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Um acht Uhr abends sollte Doktor Kameron mit seiner Braut Genofeva Gretorex im Hause ihrer Eltern am Sankt Nikolausplatz getraut werden. Jetzt war es vier Uhr.
Der Doktor saß in seinem Sprechzimmer. Er ließ sein vergangenes Leben im Geist an sich vorüberziehen und baute Luftschlösser für die Zukunft. Obgleich noch jung an Jahren, erfreute er sich doch bereits eines nicht unbedeutenden Rufes als tüchtiger Arzt. Nun eröffneten sich ihm auch noch durch seine Verbindung mit der Tochter eines der reichsten und angesehensten Bürger Neuyorks für seinen Ehrgeiz neue wertvolle Beziehungen, und er erhielt die Anwartschaft auf ein beträchtliches Vermögen. Diese nicht unwillkommenen Zugaben erhöhten in seinen Augen die Reize der Braut noch um ein Bedeutendes. Nicht daß er sie nicht geliebt – oder zu lieben geglaubt hätte – ganz abgesehen von ihrer Lebensstellung! War sie doch schön, und besaß dabei jene stolze Zurückhaltung, die er besonders bewunderte! Ihr vornehmes Wesen, ihre gesellschaftliche Bildung würden seinem bereits hochgeachteten Namen einen noch ehrenvolleren Klang verleihen! Allerdings hatte sie ihre Launen, wie man das bei einem Mädchen in solcher Stellung kaum anders erwarten kann; auch schien sie mehr verständige Wertschätzung als glühende Hingabe für ihn zu empfinden; das hatten verschiedene kleine Vorkommnisse der Verlobungszeit deutlich gezeigt. Aber eine Braut voll überschwenglicher Gefühle wäre kaum nach seinem Geschmack gewesen. Die ruhige Würde dieser Ehe schien seinem Charakter angemessen und für beide Teile höchst befriedigend. Es ließ sich dabei der innere Gleichmut bewahren, dessen er zur Ausübung eines Berufs bedurfte, der ihn in Anspruch nahm.
Nur ein Umstand machte ihm Sorge. Warum hatte ihm seine Braut während der letzten Woche ihren Anblick gänzlich entzogen? Woher dieser seltsame Wunsch, sich zurückzuziehen in einer Zeit, da man meinen sollte, die Gegenwart des Verlobten müsse für sie ein unabweisbares Bedürfnis sein? – Sie war wirklich kein leicht verständlicher Charakter. Zuweilen hatte er in ihrem kühlen, meist matt umschleierten Blick einen Geist aufleuchten sehen, der nur nach Licht und Luft zu verlangen schien, um sich frei und groß zu entfalten, so daß ihm wohl der Gedanke gekommen war, es schlummere in ihr eine Tatkraft, für die es in dem gewohnten Geleise ihres vornehmen Gesellschaftslebens keinen Spielraum gab. – Weshalb aber wollte sie ihn nicht sehen? Hatte er etwa ihr Mißfallen erregt? Das konnte er kaum glauben. Er hatte ihr reiche Geschenke gesandt, kostbare Gaben, wie sie ihrem feingebildeten Geschmack entsprachen. War sie krank? Dann müßte er als ihr Arzt doch davon unterrichtet worden sein. Sie hatte ja auch das letztemal, als er das Glück gehabt, bei ihr vorgelassen zu werden, wohler und blühender ausgesehen als je zuvor. Eine gewisse nervöse Hast war ihm wohl in ihrem Wesen aufgefallen, doch hatte sie ihm ein weit freundlicheres Entgegenkommen gezeigt als sonst. So kurz dieser letzte Besuch gewesen war, er hatte ihm doch einen tiefen Eindruck hinterlassen; noch sah er im Geist den fast schüchternen Blick, mit dem sie ihn begrüßte, und ihr Lächeln, bei dem er förmlich erschrak, war viel wärmer und inniger als gewöhnlich gewesen. Dann die wenigen raschen Worte – denn selbst an jenem Abend entließ sie ihn bald – und die plötzliche Scheu, als er ihr zum Abschied die Hand bot, all das stand ihm noch deutlich in Erinnerung. Im Augenblick selbst war es ihm nicht weiter aufgefallen, aber jetzt kam ihm vor, als sei in ihrem ganzen Benehmen etwas Neues, Fremdartiges gewesen, das gegen ihr früheres Gehaben abstach. Er war sich des Unterschieds wohl bewußt, wenn er ihn auch nicht erklären konnte. Der Abschiedskuß zum Beispiel, den er erhalten, war nicht kalt und förmlich; ihre Lippen schienen den Druck der seinigen erwidern zu wollen.
