Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Siebentes Kapitel

Der letzte Gesang der Änëis

»Wäre es nun Vergilius vergönnt gewesen, sein unsterbliches Werk zu vollenden, so hätte er jene Stelle gestrichen, und Äneas wäre mit Hilfe des goldenen Zweiges aus der Unterwelt hinausgegangen, wie er hineingegangen war. Im letzten Gesang aber hätte der Sänger uns erzählt, wie eine Gottheit den Äneas antrieb – denn ohne das konnte er ja nichts vornehmen – dem Zweige ein Heiligtum zu stiften. Da war es ihm nun aber klar, daß in einer Stadt dazu nicht die Stelle wäre, und er verließ die Mauern. Aber auch in der Ebene schien ihm keine Stätte sich zum Heim des Waldsprosses zu eignen; so durchwanderte er die Ebene auf das blaue Waldgebirge zu und stieg in dieses hinauf. Auch zweifelte er nie, in welcher Richtung er gehen sollte, denn wo die Gabelung einer Schlucht ihm die Wahl offen ließ, bewegte sich der Zweig, den er in der Hand hielt, und zeigte ihm seinen Weg, den er bei Nacht beleuchtete. So wandelte Äneas Tage und Nächte durch die tiefen Wälder, bis sich endlich das Dickicht vor ihm lichtete und er auf diesen Fleck heraustrat. Mit Entzücken betrachtete er den Seespiegel, der in den Strahlen der Mittagssonne funkelte, wie er es jetzt tut; mit Ehrfurcht begrüßte er den mächtigen Ölbaum, dessen Schatten uns jetzt umhüllt, und fühlte den goldenen Zweig in seiner Hand sich rühren.

Unter dem Baume aber gewahrte er einen Jüngling und eine Jungfrau, deren verschwisterte Züge ihre hellenische Herkunft zu erkennen gaben, und zwischen den beiden, an den Stamm gelehnt, das in Holz geschnitzte Bild einer Göttin.

Noch stand er von diesem Anblick betroffen da, als der Jüngling mit gezücktem Schwert aufsprang und mit dem Ausruf: »Dort kommt das Opfer« auf ihn losstürzen wollte, von der Jungfrau aber zurückgehalten wurde.

›Was wehrst du mir, Iphigeneia?‹ rief jener. ›Sprachst du nicht selber vom Opfer? und schicken die Götter nicht diesen, wie sie manchen Fremden an der taurischen Küste der strengen Artemis schickten?‹

›Wohl schicken sie uns diesen,‹ sprach die Jungfrau, die ein priesterliches Gewand trug, ›jedoch nicht als Opfer. Siehst du nicht, Orestes, das wunderbare göttliche Wahrzeichen, das ihn schützt?‹

Vor dem goldenen Zweig, den Äneas ihnen entgegenstreckte, ließ Orestes sein erhobenes Schwert sinken.

›Wer bist du, Fremder? und was führt dich hierher?‹ fragte die Jungfrau.

›Da ihr Euch genannt habt, möget Ihr auch meinen Namen kennen lernen, wenn er auch nicht freundlich klingen mag in den Ohren der Kinder des Agamemnon. Wisset, daß Äneas, der Sohn des Anchises, vor Euch steht.‹

Beim Namen des Trojaners zuckte das Schwert wieder in der Hand des finster dreinblickenden Jünglings, aber die Schwester hielt ihn wieder zurück.

›Und was führt dich hierher, Trojaner,‹ fragte sie, ›nach einer Stelle, die wir schon für unsere Göttin in Besitz nahmen?‹

›Das Land gehört mir, so weit und breit ich streifen mag,‹ antwortete der Beherrscher Latiums, ›und eher muß ich fragen, wie es kommt, daß ich dir hier begegne. Denn viele Jahre sind's her, daß wir in Ilion hörten, dein Vater, der Völkerfürst, habe dich in Aulis, wo die Flotte der gegen uns gerüsteten Achäer durch Gegenwind zurückgehalten wurde, der erzürnten Artemis zum Opfer gebracht.‹

