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In des Marquis von Seymour Wagen rollte ich rasch nach London und fuhr sogleich bei Sir John vor.
Als ich bei ihm eintrat, fand ich ihn, wie ich ihn vor einigen Tagen gefunden, an seinem Arbeitstische sitzend; auch streckte er mir wieder, sobald er mich sah, seine Hand von Weitem entgegen.
»Ah, kleiner Job, schon wieder da? Das ist mir lieb. Hast du Grund gefunden?«
»Sehr guten Grund, Ankergrund, mein teurer Sir«, antwortete ich ihm, »und doch nur die Hälfte vom Faden abgerollt!«
»Ha! gut gesagt! Und was haben Sie auf dem Grunde gefunden – he?«
»Echte Perlen, Sir, von unschätzbarem Wert –«
»Haha! Teufelsjunge, der kleine Job. Noch besser gesagt! Und wo bleibt dein Geheimnis?«
»Das werde ich mit Ihrer Erlaubnis noch eine Weile für mich behalten, doch zu rechter Zeit sollen Sie es erfahren, verlassen Sie sich darauf – es wird ohnedies nicht ganz verschwiegen bleiben.«
»Schön! dann ist es aber kein Geheimnis mehr – haha! siehst du wohl, was ich dir sagte! Ich wollte es gleich nicht wissen, dachte mir, daß es so kommen würde! Von zehn Geheimnissen, die man seinen guten Freunden anvertraut, möchte man neune immer wieder zurücknehmen – alte Geschichte!«
»Nun«, fuhr er fort, nachdem er einmal aufgehustet, und drehte sich ganz zu mir herum, »Sie speisen doch bei mir?«
»Auf keinen Fall, Sir!« entgegnete ich und erhob mich von meinem Stuhle, auf den ich mich soeben erst niedergelassen hatte, denn ich erinnerte mich bei dieser Frage, daß mir die Minuten kostbar waren.
»Und warum nicht, kleiner Job? Schon wieder Geschäfte?«
»Gewiß, Sir, und die allerwichtigsten, die keine halbe Stunde Aufschub erlauben –«
»Aha! eine geheime Angelegenheit –!«
»Es ist noch immer dieselbe, Sir!«
»So! Und wo soll's jetzt hingehen?«
»Nach St. James zurück.«
»Nach St. James? Ei! Immer unter Verrückten – halte deinen Kopf fest, kleiner Job, fängst zu früh an – war schon über Vierzig hinaus, als ich Geschmack daran bekam – fatales Ding das für einen jungen Menschen – die Welt wird ihm zu früh zu ernst – Leiden kommen zeitig genug. – Na! aber doch nicht wieder zu Pferd?«
»Ganz gewiß, Sir, das ist einmal die Aufgabe, die ich lösen muß.«
»Danke dafür – habe nur einmal in meinem Leben geritten und habe noch heute genug davon – verlor gleich die Bügel – haha! puff! da lag ich! Die Menschen sind schon mir hartmäulig genug, und nun noch Pferde! – Apropos St. James! Wissen Sie, was mir Mr. Lorenzen, der Oberarzt, für eine Frage vorgelegt hat?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Närrischer Kauz! Erzählt mir da eine Geschichte von einem Manne, von dem er plötzlich nicht weiß, ob er verrückt ist oder nicht – kriegt mit einemmal einen Gewissensskrupel – und hat ihn schon vier Jahre unter seinen Händen.«
»Ah!« rief ich voll Erstaunen aus, »Mr. Sidney!«
»Richtig! Was! weißt du das auch, kleiner Job? – Und nun soll ich ihm in meiner Antwort meine Meinung schreiben, als wenn man das so leicht könnte, ohne den Mann gesehen zu haben – begreife den Doktor gar nicht – verrückt oder nicht ist eine Frage wie sein oder nicht sein! Das ist nicht so leicht abgemacht!«
»Schreiben Sie nicht, Sir«, sagte ich, »ich werde es mündlich ausrichten.«
»Gut gesagt, kleiner Job! sehr scharfsinnig bemerkt – muß es aber dann nicht doch immer eine Antwort sein? He?«
»Sie brauchen mir gar keine Antwort zu sagen – lassen Sie mich für Sie antworten.«
Sir John schaute mich mit einem seiner tief forschenden Blicke an.
»Wohl, Sir!« sagte er ernst, »das ist aber meine Sache!«
»Es soll auch die Ihrige bleiben, mein teurer Herr, ich werde keine Antwort geben, die Sie oder Ihren Ruf benachteilen könnte.«
»Ha! auch Geheimnisse mit mir? Das geht zu weit. Wer ist dieser Mr. Sidney?«
»Wissen Sie, Sir«, sagte ich, »dieser Mr. Sidney ist es, dessenwegen ich von St. James an Sie schrieb und Sie bat, mich hierherzurufen – dieser Mr. Sidney ist es, dessen Sache ich bei Lord Seymour geführt, ja, dieser Mr. Sidney ist es endlich, um den ich wieder nach St. James reise, und zwar zu Pferd reise.«
»Ah, ist es das? Gut, gut! Dahinter steckt also wirklich was?«
»Freilich! Und noch einmal, Sir, dieses Mr. Sidneys Geheimnis ist es, welches ich Ihnen mitteilen und Sie nicht wissen wollten, welches ich aber jetzt, nach reiflicher Überlegung, auf eine kleine Weile noch für mich behalten will, denn – Sie vergeben mir diesen kleinen Eigennutz – ich möchte gern den Ruhm, die Verwickelung seines Schicksals allein gelöst zu haben, für mich behalten.«
»Ja doch, ja – ich vergebe es Ihnen und bin es zufrieden – ereifern Sie sich nicht – haben Sie schon gefrühstückt?«
»Ja, bei Mylord Seymour.«
»Aber nicht bei mir!«
Und er klingelte und ich mußte wenigstens frühstücken, da ich nicht bei ihm essen wollte.
»Was den Oberarzt betrifft«, fing er noch einmal an, als ich mich zum Gehen anschickte, »werde ich nicht von Ihnen erfahren, welchen Bescheid Sie ihm von mir geben wollen?«
»Ja gewiß Sir, werden Sie das«, erwiderte ich lächelnd, »und Sie können es sogleich erfahren. Ich werde einen Ausspruch tun, der nicht von Ihnen kommt und doch von Ihnen zu kommen scheint, und Mr. Lorenzen soll zu der Einsicht gelangen, daß dieser Ihr Ausspruch der allein richtige gewesen ist, obgleich Sie diesen Ihren eigenen Ausspruch selber nicht wissen.«
»Haha! da haben wir's! Das geht über meinen Verstand, kleiner Job – das ist lustig, haha! Nun – ich bin dabei, immer zu! – Sind Sie auch satt?«
»Auf drei Tage, Sir! Und nun leben Sie wohl!«
»Adieu, Geheimniskrä – krämer, adieu, kleiner Job, viel Glück auf den Weg!«
Und er schüttelte mir treuherzig aus allen Kräften die Hand.
