aufmerksamen Blicke an.
»Nun – kennen Sie ihn? Wissen Sie schon, was ich will –?«
»Nein, Sir, nein! Ich hörte bis jetzt nur von ihm.«
»Bravo! Das paßt ja – treffe immer den rechten Mann auf dem rechten Flecke – und sind Sie soweit mit Ihrem Erstaunen gekommen, mich ruhig anhören zu können?«
»Ja, ja, Sir!« sagte ich und setzte mich zurecht, denn ich bemerkte an seinem fortwährend auf mich gerichteten Blick, daß ich eine große Unruhe verraten haben mußte.
»Nun, sehen Sie, da schreibt mir sein eigener Sohn – man sagt, es sei der Erbe – hm! ein Sir Mortimer, daß sein Vater nach London gekommen sei und vier Meilen von der Stadt einen Landsitz bezogen habe – nun? wissen sie schon was?«
»Ich vermute, Sir –«
»Nun ja, um sich von mir heilen zu lassen. Hahaha! Jeder will geheilt sein, als wenn das immer so eine leichte Sache wäre. Hier bin ich, Herr Doktor, und nun kommen Sie und machen Sie es kurz – hier ist auch mein Dank. Hahaha! Als wenn ich, alter Krüppel, alle Tage gleich da hinaus könnte, – und habe schon hier so viel zu tun, daß ich acht Füße und vier Köpfe haben möchte. Aber Sir Mortimer ist doch vernünftig; schreibt mir, sein Vater litte an einer Nervenüberspannung – jedes Geräusch erschrecke ihn – jedes fremde Gesicht beunruhige ihn – hm! Das muß nun gleich eine Nervenüberspannung sein – die armen Nerven! Jeder Mensch kennt seine Krankheit am besten und glaubt dem Arzte nicht mehr – schöne Wirtschaft! Aber ich sage, Sir Mortimer ist doch noch vernünftig, denn er meint ganz richtig, was ich auch meine, wenn ich nicht selber kommen könnte, möchte ich einen ernsthaften Mann aus meiner Schule schicken – als wenn ich ein Schulmeister wäre – aber doch sagt mir dieses Wort Schule genug«, und er machte hier ein charakteristisches Zeichen, indem er mit seinem rechten Zeigefinger seine Stirn berührte, »und ich möchte ihm gleich bedeuten, daß er einige Tage der Beobachtung wegen bei seinem Vater bliebe.«
»Und nun, Sir?« fragte ich, als er mich forschend ansah, ohne Zweifel, um meine Geneigtheit zu seinem Vorschlage aus mir herauszulesen.
»Nun, kleiner Job, da habe ich Sie als diesen ernsthaften Mann gewählt – Sie haben ja auch einen solchen Blick, eine solche Manier, mit solchen – solchen kranken Nerven umzuspringen – wie wäre es, wenn Sie meine Empfehlung mit auf den Weg nähmen und heute Morgen ein bißchen hinausführen – Sie werden gute Tafel finden –«
»Erlauben Sie, Sir«, sagte ich schnell, »ich muß Ihnen mein Geheimnis vertrauen –«
»Nein, kleiner Job, das mußt du nicht, ich will es noch nicht wissen. Du sollst einmal allein handeln, und wenn du mit deiner Weisheit zu Ende bist, werde ich mein Urteil schreiben, ob du ein Mann von Praxis bist oder nicht – he?«
»Gut, gut, Sir, ich werde handeln –«
»Ja, ja, Sir, das sollen Sie – nur noch einige Worte über den Mann – kenne ihn schon lange – stolzer Aristo – Aristo – krat – schlechter Ehemann – parteiischer Vater – aber – reich, künftiger Herzog – und die Welt sagt Amen! Aber ich nicht! Habe immer meinen Verdacht gehabt – hm!«
»Was für einen Verdacht, Sir?«
Sir John sah mich komisch lächelnd, aber überaus schlau an.