»›Du hast Falsches und Wahres gehört von dem Tag in Aulis, dem das Unglück unseres Hauses entstammt. Denn als ich schon bekränzt vor dem Altar stand, um dem Opfermesser zu fallen, entführte mich Artemis in einer Wolke nach ihrem Heiligtum an der wilden ungastlichen Küste Tauriens, dessen Priesterin ich ward. Meine Mutter aber faßte einen Haß gegen den Vater, der um des Kriegszuges willen ihre Tochter geopfert, und verband sich mit Ägisthos. Als dann nach dem Fall Ilions, den du wohl selber erlebt hast, Agamemnon nach Argos zurückkehrte, ward er von seiner Gattin und ihrem Geliebten erschlagen. Ihm entstand ein Rächer in seinem Sohn, den du hier vor dir siehst. Vom Fluch der erschlagenen Mutter getroffen und von den Erinnyen verfolgt, streifte er friedlos umher, und der Sturm warf ihn an die Küste Tauriens. König Thoas brachte mir ihn, dem Gebrauch gemäß, damit ich ihn opfern solle. Ich aber erkannte und befreite ihn. Thoas fiel von dem Schwerte des Orestes, und wir flüchteten in einem Schifflein, das Bild der Göttin mit uns nehmend. Es gab uns günstigen Wind, der uns jedoch an den ersehnten Gestaden des Hellas vorbeiführte und uns an der Ostküste Italiens landete. So wanderten wir denn, Orestes das schützende Bild tragend, landeinwärts. Zweimal wechselte der Mond, die himmlische Gestalt unserer Göttin, sein Gesicht, während wir wanderten, und nirgends wurde es uns gegeben zu ruhen, bis wir diese Stelle erreichten. Da vernahm ich im Rauschen dieses Ölbaumes die Stimme der Göttin: ›Dies ist mein Spiegel, hier sei meine Ruhestätte.‹ Wir stellten sofort das Bild in den Schatten des Baumes und überlegten uns, wie wir ihm ein Heiligtum errichten könnten und durch welche Opfergabe die Stelle zunächst der Göttin zu weihen sei; und noch während wir dies berieten, erschienst du, von der Göttin uns zur Hilfe geschickt, wie ich weiß. Denn den goldenen Zweig, den du in der Hand trägst, habe ich im Traume erschaut. So erzähle du uns nun, wie dein Fuß von den fernen trojanischen Küsten hierher geleitet wurde.‹

›Schon einmal,‹ hub Äneas an, ›habe ich auf das Geheiß einer hehren Königin den unaussprechlichen Schmerz erneuert, indem ich den Fall des hohen Ilions berichtete. Diese furchtbaren Geschicke, deren ich ein großer Teil war, würden wohl selbst den Kindern des harten Agamemnon Zähren entlocken, wollte ich sie ausführlich schildern. Doch genug sei es zu sagen, daß in jener Schreckensnacht, als durch schändlichen Betrug Ilion in die Hände der Danaer fiel, ich aus der brennenden Stadt die Penaten und meinen alten Vater trug: dieser starb mir nach langen Irrfahrten am fernen öden Gestade dahin; jene brachte ich endlich wohlbehalten nach der verheißenen italischen Küste, ihnen hier ein neues Troja zu gründen. Bei Cumae gelandet, drang ich in die furchtbare Kluft, wo die Sibylle ihren Aufenthalt hat. Denn mich trieb ein unwiderstehliches Verlangen, in die Unterwelt hinunterzusteigen, um noch einmal meinen teuren Vater Anchises zu sehen und von seinen Lippen Wahrsagungen zu hören. Die Sibylle aber hieß mich, im tiefsten Walddickicht den goldenen Zweig zu gewinnen, der allein mir Eingang ins verbotene Reich schaffen könne. Ein Taubenpaar, von der göttlichen Mutter gesandt, führte mich zu der Steineiche, mit deren schwärzlichem Laub der Zauberzweig seinen Goldglanz mischte, und willig gab er meinem Griffe nach. Ihn in der Hand und die Seherin zur Seite durchwanderte ich die schweigsamen Schatten, das verödete Reich und die verlassenen Sitze des Pluto. Dort sah ich den dreiköpfigen Cerberus, den grimmen Charon und die stygischen Gewässer, den flammenden Phlegethon, die eiserne Höllenburg und zahllose Greuel, die zu nennen meine Lippen sich sträuben. Aber auf der Asphodelenwiese Elysiums schaute ich den hehren Erzeuger und lauschte noch einmal der väterlichen Stimme, die mir Zukünftiges offenbarte und meine Seele erstärkte. Dem Lichte der Oberwelt zurückgegeben, erreichte ich mit meinem schnellsegelnden Schiff die Mündung des Tiberstromes, und nach langen schweren Kämpfen gewann ich mir die Braut und das Reich, in welchem einst mein Geschlecht bis zur Weltherrschaft emporblühen wird. Denn also weissagte mir's der Vater, indem er mir unter den noch ungeborenen Seelen, die wie Bienenschwärme auf blumiger Wiese das Ufer der Lethe umsummten, die Gestalten jener Männer zeigte, die den Ruhm des Dardanischen Stammes bis zu den Sternen emportragen werden. Dann aber trieb es mich unwiderstehlich, dem wundervollen Goldzweig, dieser Wünschelrute meines Geistes, die mir so treu gedient, ein Heiligtum zu stiften, und auf der Suche nach einer würdigen Stelle kam ich hierher.‹