Jetzt begab ich mich schnell in meine Wohnung. Bob, der mich schon mit Sehnsucht erwartet hatte, war außer sich vor Freude, mich wiederzusehen. Meine erste Frage war:
»Was machen die Pferde, Bob?«
»O, ganz wohlauf, Sir! Bravour ist ganz übermütig und der Kleine auch. Geht's bald wieder fort?«
»Sogleich, Bob, mache dich fertig. Und wenn Alles bereit ist, laß es mich wissen.«
Bob ging und schickte mir den Kellner mit der Rechnung. Als meine Geschäfte abgemacht waren, überlegte ich, ob es nicht jetzt schon Zeit sei, irgendwem eine Nachricht von mir zukommen zu lassen. Ich beschloß, noch zu warten, denn ich wollte erst Sir William Grahams verkauftes Landgut besuchen und dort Erkundigungen über den Aufenthaltsort seines Bruders Sir Robert Graham einziehen, zumal ich fürchten mußte, Mortimer möge mir hierin zuvorkommen oder vielleicht gar einen Gewaltstreich ausführen, der alle meine Bemühungen vereitelte. Was ich daselbst aber erfahren würde, wollte ich schnell Percy und Phillipps mitteilen und Beide auf meine Rückkehr vorbereiten, letzteren aber sogleich selbst nach St. James bescheiden.
Als Bob die Pferde auf den Hof führte und ich aufstieg, wurde ich auf eine sonderbare Weise seelisch bewegt. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, empfand ich plötzlich ein Übermaß, ich möchte sagen einen Rausch von Freude, der auf einen Augenblick meine ganze Seele erfüllte und mich der Gegenwart mit Gewalt entriß. War dieser so plötzlich entstehende und ebenso schnell wieder verschwindende Freudenrausch ein Pulsschlag meines im Stillen arbeitenden Geistes über das, was ich kurz vorher erlebt hatte, oder war es eine aus der Tiefe meiner Seele aufquellende Ahnung von dem, was mir in der nächsten Zukunft begegnen sollte?
Ich nahm dieses sonderbare Begegnis als ein günstiges Omen auf, aber enträtseln konnte ich es nicht. Denn wer kann sich die sturmwindartigen Regungen, die uns so häufig befallen, überhaupt erklären, wer nicht in die innere, ewig lebendige Werkstatt unseres geistigen Seins, in die dunkle, geheimnisvolle Kammer geschaut hat, wo die Gedanken sich erzeugen, wo die Empfindung geschaffen wird und das göttliche Prinzip in uns seinen kurzen, aber während unseres Daseins und Wirkens allmächtigen Thron auferbaut hat?
Wir hatten London bald wieder hinter uns. Unmöglich wäre es wenn ich auch die Nachsicht des Lesers wieder auf eine harte Probe stellen wollte – ihm die ungeordnete, lange Reihe meiner Gedanken vorzuführen, die mich auf dem Wege befielen, welchen ich jetzt mit Bob eingeschlagen hatte. Ich selbst war ihrer kaum Herr, sie rissen mich mit sich fort, sie spielten mit mir, und ich ließ es eine Weile ruhig, beinahe demütig geschehen.
Und dergleichen begegnet uns wohl zuweilen, besonders wenn sich, wie mir soeben geschehen war, ein Unternehmen nicht unserem Willen gefügt hat, sondern wir das Gelingen desselben dem Geschicke oder einer höheren, einsichtsvolleren Macht verdanken.
Daß diese in die Fugen meines Handelns mit eingegriffen hatte, wagte ich wenigstens damals nicht zu bezweifeln; und auch jetzt noch, nach Jahren, wo ich außerhalb des Rausches der augenblicklichen Einwirkung bin, bezweifle ich es nicht.
War denn nicht alles Bisherige anders gekommen, als ich es zu leiten beschlossen hatte? War ich eigentlich, wie ich wünschte, handelnd aufgetreten? Nein, gewiß nicht, vielmehr hatte ich mich duldend verhalten. Ich fand Alles schon fertig, vorbereitet, im Begriff auszubrechen; jeder Andere würde an meiner Stelle dasselbe getan oder vielmehr nicht anders haben tun können, da mir mein Benehmen im eigentlichen Sinne des Wortes in die Hände gespielt worden war. Wie ich es fand, so mußte ich es aufnehmen, ich mochte es wollen oder nicht.
Freilich wußte ich schon lange aus Erfahrung, daß Alles, was mit, um und durch uns geschieht, nie so geschieht, wie wir es uns vorgesetzt oder gedacht haben, und daß wir, wenn wir das vorgestreckte Ziel auch endlich erreichen, stets auf einem anderen Wege dahin gelangt sind, als wir beabsichtigt hatten.
So war es mir auch jetzt ergangen. Eins wenigstens hatte ich erreicht – Percy war zu dem Seinigen gelangt, sein Vater hatte ihn endlich anerkannt.
Freilich war noch Vieles zu tun, zu erreichen, zu überwinden. Noch waren die Wellen auf dem Meere seines Lebens nach dem großen Sturme, der ihn erfaßt, nicht beruhigt, sie schlugen sogar noch turmhoch über ihm zusammen. Aber der Orkan selbst schien sich wenigstens gelegt zu haben. Noch war eine große Gewitterwolke an dem Horizonte seines beweglichen Daseins sichtbar – Mortimer stand wie ein düster drohendes Gespenst zwischen ihm und dem Frieden seiner Seele, das erkannte ich wohl! Aber ich verließ mich bei der Beschwörung dieses furchtbaren Gespenstes auf die allmächtige Hand dessen, der dem Orkan Stillstand geboten hatte, und hoffte von ihm, daß er auch die Wellen besänftigen und die schwarzen Gewitterwolken zerteilen würde. Daher war denn auch mein Gemüt nicht mehr so stürmisch bewegt, eine sanftere Strömung hielt es in ruhigerem Atem, und ich sah mit Ergebung und Vertrauen durch die Fenster der Erwartung in das stille Haus des Friedens und des Glückes hinein.
Ach! ich wäre vielleicht ganz beruhigt gewesen, wenn ich eine nähere Auskunft über Ellinor und ihren Vater erhalten hätte. All mein Forschen nach ihr war bisher vergeblich gewesen, alle Nachrichten, die ich über sie eingezogen, unzureichend, eine die andere widerlegend.
Wo war sie? – Und Phillipps, er schwieg immer noch – war er glücklicher gewesen als ich? Noch hatte ich gar nichts von ihm vernommen; die Orte, an welchen ich eine Nachricht von ihm hätte erhalten können, hatte ich schon längst erreicht, sie lagen schon wieder hinter mir – nirgends eine Mitteilung seiner gewiß unermüdlichen Bestrebungen.
Und nun gar Sir William Graham gestorben! Er, der Einzige, auf den ich alle meine Hoffnungen gebaut hatte, auf den ich mich zuverlässig bei meinen Irrfahrten hätte stützen können, er, der allein Percys Geschick in seiner Hand zu halten schien! Arme Ellinor! Noch kein Schatten deines lieblichen Wesens, allein die wesenlose Erinnerung vergangener ruheloser Zeiten tauchte vor meiner Seele auf; dein Bild lebte in mir, und mit dem glühenden Verlangen, dich zu finden, spürte ich mit allem Eifer eines ungestüm Suchenden deinen Spuren nach, und du flohest immer weiter von mir. War denn keine Sympathie zwischen deinem und Percys Geschick vorhanden, die dich mir entgegen führte? – Nein, es schien keine vorhanden zu sein, und das war Grund genug, mich nachdenklich zu stimmen und mich vor dem allgewaltigen Willen einer höheren Macht gedemütigt zu fühlen; das war Grund genug, mit mir selbst unzufrieden zu sein und über meine eigene Zugänglichkeit in Zweifel zu geraten. Wäre ich umsichtiger, schneller, entschlossener gewesen, wäre ich nicht gerade ich gewesen, so hätte ich vielleicht längst ihre Spuren entdecken und mit größerem Erfolge und freudigerem Bewußtsein zu Percy zurückkehren können!