Das alles hätte als ein günstiges Zeichen gelten können, als Vorbote größerer Herzenswärme in ihren künftigen Beziehungen, wenn nicht durch das spätere Verhalten der Braut jede derartige Annahme zunichte gemacht worden wäre. Unter diesen Umständen ließ sich eher vermuten, sie habe sich damals in einem unnatürlichen Zustand befunden, es sei vielleicht ein Fieber im Anzug gewesen. War sie krank und verbarg man es ihm? – Des Dieners Ausflüchte: »Fräulein Gretorex bittet, sie zu entschuldigen, da sie gerade sehr beschäftigt ist,« – »Frau Gretorex bedauert sehr, aber das Fräulein ist eben in wichtigen Angelegenheiten ausgegangen,« konnten sehr wohl nichts als höfliche Redensarten sein, um ihm die Wahrheit zu verhüllen. Und doch schien ihm bei ruhiger Betrachtung selbst diese Vermutung nicht stichhaltig. Es müßte ihm ja zu Ohren gekommen sein, wenn sie krank wäre! Vielleicht wollte sie nur den allzustrengen Forderungen der Etikette entgehen, welche ihre Mutter an sie stellte. –
Nun, wie dem auch sein mochte, in wenigen Stunden war sie ja sein Weib, die Gefährtin seines Lebens. Und nun wollte er sich aller Gedanken entschlagen und sich einzig und allein an jenen Kuß erinnern. –
Ein Klopfen an der Tür seines Sprechzimmers riß ihn plötzlich aus seinem Nachsinnen. Aergerlich erhob er sich. Es konnte noch nicht der Hochzeitswagen sein, der ihn abholen sollte, und er hatte doch ausdrücklichen Befehl erteilt, weder Besucher noch Patienten vorzulassen. Vielleicht war es ein Bote von Fräulein Gretorex! Von diesem Gedanken beseelt, eilte er zur Tür. Diese ging jedoch auf, ehe er noch die Klinke berühren konnte, und zu seiner Ueberraschung trat ein ihm unbekannter Herr ins Zimmer. Das Wesen des Fremden hatte etwas Einnehmendes; er sprach ruhig, mit merkwürdig sanfter Stimme, doch schien sein Anliegen dringend zu sein.
Ich bedauere, Ihnen lästig zu fallen, sagte er. Ihr Diener teilte mir mit, es sei heute Ihr Hochzeitstag, die Trauung finde um acht Uhr abends statt. Trotzdem erlaube ich mir, Sie um eine Unterredung zu bitten, da es sich um eine dringende außergewöhnliche Sache handelt.
Es fiel Doktor Kamerun auf, daß der Mann ihm beim Sprechen nicht frei ins Gesicht sah, sondern den Blick auf irgendeinen Gegenstand im Zimmer heftete, was kein Zeichen von besonderer Offenherzigkeit war; er schien offenbar nicht den höheren Gesellschaftskreisen anzugehören.
Nehmen Sie gefälligst Platz, sagte der Doktor. Sie kommen doch wohl, um sich ärztlichen Rat zu holen?
Das nicht, entgegnete jener, wobei sein Auge mit seltsam mitleidigem Ausdruck bald auf der weißen Halsbinde des Arztes verweilte, bald auf andern unbedeutenden Gegenständen, die auf dem Tische lagen. Ich wünsche den Arzt in Ihnen zu sprechen, wenigstens gewissermaßen, aber ich bin kein Patient, fast möchte ich sagen: leider, fügte er mit so sorgenvollem Ton hinzu, daß des Doktors Teilnahme erwachte, obgleich seine Gedanken natürlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren.
So sagen Sie mir, was Sie herführt!
Das will ich mit Ihrer Erlaubnis, entgegnete der Fremde in kürzerem geschäftsmäßigem Tone, aber ich fürchte, Sie werden kaum Willens sein, die Geschichte anzuhören, welche ich Ihnen zuvörderst zu erzählen habe. An sich ist sie zwar nicht ohne Interesse, paßt aber so wenig zu Ihrer jetzigen Stimmung, daß Sie sich mit Geduld wappnen müssen. Doch ist es nicht zu vermeiden; ich muß sie erzählen, und Sie müssen sie hören – jetzt, gleich, ohne mich zu unterbrechen – ich kann Ihnen nicht helfen.
Das klang beunruhigend, besonders da der Sprecher nicht den Eindruck eines allzuempfindsamen Menschen machte. Er schien von einem ganz bestimmten Beweggrund getrieben, jedes seiner Worte genau abzuwägen und sich aller Übertreibung zu enthalten.
Darf ich um Ihren Namen bitten? fragte Doktor Kameron.
Er wird Ihnen schwerlich bekannt sein, war die ruhige Antwort, es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten nicht danach gefragt. Da es aber von höchster Wichtigkeit ist, daß Sie mir Ihr Vertrauen schenken, erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich Gryce Sprich Grais. heiße, Ebenezer Gryce, und Beamter der Geheimpolizei bin.
Doktor Kamerons Befürchtungen verschwanden gänzlich. Was jener auch zu sagen hatte, die Polizei konnte weder mit ihm noch mit einem der Seinigen irgend etwas zu schaffen haben.
Sie unterschätzen Ihren Ruf, entgegnete Kameron höflich; Ihr Name ist mir wohlbekannt. Sie bedürfen meines Beistandes vermutlich für ein ärztliches Gutachten?
Der Detektiv wandte den düstern Blick von dem lachenden Cherub auf dem Kaminsims ab und dem Doktor zu, ohne jedoch dessen verbindliches Lächeln zu erwidern oder seine Art und Weise zu ändern.
Wir werden uns am schnellsten verständigen, wenn ich meine Geschichte erzähle, sagte er und begann ohne weiteres.