›So sind wir uns in der Fremde begegnet,‹ sprach Iphigeneia, ›wir Kinder zweier feindlicher Völker und Geschlechter. Wir Geschwister, die der Zerstörer Ilions erzeugte, du, der flüchtige Sohn des zerstörten Ilions; – wir, die Sprößlinge eines versunkenen Hauses, du der Gründer eines Hauses, dessen Zinnen die Welt überragen werden – hier, in der Fremde begegnen wir uns, nicht ohne göttliche Fügung.‹

›Gewißlich nicht,‹ entgegnete Äneas, ›denn des ist kein Zweifel, daß die nächtige mondgekrönte Hekate durch meine Hand ihrer Schwester, der mit der Mondsichel glänzenden Diana, diesen Goldzweig schickt, ein Weihgeschenk aus dem Avernischen Hain der Waldgöttin. Das Heiligtum, das Ihr Diana hier stiften wollt, helfe ich Euch errichten. Wohlerfahrene Männer lasse ich herkommen, Steine des Gebirges zu brechen und einen herrlichen Tempel zu bauen. Zunächst aber will ich das Weihgeschenk anbringen, wo es hingehört. Denn schon regt sich der Zweig in meiner Hand, sehnsuchtsvoll, sein neues Heim zu finden in dieser Baumkrone, aus welcher du selber, edle Jungfrau, die göttliche Stimme vernahmst.‹

Mit diesen Worten stieg er auf diese wie eine Drachenpfote hervortretende Wurzel und bohrte die Spitze der Gerte in jenen Ast hinein. Willig wucherte die göttliche Mistel sich an; wie einst mit dem dunkelgrünen Steineichenlaub mischte sie jetzt ihr goldiges Laub mit den silbrigen Ölblättern und freute sich sichtbar, funkelnd und aufleuchtend wie erfrischt, so daß sein Strahl durch das Tageslicht brach wie sonst durch das Nachtdunkel und über die herben Züge des am Stamme lehnenden Dianabildes spielte, sie zu einem beifälligen Lächeln belebend.

Durch diesen Anblick beglückt, sprach der fromme Held: –

›Und wie mich dieser goldene Zweig heil durch die Schrecknisse der Unterwelt geführt und mich auch hier, wo mich der Tod bedrohte, beschirmt hat, so leuchte er auch fürderhin dem Schutzsuchenden zum Heil! Ein Asylrecht will ich diesem Heiligtum verleihen. Wer hier seine Zuflucht nimmt und den goldenen Zweig vom Baume bricht, wie ich es in dem Avernischen Haine tat – welches Verbrechen er auch begangen haben möge, gegen die rächende Hand irdischer Gerichtsbarkeit sei er gefeit! Als Priester dieses Heiligtums lebe er den Rest seiner Tage, sein Leben sei der Göttin geweiht!‹

›Sein Leben sei der Göttin geweiht!‹ wiederholte der finstere Orestes, um dessen Brauen selbst im Glanze des goldenen Zweiges der Flügelschatten der Erinnyen schwebte: – ›So sei es! zwölf Priester verlangt Artemis, wie die zwölf wechselnden Gesichter ihres Mondes. So kann niemand hinzukommen. Wer also den Zweig bricht, der kämpfe um die Priesterschaft mit dem, den die Göttin durch das Los dazu bestimmt. Derjenige von den beiden, der im Ringkampf unterliegt, werde in den See gestürzt, ein Opfer der Göttin!‹

Kaum hatte Orestes diese Worte ausgesprochen, da rauschte es mächtig durch den breiten Baumwipfel.

›Die Stimme der Göttin vernehme ich,‹ rief die begeisterte Iphigeneia – ›Artemis hat das Gelübde und die Stiftung dieses Asylheiligtumes angenommen.‹«


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