Doch dieses hypochondrische Klagen – ich nenne es selbst so – half nichts. Ergeben mußte ich mich in das Unabänderliche, und ich ergab mich und hoffte! Ich hoffte immer noch, obgleich jede neu verfließende Stunde mit schwächerem Vertrauen, jeden verzögernden Augenblick mit verzweifelterer Hingebung.
Aus dieser unbestimmten Ergebung in mein unabänderliches Geschick zog mich abermals mein junger Begleiter, indem er die Frage an mich richtete, was unser nächstes Ziel sei.
»Ich kann es dir nicht mit Bestimmtheit sagen, Bob«, erwiderte ich, »wir sind zwar auf dem Wege nach St. James, und ich hege die Absicht, mich mit deinem Vater zu vereinigen, aber vorher will ich erst noch einen kleinen Umweg nach der früheren Besitzung des verstorbenen Sir William Graham, des Bruders des Pfarrers Graham, machen und dort nach diesem und seiner Tochter forschen.«
»Mir schon recht!« sagte der Knabe, »ich gehe überallhin gern, und je weiter, umso besser – haben Sie den schwarzen Mann von mir gegrüßt?«
»Ja, Bob!« sagte ich lächelnd, »das habe ich, auf meine Art; ich habe ihn aber so ganz schwarz nicht gefunden, wie du ihn mir geschildert hast; Sir Mortimer ist viel schwärzer.«
Bob sah mich trübe lächelnd an und entgegnete:
»Das habe ich mir auch gedacht, ein alter Mann ist nie so böse wie ein junger – er muß ja doch ans Sterben denken!«
In dieser naiven Bemerkung des Knaben, die er so kindlich rührend und einfach aussprach, lag so viel Wahres und Richtiges und auf die vorliegenden Verhältnisse Passendes, daß ich mich unwillkürlich tiefer in den Sinn seiner Worte, deren Bezug er selbst nicht kannte, versenkte. –
Es ging schon stark gegen Mittag, als wir in der Nähe des Landsitzes Mylord Seymours vorüberkamen. Ich konnte das Schloß linker Hand liegen sehen, in welchem ich eben mein letztes Abenteuer überstanden hatte, und das Glück, womit ich es zu Ende geführt sah, gab mir wieder neuen Mut, frischere Tatkraft und gläubigeres Vertrauen für die Zukunft ein.
»Laß uns zureiten, Bob!« sagte ich. »Wir haben, wie ich genau erfahren habe, von hier noch zwanzig Meilen bis Grahamhouse, und dort erst denke ich zu übernachten.«
Wir ritten, ohne viel zu sprechen, einige Stunden weiter, dann fütterten und tränkten wir die Pferde, und der Abend begann bereits mit seinem falben Scheine heraufzudämmern, als ich in die Gegend kam, die mir früher so hoffnungsstrahlend, jetzt aber so hoffnungslos erschien.
Der Charakter derselben war friedlich und erquickend. Fruchtbare Felder, schon hier und da mit Stoppeln bedeckt, schattige Wälder, ewig grüner Rasen, wie so häufig und schön in England, dehnten sich weit und breit um uns aus. Endlich sahen wir durch eine Lichtung des Waldes, durch den wir eben ritten, das sehnlichst erwünschte Grahamhouse vor uns liegen.
Als wir näher kamen, bemerkten wir sogleich, daß ein Wechsel des Besitzers stattgefunden hatte. Das Herrenhaus war zwar ein stattliches, aber doch nur ein Stock hohes Gebäude. Gegenwärtig war von der es zunächst umgebenden Vegetation wenig oder gar nichts übrig, denn Maurer und Zimmerleute hatten mit ihren Materialien und Gerätschaften die ganze Umgebung in Beschlag genommen. Das Dach war abgedeckt, denn der neue Besitzer ließ ein Stockwerk aufsetzen und zwei neue Seitenflügel anbauen. Im Umkreise waren hölzerne Hütten aufgeschlagen, in denen die aus der Ferne angenommenen Arbeiter ein Unterkommen gefunden hatten. Jetzt, am vorgeschrittenen Abend, wo die Vesperstunde längst geschlagen hatte und die Arbeit bis zum nächsten Tage ruhte, war Alles ungewöhnlich still; man hörte weder die Axt noch einen Hammer schallen, und nur hier und da sah man einen müden Arbeiter mit seinen Kindern und seinem Weibe vor einer der Hütten liegen und sein Abendbrot verzehren.
Um das Haus herumreitend, leuchtete mir bald ein, daß in dem zerstörten Innern desselben kein Mensch wohnen könne, und ich sah mich daher genötigt, mich an einen der Arbeiter zu wenden, um die Auskunft zu erlangen, auf die ich so begierig war.
Eben, als ich mich einer der Hütten nähern wollte, kam ein Mann, einen Stock in der Hand, seine Abendpfeife rauchend, auf mich zu und fragte, was mir gefällig sei.
»Guten Abend, mein Freund! Ist kein Architekt in der Nähe oder ein Aufseher dieses Baues, mit dem ich ein paar Worte reden könnte?«
»Nein, Sir, ein Architekt ist nicht gegenwärtig, denn er kommt nur alle zwei oder drei Tage hierher; ich selbst bin aber seit heute Mittag der Aufseher des Hauses.«
»Das freut mich – wem gehört dies Haus?«
»Vormals Sir William Graham, jetzt Sir Charles Osbeck!«
»Wie lange ist Sir William tot?«
»Etwas über zwei Monate, Sir!«
»Hat er allein dies große Haus bewohnt?«
»Nein, Sir, nein! Seine Familie war bei ihm, ein jüngerer Bruder, sein Erbe, glaube ich, und dessen Tochter, wenn ich recht gehört habe.«
»Warum haben die Erben das Haus verkauft?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und wie lange sind sie fort?«
»Nun, seit wenigstens acht Wochen, denke ich.«
»Seit acht Wochen!«
Vor acht Wochen war Ellinor mit ihrem Vater in Dunsdale gewesen – es wurde mir immer deutlicher, daß sie diese Reise unternommen, um Percy den abermaligen Wechsel ihres Aufenthaltes anzuzeigen.
»Ach der Brief! Der unselige Brief!« dachte ich, und fühlte mich so betrübt, daß ich den Mann, der mich teilnehmend ansah, und Alles, was mich umgab, vergaß.
»Und ist Niemand hier, der mir sagen könnte, wohin Sir Robert Graham mit seiner Tochter gegangen?«
»Bedaure, Sir, es ist Niemand hier – heute Mittag erst ist der frühere Aufseher, ein alter Diener des Hauses, mit der Post nach London gefahren.«
»Mit der Post nach London?« wiederholte ich rasch. »Und er hat nichts hinterlassen?«
»Nichts, gar nichts. Aber in acht Tagen, so denk' ich, kommt er zurück und nimmt seine Stelle wieder ein.«
»In acht Tagen – das ist wenigstens etwas – oder wißt Ihr vielleicht, zu wem er nach London gegangen?«
»Gewiß, Sir, weiß ich das nicht – London ist groß.«
»Wohl, wohl, leider! Ist hier in der Nähe vielleicht irgendein Ort, wo ich während der Nacht mit meinen Pferden bleiben könnte?«
»Ja, Sir, anderthalb Stunden weiter ist ein Wirtshaus, klein, aber ziemlich gut, noch auf dem Grund und Boden Sir William Grahams – Sir Charles Osbecks, wollt ich sagen, und das da ist der Weg –«
»Ich danke, mein Freund, gute Nacht denn!«
»Gute Nacht, Sir! Machen Sie, daß sie hinkommen, Ihre Pferde scheinen müde, besonders der Kleine da ist ganz mit Schweiß bedeckt. Gute Nacht!«
Ich ritt schon davon, nachdem ich Bob zu mir gerufen hatte, der, noch eine Weile zögernd, sich nach dem Manne umsah.