»Was für einen Verdacht? Ja, das sollen Sie mir sagen, wenn wir uns wieder sprechen – ist nicht ganz richtig in seiner Familie – hat schon was davon in der Zeitung gestanden –«
»Ah, ich weiß, ich weiß, Sir –«
»Du weißt, kleiner Job? Das ist ein Irrtum – vor vier Jahren warst du noch nicht hier –«
»Und dennoch weiß ich, Sir – so wahr ich lebe, ich weiß es!«
»Nun, dann ist's umso besser für dich – wollen uns weiter sprechen – wollen Sie ihn besuchen, Herr Doktor?«
»Ganz gewiß!« rief ich, »und auf der Stelle!«
»Haha! Das ist vortrefflich, wie gemacht! Gehen Sie«, fuhr er mit einem plötzlich sich entwickelnden und fast strengen Ernste fort, »gehen Sie und werfen Sie Ihr Senkblei – tief, immer tiefer mit sicherer Hand – Sie verstehen mich, – wenn Sie keinen Grund finden, bin ich auch noch da – ich erwarte in einigen Tagen von Ihnen zu hören – haben Sie schon gefrühstückt?«
»Ja, Sir, ja!«
»Aber bei mir nicht!«
Und der alte Mann schellte mit seiner silbernen Klingel, die immer vor ihm auf dem Tische stand, und befahl, für mich ein Frühstück aufzutragen, denn er selbst aß stets allein, Morgens Punkt sieben Uhr und Abends Punkt sieben Uhr, damit es ihm, wie er sagte, nicht zu viel Zeit wegnähme.
Ich hatte weder Lust zum Essen noch zum Trinken, am liebsten wäre ich gleich abgefahren, allein ich konnte es nun nicht mehr ablehnen und blieb. Während des Essens kam mir der Gedanke an Sir William Graham.
»Mein teurer Sir«, sagte ich, »kennen Sie einen Sir William Graham, einen ehemaligen berühmten Rechtsgelehrten oder Notar hier in London?«
»Ich habe ihn gekannt, kleiner Job – schmecken die Austern? He? Nun ja, ich habe ihn gekannt – was sehen Sie mich so an – vor zwei Monaten noch – war ein vortrefflicher Mann – mein Freund, auch mein Notar – aber jetzt – Schlagfluß wie ich, aber nicht so glücklich wie ich – noch einer und noch einer – konnte kein Mensch was machen – tot!«
»Was!« rief ich und stand sprachlos vor Erstaunen von meinem Stuhle auf.
»Ja, kleiner Job, wollen Sie es ändern? Ich kann's nicht! Wer kann dafür! Gott hat's so gewollt!«
Und der edle alte Mann sah mich mit einem so aufrichtig trauernden, aber ergebenen Blick an, daß ich mich ihm nähern und ihm die Hand drücken mußte.
»Hat er keine Kinder hinterlassen?« fragte ich.
»Nein, kleiner Job, keine Kinder, ein Bruder erbt Baronie und Alles.«
»Und wer ist dieser Bruder?«
»Ein ehemaliger Pfarrer, sagt man, ich habe ihn nie gesehen; als ich Sir William besuchte, war er verreist, aber soll ein braver Mann sein – das Vermögen kommt diesmal in gute Hände – freut mich sehr.«
»Wo hat Sir William Graham gewohnt?«
»Seitdem er seine Geschäfte aufgegeben hat – und das ist schon lange her – meiner und seiner Freunde Angelegenheiten führte er nur aus Gefälligkeit und alter Gewohnheit – hatte er einen Landsitz, sechs oder acht Meilen hinter Seymour-Castle, das Sie eben besuchen wollen – da können Sie von ihm hören, wenn Sie was Näheres wissen wollen – und nun, kleiner Job, bist du schon satt?«
»Vollständig, Sir!«
»Schön! dann wollen wir an die Arbeit gehen, ich nach Bethlehem und du – nach Jerusalem!«
Und der alte Mann lachte herzlich über seinen sonderbaren Einfall.
»Guten Morgen, Sir! Ich sehe Sie also nach einigen Tagen wieder und dann mein Geheimnis –«
»Es hat keine Eile – guten Morgen, kleiner Job – mein Wagen soll Sie in einer Stunde hinausbringen aufs Land – hören Sie – laufen Sie doch nicht so schnell, Sie werden sich den Hals brechen – in einer Stunde – Adieu!«
Ich lief die Treppe hinab, was ich laufen konnte, und kam beinahe atemlos in meiner Wohnung an.
War diese Sendung zu dem Marquis Zufall, war sie Schickung? Ich weiß es nicht. Ich hatte nur ein Gefühl – das Gefühl der inneren Befriedigung eines Teiles meiner lebhaftesten Wünsche, des Dankes gegen die Vorsehung, und des festen, unumstößlichen Vorsatzes, mit Ernst und Bedacht den Weg weiter zu verfolgen, den ich einmal betreten hatte.
Ich besprach rasch mit Bob das Nötigste, ordnete meinen Anzug, mein kleines Gepäck, und nach einer Stunde schon saß ich in Sir Johns Wagen und rollte geraden Weges Seymour-Castle, dem Landsitze des mächtigen und reichen Marquis von Seymour, zu.