»Was siehst du dich so lange um, Bob?« fragte ich. »Komm, es wird spät und dunkel!«
»Ich weiß nicht, Sir, aber der Mann mustert Sie so genau – ha! er winkt! Soll ich zurückreiten?«
Ich wandte mich um, der Mann winkte wirklich mit seinem Stocke und rief jetzt auch.
»Entschuldigen Sie, Sir!« sagte er, als er nähergekommen war, und nahm den Hut ab. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie noch länger aufhalte, aber ich möchte mir noch eine Frage erlauben.«
»Nun, nur zu.«
»Sind Sie vielleicht in der Grafschaft Dunsdale bekannt?« Ich sah ihn betroffen an und zog mein Pferd zurück, das vorwärts wollte.
»Wie kommt Ihr darauf, Freund? – Ich bin sehr wohl dort bekannt!«
»Nun, dann freut es mich, dann wird es richtig sein – ich habe Sie eben erst nach der oberflächlichen Beschreibung eines Mannes an Ihren Pferden erkannt.«
»Ha! Welches Mannes?«
»Ja, Sir, heute Mittag war ein Mann in Livree hier. Schwarz, mit Silber, und zu Pferd, aus Dunsdale-Castle, wie er sagte, mit einem Briefe an einen fremden Herrn, der in Dunsdale-Castle gewesen und hier bei Sir William Graham zu treffen sein sollte. Er hatte die Adresse in London erfahren.«
Er war noch nicht zu Ende, als ich schon vom Pferde sprang und mich näher an ihn heran begab.
»Um Gotteswillen! sagen Sie mir, wo ist der Mann oder sein Brief?«
»Ja, Sir! Fort ist er. Er kam gerade, als Mr. Cocksburn, der Aufseher, in die Postkutsche stieg, und da hörte ich von ungefähr mit ihm reden.«
»Und wißt Ihr gar nichts mehr von ihm? Wohin er ging? Oder was ihm der Aufseher sagte?«
»Er bedauerte sehr, Sir, daß er keine Zeit mehr habe, ihm länger zuzuhören, und gab ihm schnell den Bescheid, daß Sir Robert Graham den Besitz verkauft habe und weggezogen sei.«
»Ich glaube, das sagte er ihm nicht, denn es sind so viele Anfragen hier nach Sir Robert geschehen, und es war ihm, denke ich, verboten, einem Jeden zu sagen, wo er jetzt wohne.«
Es wurde immer lichtvoller in mir. Ich dachte sogleich an Mortimers Spione und konnte mir nun auch denken, warum Graham dies Besitztum verkauft habe, welches, so nahe an den Ländereien des Marquis von Seymour gelegen war.
»Aber es ist doch möglich«, sagte ich, »daß dieser Mann aus Dunsdale-Castle es erfahren hat – wo ritt er hin?«
»Dorthin, Sir, nach dem Wirtshause, das ich Ihnen genannt, er wollte daselbst sein Pferd füttern; aber er jagte tüchtig zu, es war ein braver Klepper, den er ritt, und Sie können ihn nicht mehr einholen – diese Straße jedoch ist es.«
»Dann noch einmal gute Nacht und schönen Dank, mein Freund, es ist Zeit, daß ich ihm nachkomme!«
Und auf mein Pferd mich werfend und Bob antreibend, trabte ich rasch auf dem mir bezeichneten Wege weiter.
»Die Pferde, ach! die Pferde!« seufzte Bob.
»Laß die Pferde Pferde sein! Jetzt gilt's, und wenn deins fällt, kauf' ich dir ein anderes– Bravour hält es schon aus.«
Das war eine Hoffnung, eine schwache Hoffnung zwar, aber doch hinreichend, mein Blut in frische Wallung zu setzen und alle meine Geistestätigkeit wieder in eine neue Richtung zu treiben. Wie leicht war ich wieder, wie froh, wie heiter! Alle Schwere, aller Druck auf mein Gemüt war verschwunden, es war mir, als wäre ich erst gestern ausgezogen und als sollte ich schon heute mein Ziel erreichen.
Einholen konnte ich heute den Boten zwar nicht mehr, denn er war mir zu weit voraus, aber ich konnte jedenfalls seiner Spur nachgehen und, wenn ich immer nur an dem Ort übernachtete, wo er ein Unterkommen gefunden hatte, so mußte ich ihn doch endlich finden. Weiter dachte ich fürs erste nicht.
Allmählich indessen wurde es immer dunkler, unsere Pferde trabten munter, obgleich das Pony etwas zurückblieb und mit dichtem Schweiß bedeckt war.
»Nun, Sir«, sagte Bob plötzlich, »ich weiß eigentlich nicht, warum wir es so eilig haben. Tag wird es doch heute nicht wieder, und wenn wir nicht weiter wollen als bis zu jenem Wirtshause, so werden wir das auch im Schritt erreichen; mein kleiner Wallach hat kein trockenes Haar mehr und tritt schon ganz unsicher auf.«
Sogleich hielt ich die Zügel an und sagte:
»Du bist vernünftiger als ich, Bob. Aber nimm mir's nicht übel, wenn ich einen Schimmer von einem Lichte vor mir sehe, so finde ich nicht eher Ruhe, als bis ich das Licht selber habe.«
»Wo ist denn ein Schimmer von einem Lichte? Ich sehe ja keinen.«
»Ich rede bildlich, Bob; ich meine die Hoffnung, mittels des Briefes, den mir jener Bote bringt, Sir Robert Graham zu finden oder wenigstens seine Wohnung zu erfahren.«
»Sie haben also jetzt mehr Aussicht, Ihren Wunsch erfüllt zu sehen?«
»Mehr als je, und darum eilte ich so. Nur ein wenig Glück, Bob, und wir sind am Ziele.«
»Haha!« lachte der Knabe. »Wie mein Vater sagt: Ein Quentchen Glück ist mehr wert als ein Lot Verstand.«
»Nicht immer, mein Junge! Es werden noch Gelegenheiten kommen, dir zu beweisen, daß der Verstand durch nichts ersetzt werden kann – doch da, glaube ich, ist das Wirtshaus!«
Und so war es auch. Dicht vor uns, gerade wo sich die gebahnte Landstraße mit unserem Waldwege kreuzte, stand es halb hinter einer Schlehdornhecke verborgen.
Beim Absteigen empfahl ich Bob, für doppelte Rationen und die weichste Streu Sorge zu tragen, denn man konnte nicht wissen, was unseren braven Pferden am morgigen Tage zugemutet werden würde.
Auf meine erste Anfrage erfuhr ich vom Wirte, daß der von mir verfolgte Mann wirklich hier gewesen, aber schon seit mehreren Stunden wieder fortgeritten sei. Glücklicherweise hatte er als sein Nachtquartier einen acht Meilen entfernten Ort und als nächstes Tagesziel ein Dorf E....., achtundzwanzig Meilen davon entfernt, angegeben.
Diese genaue Angabe war mir von großer Wichtigkeit. Natürlich war sein Weg auch mein Weg, jedoch war ich mit mir noch nicht einig, ob ich am nächsten Morgen ganz früh, vor Tagesanbruch, fort reiten und ihn noch in seinem Nachtquartier, oder ob ich lieber die Pferde ein paar Stunden länger ruhen lassen und dann, einen weiteren Weg als er zurücklegend, ihn Abends in dem Dorfe E..... treffen solle. Letzteres zog ich nach einiger Überlegung vor – einmal, weil ich meine Pferde schonen mußte, und dann, weil ich nicht bestimmt wußte, ob der Mann nicht, ebenfalls vor Tagesanbruch seine Reise beginnend, trotz meiner Eile mir vorauskommen würde.
Hätte ich übrigens in dem Wirtshause einen Wagen oder nur ein frisches Pferd vorgefunden, so hätte ich mich sogleich in der Nacht auf den Weg begeben, um ihn noch einzuholen, obgleich ich die Straße nicht kannte und durch einen leicht möglichen Irrtum von der geraden Richtung ganz abweichen konnte. Da dies nun aber nicht der Fall war, so mußte ich bleiben, den nächsten Morgen ruhig erwarten und auf meinem einmal gefaßten Entschlüsse geduldig beharren.
Und dieser Entschluß wurde auch als der beste durch den Erfolg gerechtfertigt. Denn als wir am nächsten Morgen nach dem Orte kamen, wo der Diener des Viscount von Dunsdale die Nacht zugebracht, hörten wir, daß derselbe schon sehr früh aufgebrochen sei, ich ihn also auf keinerlei Weise hierselbst getroffen haben würde.
An diesem Tage führte uns unsere Reise durch einen der schönsten oder wenigstens durch die Kunst veredeltsten Teile von England. Sanfte Abhänge, herrliches Grün am Boden und auf den uralten Bäumen waren überall zu sehen, wohin man das Auge richtete. Wie zu einer fortlaufenden anmutigen Kette aneinandergereiht zeigten sich die malerischen Landsitze des reichsten Adels des Landes; Wildpark folgte auf Wildpark, einer immer schöner eingezäunt als der andere, Gartenanlagen nach dem neuesten Geschmack, mit ungeheurem Luxus unternommene Wasserleitungen und Springbrunnen, Gefieder aller Art, in durchsichtigen Luftgittern eingehegt – alles dies wechselte in unaufhörlich bunter Reihenfolge miteinander ab.
Bob war vor freudiger Bewunderung außer sich; so schön hatte er sich die weite Welt nicht geträumt, und mehr als einmal bedurfte es von meiner Seite des antreibenden Wortes, um ihn von den Stellen fortzubringen, die er für die schönsten hielt und mit dem Ausruf: »Ach, wie schön!« und: »Ach wie herrlich!« tausendmal begrüßte.
»Du kannst dies alles künftig mit mehr Muße bewundern, mein lieber Bob!« sagte ich. »Nur heute laß uns vorwärtseilen, denn jede Minute längeren Aufenthaltes scheint mir ein Vergehen zu sein.«
Und so war es mir auch. Je weiter ich kam, je länger meine Reise dauerte, umso ungeduldiger, eilfertiger und nach dem Erfolg hitziger verlangend wurde ich, und wenn ich nicht Bob mit seinem schwächeren Klepper bei mir gehabt hätte, ich würde eine doppelte Tagesreise versucht haben, denn Bravour kannte keine Müdigkeit; wie sein glänzendes Haar durch keinen Schweißtropfen entstellt wurde, war er immer munter und feurig und sein Schritt Abends so leicht und sicher wie Morgens gleich nach unserem Aufbruch.
Endlich kamen wir in dem erwähnten Dorfe E..... an. In dem einzigen Wirtshause desselben erfuhren wir, daß der einige Stunden früher als wir angelangte Reiter nicht allein hier gegessen und getrunken hatte, sondern daß er sogleich und hastig auf einem frischen Pferde davongeritten sei.
Das war nun freilich gegen meine Erwartung und umso schlimmer, da Niemand die Richtung wußte, welche er eingeschlagen hatte. Sein von der eilfertigen Reise hart mitgenommenes Pferd hatte er zurückgelassen und ein anderes vom Wirte geborgt.
Ich begab mich sogleich in den Stall und erkannte in dem braunen großen Vollbluthengst eines der schönsten und stärksten Pferde des Viscount von Dunsdale, welches ich schon in dessen Schlosse bewundert hatte. Das edle Tier hatte sich nicht überlaufen, sondern war durch einen kleinen, zwischen Eisen und Huf gedrungenen Stein lahm geworden. Der Mann, den es hierhergetragen, hatte hinterlassen, er werde in einigen Tagen zurückkehren und sein Pferd mit dem erborgten wieder auslösen. Sein Ziel konnte also nicht mehr weit entfernt sein, und das beruhigte mich einigermaßen.
Nachdem wir uns den Weg, den unser hurtiger Vorgänger wahrscheinlich eingeschlagen, so gut wie möglich hatten beschreiben lassen, begaben wir uns am frühen Morgen wieder auf die Reise. Der Weg war mehr als gewöhnlich sandig und für die Pferde sehr ermüdend, es ging daher langsam vorwärts. Doch konnten wir die Spuren des Reiters im Sande verfolgen, und das war denn auch ein wichtiger Vorteil. Plötzlich aber hörte der Sand auf und wir kamen auf einen Anger, wo an die Auffindung einer Pferdespur nicht mehr zu denken war. Dennoch ritten wir getrost weiter.
Es mochte etwa die elfte Stunde des Morgens sein, als wir plötzlich den geraden vor uns liegenden Weg sich in einen rechten und linken teilen sahen so daß wir, unschlüssig, welchen von beiden wir wählen sollten, eine Weile überlegend anhielten.
»Das ist das Schlimmste, was uns begegnen konnte, Bob«, sagte ich, »und ich habe es schon längst im Stillen gefürchtet. Nun ist guter Rat teuer, denn während wir rechts reiten, geht unser Bote mit dem Briefe links, und einen Tag erst auseinander, treffen wir uns niemals wieder.«
Wir sahen uns Beide aufmerksam nach allen Seiten um; die weiten Stoppelfelder, von Wohnstätten entblößt, ließen uns keinen Menschen gewahren, der uns irgendeine erwünschte Auskunft hätte geben können.
Endlich kam Bob auf den naiven Einfall, unseren Pferden die Wahl zu lassen und in ihren Willen, wie in den Ausspruch eines Orakels, uns zu fügen.
»Sie wollten mir zeigen, daß der Verstand mehr wert sei als das Glück!« sagte er. »Gut, Sir – ich aber halte es mit dem Glück, und hier gleich wollen wir es versuchen.«
Wir ritten zurück, ließen den Pferden die Zügel und sprengten rüstig auf den Scheidepunkt los; Bob ritt links, ich rechts.
Nun ereignete sich aber der eigentümliche und am wenigsten von uns erwartete Fall, daß Bobs kleiner Wallach den Weg zur Linken, Bravour aber den zur Rechten einschlug, so daß wir sogleich voneinander getrennt wurden und, durch eine grüne Hecke, die zwischen beiden Wegen eine Strecke hinlief, geschieden, uns bald aus dem Gesichte verloren. Schnell griffen wir nach den Zügeln, hielten die Pferde an und kehrten laut lachend an den Scheidepunkt zurück.
»Welches ist nun das Verstandes- und welches das Glückspferd?« rief Bob, »das, Sir, soll uns schwer werden zu entscheiden.«
»Wir wollen nicht in unser Geschick hineinrasen und uns noch weniger trennen, Bob, sondern mit ruhigem Verstande das Glück zu gewinnen suchen. So nur allein machen wir uns Beides zu Nutzen. Laß uns daher noch einmal umkehren und im Schritt dasselbe Wagestück versuchen, der Erfolg soll dann entscheidend sein.«
Wir ritten zurück und ließen die Pferde im Schritt ohne Zügel gehen. Jetzt aber blieben sie dicht beieinander und schlugen den Weg rechter Hand ein, den Bravour mit mir vorher schon gewählt hatte. Bob wollte noch einmal anfangen zu streiten, indessen schnitt ich seine Rede mit dem einfachen Ausspruche ab:
»Bravour hat zweimal denselben Weg eingeschlagen, und Puck, der Wallach, ist ihm einmal gefolgt – es ist so bestimmt, Bob! Reiten wir diesen Weg!«
Und wir ritten langsam den Weg zur Rechten weiter.
Doch es wurde Mittag und wir konnten keine von den Spuren, die wir suchten, entdecken; wir begegneten zwar einigen Landleuten, aber keiner von ihnen hatte den Reiter, dessen Kleidung sogleich ins Auge fallen mußte, bemerkt.
Wahrend der größten Mittagshitze ruhten und labten wir uns und unsere Pferde in einem kleinen Pächterhause, dessen Bewohner uns versicherten, daß kein Reiter seit vierundzwanzig Stunden an ihrer Tür vorübergekommen sei.
Das war nun freilich kein freundlicher Trost, und ich fing allmählich an, über die richtige Wahl unseres Weges einige Unruhe zu empfinden.
Als wir wieder aufgestiegen waren und unseren Weg fortsetzten, blickte mich mein junger Begleiter zwei- oder dreimal schalkhaft lächelnd von der Seite an, als wollte er mir dadurch zu verstehen geben, wir seien auf unrechter Fährte und der von ihm vorgeschlagene Weg der richtige gewesen, jedoch sprach er nicht darüber, da er bemerkte, daß ich beharrlich auf meinem Willen bestand und ununterbrochen den einmal betretenen Weg fortsetzte.
Und in der Tat, es war etwas in mir, was ich nicht Eigensinn oder Laune nennen kann, was mich aber widerstandslos vorwärtszog, eine unbekannte treibende, innerliche Kraft, die mich an keinen Zweifel mehr denken und getrost fortziehen hieß.
Schweigend ritten wir nebeneinander her; meine Blicke waren es allein, die, dem Zuge meines Herzens folgend, mit einer gewissen Unruhe rings über die Felder schweiften, jeden Weg, jeden Pfad musterten und auf jedem verdächtigen Gegenstande mit einer verstärkten Aufmerksamkeit haften blieben.
Es wurde Nachmittag – dieser ging auch vorüber, und es neigte sich zum Abend – aber ach! was für ein Abend! Ein sanfter, kaum fühlbarer Wind hatte die ermattende Hitze des Tages auf seinen kühlenden Schwingen längst mit sich hinweggetragen; jetzt aber war die Luft wieder ruhig, man merkte ihren leisen Atem kaum, und dabei so rein, so milde und mit so süßen Düften geschwängert, daß ich tausend Atemzüge in einer Minute hätte tun mögen, um nur ganz die frische lebendige Würze derselben einzusaugen.
Aber auch diese liebliche kurze Frist, die der Dämmerung vorherzugehen pflegt, ging vorüber, der Abend in seinem vollen feierlichen Glänze senkte sich mit ernstem, bedächtigem Fittich auf die reizende Gegend herab, und mit ihm sein steter und freundlichster Begleiter, die heilige, friedliche Stille, die des Menschen Herz und Seele läutert und der Vorbote der noch stilleren, aber unfreundlicheren Nacht ist.
Zwar war es noch dämmernd hell, noch klar ringsum, doch fingen die ferner liegenden Gegenstände schon an, allmählich ineinander zu verschwimmen, denn ein feiner, zarter, ich möchte sagen, mehr durch den Geruch als durch das Gesicht wahrnehmbarer Duft lagerte sich gruppenweise, wie eine halb durchsichtige Wolke, über die weiten Felder und deckte Höhe und Tal in sein luftig schimmerndes Gewand. Dabei war es so wonniglich lau, so erquickend, so bezaubernd freundlich in dieser balsamischen Abendluft, daß ich von Zeit zu Zeit mit meinem schnuppernden Pferde anhielt und in tiefes Anschauen der um mich liegenden weiten Strecken versunken blieb.
Ich hätte nicht geglaubt, daß in der windstillen Atmosphäre etwas so materiell Berauschendes liegen könne, wenn ich es jetzt nicht selbst empfunden, denn ich hatte bis jetzt nie, auch in wärmeren Himmelstrichen nicht, einen so vollkommen schönen Abend erlebt. Ich bewegte mich wie in einem neuen, feineren und gereinigteren Elemente, in einer Ätherluft abgeschiedener Geister, liebender Seelen und in göttlicher Seligkeit berauschter Herzen.
Aber vielleicht war auch mein Inneres in diesem Augenblicke vorbereitet, so wonnigliche Empfindungen in sich aufzunehmen. Ich war auf dem Wege nach einem holden Wesen begriffen, das ich bisher nicht finden konnte und welches mir darum nicht weniger teuer war, weil ich es noch nie gesehen hatte. Ach! gerade, weil es ein unbestimmtes Suchen nach einem unbekannten Gegenstande war, stimmte es mich umso wehmütiger, regte es mich umso leidenschaftlicher auf und verdoppelte den Wunsch in mir, es endlich zu finden. Und darum auch war meine Phantasie und mein Geist mit tausend lieblichen Bildern und Erscheinungen erfüllt.
Wir ritten langsam einen Hügel hinan, einen sanft ansteigenden, mit Rasen besetzten Hügel und – siehe: vor uns lag eine so überaus liebliche und einladende Gegend, daß wir Beide, wie durch einen gemeinschaftlichen inneren Impuls getrieben, stillhielten und uns ganz der Wirkung dieses wunderbar schönen Anblicks überließen.
Der Himmel rings um uns her war so klar und rein wie ein durchsichtiges Meer und nur am entferntesten Horizonte mit einem blaßroten Halbkreise umzogen; dort war die Sonne in das atlantische Meer versunken.
Vor diesem blaßroten Horizonte, viel näher zu uns heran, zog sich ein silberner Gürtel durch grüne Wiesen, hier hinter einem Hügel, dort hinter einem Gebüsche, gleichsam spielend, sich verbergend, bis er in unserer nächsten Nähe, wie er gekommen war, sanft und in schwachen Windungen sich wieder verlor, als ob er sich aus diesen gesegneten Fluren, wie der Geliebte bei sinkender Nacht von seiner Geliebten sich ungern trennt, nicht ohne große Selbstüberwindung losreißen und entfernen könne.
Der ganze Vordergrund war ein grüner, hier und da mit Baumgruppen besetzter weiter Raum, auf welchem rechts und links in gleich weiten Zwischenräumen riesenmäßige Heuhaufen aufgeschichtet standen, wie Wächter in dem stillen Tale, dessen Fruchtbarkeit sie ihr Dasein verdankten und dessen Gefilde sie mit ihren Wohlgerüchen durchdufteten.
Zwischen ihnen hindurch bewegte sich langsam, und nur dann und wann den summenden Laut ihrer Schellen bis zu uns herübersendend, eine lange, wogende Herde brauner Rinder und blökender Schafe, aber kein Staub wirbelte wie gewöhnlich über und hinter ihnen empor, denn sie schritten stattlich auf dem samtgrünen Rasen daher.
Links aber, an einer der tiefsten Stellen des Tales, stand ein einsames Gehöft, die Heimat der heimkehrenden Herden, und vor diesem von Linden beschatteten Gehöft erhob sich ein einzelnes Haus, größer gewiß, als es aus der Ferne erschien, aber in seiner anscheinenden Kleinheit umso reizender und zierlicher für das mit Wohlgefallen auf ihm ruhende Auge.
Sein ziegelrotes Dach blickte freundlich winkend über den Linden hervor, und vor der Tür standen die Hüter des Einganges, zwei ungeheuere Pappeln. Vor Allem aber schimmerten, lebhafter noch als der frische Teppich zu unseren Füßen, seine grünen Fensterläden uns entgegen, und einige blinkende Fenster glänzten in so feurigem Purpur, als wären sie von der ganzen liebesheißen Glut der wehmütig scheidenden Sonne angehaucht.
Das schöne Ganze war von einem blinkenden Metallgitter umgeben und lag da wie ein kleiner Edelstein, von einem goldenen Reifen eingefaßt.
Rechts von uns aber erhob sich ein noch höherer Hügel als der, auf welchem wir uns befanden, und beide waren durch jenen silbernen Wasserstreifen voneinander getrennt, über welchen eine kleine Brücke führte, wie auch eine zweite ähnliche das Gehöft mit dem größeren Hügel verband.
So war die Gegend beschaffen, die wir, auf der Spitze des Hügels haltend, schweigend betrachteten und die ich darum genauer beschrieben habe, weil mich eine doppelte Erinnerung auf ewig mit ihr verbinden wird. Denn nicht allein trugen sich in ihr einige Begebenheiten zu, welche ich hier zu erzählen habe, sondern sie rief auch außerdem die friedlichsten, heiligsten und zugleich wehmütigsten Empfindungen aus meiner Jugendzeit in mir hervor.
Gleich beim ersten Anblick fiel mir eine Ähnlichkeit auf; diese liebliche Gegend glich, bis auf geringe Kleinigkeiten, einer der besuchtesten in meinem Vaterlande, einer Stätte, die mich zum Knaben und Jüngling hatte reifen sehen und die mit unauslöschlichem Andenken in meine Seele gegraben war. Ach, an sie knüpften sich die ersten, lebhaftesten und glühendsten Gefühle meiner Jugend, der Jugend, welche im Menschenleben das Einzige ist, was, einmal entflohen, unwiederbringlich entschwunden und durch nichts zu ersetzen ist, was es auch in der weiten Welt Reiches, Schönes und Großes geben mag.
Und diese friedliche Gegend, an dem linden Abend mit dem balsamischen Hauche durchwürzt, rief jene Zeit und die Orte, wo ich diese Zeit verlebte, in mir wach – ich empfand plötzlich eine freudige, obgleich mit Wehmut gemischte Sehnsucht nach meinen vaterländischen Fluren, so daß ich, meinen Gedanken hingegeben, mich aus der Gegenwart immer mehr und mehr verlor und die Vergangenheit mit allen ihren Freuden und Schmerzen in meinem Herzen walten ließ. Ach, und diese Vergangenheit waltet über und in uns mit so linder und süßer Gewalt, daß ich den Menschen beneiden möchte, der darüber eine warme Träne fallen lassen kann.
Meine sich vollsaugenden Blicke schweiften den Hügel hinab über die Ebene hin und wurzelten endlich auf dem stillen Hause hinter dem schirmenden Gitter, aus dessen Schornstein ein matter Rauch in Form einer wolkigen Säule zum Himmel emporwirbelte.
»Wenn ihr da drinnen so friedlich gesinnt seid wie die Luft, die euch umfächelt, und so freundlich wie die Gegend, die ihr bewohnt«, dachte ich bei mir, »dann muß es ein Genuß sein, mit euch zu verkehren!«
Und ich beschloß, die Gastfreundschaft der Bewohner in Anspruch zu nehmen. Es war mir nun einmal so, als müßte ich meinen Fuß über diese gastliche Schwelle setzen, es zog mich wie mit einer unwiderstehlichen Gewalt zu diesem Hause.
»Doch nein!« dachte ich wieder; »es wohnt vielleicht ein begüterter Squire darin, ein Mann ohne Weib und Kind, was kümmert er sich um dich, den Fremden? Du willst weiterziehen und ein ärmlicheres Landhaus zu erreichen suchen, denn es würde dir wehe tun, dich in deinen Erwartungen getäuscht zu sehen und die Bewohner deinen Wünschen nicht entsprechend zu finden.« Und eben wollte ich diesen Gedanken verwirklichen, als ein Ausruf Bobs meine Aufmerksamkeit einen Augenblick lang auf einen anderen Punkt hinleitete.
»Sehen Sie, Sir«, rief er, »dort oben auf dem Hügel, da drüben, hält auch ein Mann zu Pferd und beschaut sich die Gegend wie wir.«
»Wo? – Da! Ja, richtig – ein Mann zu Pferd!«
Aber kaum, so wichtig diese Entdeckung auch für mich sein mußte, vermochte sie meinen tiefgewurzelten Träumereien mich augenblicklich zu entreißen.
»Reite hin zu ihm, Bob«, sagte ich leise, »man kann von hier nicht mehr genau erkennen, wie er aussieht, reite hin und sieh, wer er ist.«
Bob ritt den glatten Abhang vorsichtig hinunter, und ich war wieder allein. Noch einmal überflog ich die Gegend, das Haus, die Pappeln, den Horizont, dachte noch einmal an mein heimatliches Vaterhaus, und dann, wie mit Gewalt von dem gesegneten Anblick mich losreißend, ritt ich langsamen Schrittes Bob entgegen, der unterdessen zu dem Reiter gesprengt war, ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte und nun ebenso ruhig, wie er fortgeritten war, zu mir zurückkehrte.
»Es ist nichts«, sagte ich zu mir, »sonst würde Bob rascher reiten!«
»Er war es nicht, Sir!« rief Bob, als er nähergekommen war. »Es ist ein Arzt aus dem nächsten Städtchen, der zu einem Kranken da unten gerufen ist.«
Damit zeigte er auf das stille Haus, das links zu unseren Füßen lag.
»Auch ein Arzt!« dachte ich, »der zu einem Kranken gerufen ist – und da unter dem friedlichen Dache soll er sein! Ach! ich suche auch eine Kranke, aber eine Herzenskranke, für die ich einen köstlichen Balsam bei mir trage.«
Und wir ritten still hinab, der kleinen Brücke zu, die wir überschreiten mußten, um auf das jenseitige Ufer des kleinen Baches zu gelangen. Aber auch jener Mann zu Pferd, ebenfalls seinen Weg zur Brücke nehmend, näherte sich schon von der anderen Seite, und wir mußten uns ungefähr auf der Mitte derselben begegnen.
Ich warf einen Blick auf ihn; dann mich etwas links wendend, um eine Vertiefung zu vermeiden, verfolgte ich ruhig meinen Weg.
In diesem Augenblicke blieb Bob etwas zurück. Er war vom Pferde gestiegen, um seinen gewichenen Sattelgurt fester zu schnallen.
Ich ritt langsam weiter und kam dem Häuschen schon näher, das sich immer größer und prächtiger erwies, je deutlicher es aus der dämmernden Ferne hervortrat.
Ich hielt noch einmal an und warf unwillkürlich einen Blick darauf.
Jetzt sah ich ganz deutlich innerhalb des durchsichtigen Gitters einen Mann stehen, dessen Gestalt ich aber nicht genauer erkennen konnte, denn die Dämmerung hatte allmählich zugenommen.
Da war es mir, als wenn ich zu den Füßen dieses Mannes etwas Dunkles sich bewegen sehe. Ich blickte genauer hin – noch einen Augenblick – und ich gewahrte einen großen, sehr großen schwarzen Hund, welcher, den Hals weit vorstreckend und den Schweif lang hinter sich tragend, aus dem Gitter hervorkam, anfangs langsam, gleichsam kriechend, dann schneller, immer schneller, und endlich in ungeheuren Sätzen auf mich lossprang.
Ich hielt Bravour an – ich hörte ein lautes wiederholtes Pfeifen vom Gitter her, aber der Hund gehorchte ihm nicht.
Ich griff nach meiner starken Reitpeitsche, denn schon war mir der Hund ganz nahe und schien es in der Tat auf mich abgesehen zu haben. Ich konnte den ungeheuren Kopf und die dichte Mähne, die seinen Hals löwenartig umgab, seine breite Brust und seine großen, glänzenden Zähne sehen – aber trotz dieses wilden Aussehens schien er keine böse Absicht zu verraten und verhielt sich ganz still, bis er, dicht an meiner Seite, plötzlich ein lautes, durchdringendes Geheul ausstoßend, an dem Halse meines Pferdes in die Höhe sprang, dann wieder hinter mir an das Roß hinanklomm schnuppernd, riechend – und endlich in ein noch lauteres Freudengeheul ausbrechend, in ungeheuren Sätzen und auf den gewaltigen Hinterläufen stehend frohlockend um mich herumsprang. Bravour seinerseits, anfangs still, mit dem linken Auge den Hund aufmerksam betrachtend, spitzte bei dem ersten Tone seiner Stimme die Ohren, dann aber, lauter als gewöhnlich und in abgebrochenen, stoßweise hervorgebrachten Tönen wiehernd, streckte er seinen stolzen Hals dem wie liebkosend ihn umspringenden Hund entgegen.
Ich sah wie bezaubert das Alles mit an – in diesem Augenblicke kam Bob herangeritten –ich blickte mich verwundert nach ihm um.
»Ha! Othello! Othello! Das ist ja Othello!« hörte ich ihn rufen und – ja – nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen und von dem Herzen, ich hatte meine Träumereien, die Gegend, das Haus, das Vaterland vergessen, und beinahe einen plötzlich entstehenden, gewaltsamen, inneren Schmerz in meiner Brust empfindend, der mich wie ein Ruck ergriff, sprang ich vom Pferde, wie Bob, der sich sogleich dem Hunde nähern wollte.
Aber dieser, wie unsinnig vor Freude, sprang leise heulend dem Gitter zu – jetzt trat der Mann aus demselben näher an mich heran – es wurde dunkel, ganz dunkel vor meinen Augen – und doch sah ich hell, denn in meiner Seele war es licht wie Morgenrot – ich sah, wie mit meinen geistigen Augen, den Pfarrer Graham vor mir stehen.
Es war mir, als ob mein Herz plötzlich still stände – es durchfuhr mich ein entsetzlicher Schreck im Anfang – dann, gleich darauf fühlte ich eine unaussprechliche Beruhigung. Auf meinen Wink war Bob, der schon losbrechen wollte, sogleich still zurückgetreten, faßte die Zügel beider Pferde und ging abseits mit ihnen.
Noch einen Augenblick, und ich hatte mich gesammelt. Ich wußte, was ich sagen, was ich tun wollte, und demgemäß ging ich sogleich ans Werk.
»Sir!« sagte ich, zu dem alternden Manne tretend, dessen Züge ich nicht mehr genau unterscheiden konnte, »erwarten Sie einen Arzt?«
»Ach! Sind Sie es, Herr Doktor?« fragte er schnell und streckte mir die Hand entgegen. »Ich habe Sie schon lange erwartet – ach! Mein Kind! Mein Kind! – Still, Othello, was hast du denn? Geh!«
Der Hund ging zur Seite, wo Bob mit den Pferden stand – ich wollte hinblicken, aber eine andere Szene lenkte für den Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich.
Der andere Reiter nämlich war unterdessen ebenfalls herangekommen und begrüßte uns freundlich, indem er sich als den zu der kranken Dame gerufenen Arzt zu erkennen gab.
»Entschuldigen Sie, Sir!« sagte ich mit etwas bewegter Stimme zu Sir Robert Graham, denn er war es ja wirklich, »ich habe mit diesem Herrn einige Worte zu wechseln. Bitte! gehen Sie mir gefälligst in das Haus voran, ich komme sogleich nach.«
Sir Robert blickte etwas verwundert auf die beiden zugleich ankommenden Arzte hin, doch verbeugte er sich, lüftete ein wenig das schwarze Käppchen, welches seinen Scheitel bedeckte, und ging sogleich in das Gitter hinein.
»Mein Herr!« wandte ich mich jetzt zu dem Arzte, indem ich mich dicht an den Sattel stellte, von dem er noch nicht abgestiegen war, und zwar mit dem freundlichsten Tone meiner Stimme, »mein Herr, ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, und ich bitte Sie daher meine etwas dreiste Bitte zu entschuldigen – ich bin auch zu dieser Kranken berufen und – und möchte sie gern allein behandeln.«
Der Mann sah mich, wie es natürlich war, etwas verwundert, doch nicht böse an, und sagte weiter nichts als:
Ich wiederholte meine Bitte und fügte hinzu:
»Es ist dies ein merkwürdiges Zusammentreffen hier, allein ich habe die wichtigsten Gründe, ganz allein zu dieser Kranken zu gehen. Gönnen Sie uns morgen die Ehre Ihres Besuches, und wenn dann noch Ihre Hilfe von Nöten sein sollte, so sollen Sie – seien Sie versichert – Ihr Meisterstück tun – ich bürge für einen freundlichen Empfang und für den aufrichtigsten Dank Sir Robert Grahams.«
»Ach so – Sie sind auch ein Arzt? Aha! Aber das ist sonderbar!«
»Äußerst sonderbar, Sir, ich gestehe es! Aber ich bitte Sie dringend – es waltet ein Irrtum, ein Geheimnis, wenn Sie wollen, mit meiner Erscheinung ob – darf ich Sie aber morgen wiedersehen?«
»Nun, ich verstehe, Sir«, sagte der bescheidene Mann, »ich verstehe – es ist in der Eile zu mehreren Ärzten geschickt, und Sie kamen vor mir an – viele Köche verderben den Brei – es ist natürlich. Ich gehe; gute Nacht, Sir! gute Nacht!«
Und er drehte schon den Kopf seines Pferdes herum.
Ich hätte ihn gern mit ins Zimmer genommen, aber durfte ein Fremder zugegen sein, wenn ich zu sprechen anfing?
»Sie kommen bestimmt morgen? Zu Tisch?« setzte ich hinzu. »Ich bitte Sie darum.«
»Schön, sehr schön, Sir! Ich werde kommen!«
»Ich danke Ihnen, Sir! Morgen mehr!«
Und er ritt davon – aber ich?
Ich trat über die Schwelle des Hauses Sir Robert Grahams, des ehemaligen Pfarrers auf Codrington-Hall!