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Frau Olneys Entrüstung über die Anwesenheit des Detektivs Harrison hatte sich bald gelegt, als sie sah, wie ehrerbietig und rücksichtsvoll sich der junge Mann benahm. Im Verlauf der langen Nachtwache würde es ihm sicher gelungen sein, manches von ihr zu erfahren, was sein Vorgesetzter zu wissen wünschte, aber Doktor Molesworths düstere Gegenwart machte die gute Frau befangen. Dieser saß mit finsterer Miene da, schroff und unzugänglich, sein wachsames Auge, sein scharfes Ohr verhinderte jede vertrauliche Mitteilung. Der Polizist sah sich daher auf seine eigenen Beobachtungen beschränkt, deren Ergebnis recht dürftig ausfiel; nur was er am Morgen über die Beschaffenheit von Fräulein Farleys Kleidung zu berichten hatte, war für Gryce von besonderem Interesse gewesen.
Nach der Unterredung mit dem Coroner betrachtete es Gryce als seine erste Aufgabe, sich mit der Vorgeschichte des unglücklichen Mädchens bekannt zu machen. Dies glückte ihm über Erwarten. Frau Olney, welcher er sich zu dem Zweck unter seinem wahren Charakter vorstellte, erzählte ihm ohne Argwohn alles was sie wußte, augenscheinlich befriedigt über den aufmerksamen Zuhörer, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Was sie berichtete, war folgendes:
Mildred Farley war eine Waise. Erst vor einem Monat halte sie ihre Mutter verloren, die, seit lange verwitwet, mit der Tochter zusammen das Zimmer im Oberstock bewohnte, welches letztere bis zu ihrem plötzlichen Tode innehatte. Für diese Mutter, eine höchst anziehende aber kränkliche Frau, von zurückhaltendem stillem Wesen, in deren schwermütigen Augen eine lange Geschichte von Liebe und Herzeleid zu lesen stand, hatte die Tochter ganz gelebt. Mildred vergötterte sie, brachte ihr jedes Opfer und arbeitete von früh bis spät, um sie nicht nur vor Mangel zu schützen, sondern ihr auch die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu verschaffen, an die sie gewöhnt war. Damit Frau Farley nicht die frühern bessern Tage allzu schmerzlich vermisse, hatte die Tochter einen Beruf erwählt, der offenbar nicht im Einklang mit ihrer seinen Erziehung und geistigen Fähigkeit stand, sich aber bei angestrengter Arbeit als lohnend erwies.
Auch nach ihrer Mutter Tode ließ Mildred in ihrer emsigen Tätigkeit nicht nach, obgleich sie sich nun mehr Erholung hätte gestatten können. Vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein war sie beschäftigt, ein prächtiges Kleid nach dem andern zu vollenden. Frau Olney zerbrach sich vergebens den Kopf, was dieser rastlose Fleiß zu bedeuten habe. Sie hätte gern Mildreds Zukunft gesichert gesehen und hoffte und wünschte, sie möchte über kurz oder lang ihr Geschick mit dem des Doktors vereinigen.
Die beiden jungen Leute sahen sich täglich am Mittagstisch und standen allem Anschein nach auf freundschaftlichem Fuße miteinander, aber weder des Arztes zerstreutes, verschlossenes Wesen, noch Mildreds gleichförmige Höflichkeit ließ darauf schließen, daß sich der Herzenswunsch der fürsorglichen Frau erfüllen sollte. Das junge Mädchen schien durchaus nicht mit Heiratsgedanken umzugehen. Daß sie ihre gewohnte Lebensweise unterbrach, um jenen Ausflug zu machen und sich etwas zu erholen, war zu natürlich, um Verwunderung zu erregen. Der Doktor aber hatte in seinen Gewohnheiten und seinem Benehmen nicht das Geringste geändert. So war denn Frau Olney durch die Nachricht von der beabsichtigten Heirat völlig überrascht worden, und das darauffolgende jammervolle Ereignis hatte sie tief erschüttert. Der guten Frau war es unfaßlich, daß dies jugendkräftige, blühende Geschöpf, welchem weder die schwere Pflege noch die harte Arbeit der letzten Monate etwas von seiner Frische hatte rauben können, urplötzlich im Fieberwahn Hand an sich gelegt, einen Selbstmord begangen haben sollte.
Es mag sein, schloß sie ihren Bericht, daß so etwas den Menschen überfällt, man weiß nicht wie. Aber solch ein Ende paßt nun einmal ganz und gar nicht zu Mildreds Charakter, soweit ich ihn kenne. Hätte sie den Doktor glühend geliebt oder gehaßt, so wäre mir's vielleicht begreiflich. Davon aber war keine Rede, und wie soll ein frisches, lebensfrohes, junges Mädchen, das gesund ist an Leib und Seele, darauf kommen? – Sie sprach nicht weiter, aber der grimmige Ausdruck um ihren Mund schien Gryce ein deutliches Zeichen, daß Mildred Farleys warmherzige Freundin auf bestem Wege sei, seinen Argwohn zu teilen. In der Hoffnung, durch sie noch andere wichtige Aufschlüsse zu erhalten, begann er ihr eine Reihe Fragen vorzulegen. Wie geschickt er aber auch die Sache angriff, der Erfolg war nur gering. Am Schluß einer stundenlangen Unterredung hatte er etwa folgende Tatsachen erfahren:
Das junge Mädchen war in letzter Zeit in betreff ihrer Arbeit sehr zurückhaltend gewesen. Von den vielen schönen Kleidern, die sie im vergangenen Monat angefertigt (die Flicken in ihrem Zimmer lieferten den Beweis dafür) war der Wirtin, welcher sie sonst alles zeigte, kein einziges zu Gesicht gekommen. Im Gegenteil, sie schloß sich damit in ihrem Zimmer ein, bis die Kleider zur Ablieferung fertig waren und trug sie dann selbst in einer großen Pappschachtel fort. Oft kam sie von solchen Gängen erst spät abends heim, was Frau Olney viel Angst und Sorge bereitet hatte. Das Haus ihrer Kundin mochte wohl in einem ganz andern Stadtteil liegen. Diese selbst mußte eine vornehme, reiche Dame sein; sie war öfters bei Mildred zur Anprobe erschienen und jedesmal im Wagen vorgefahren.
Wo sich Mildred in den letzten Tagen zum Besuch aufgehalten, wußte weder die Wirtin noch sonst jemand im Hause anzugeben. Krank war sie nicht gewesen, hatte sich überhaupt stets der besten Gesundheit erfreut und, so weit bekannt war, nie einen Arzt gebraucht.
Doktor Molesworth, der Frau Farley in ihrer letzten Krankheit behandelt hatte, war dadurch viel mit der Tochter zusammengekommen, aber ohne daß ihr Verhältnis ein vertraulicheres geworden. Sie für ein Liebespaar zu halten, wäre niemand in den Sinn gekommen. Die übrigen Kostgänger hatten sie weder zur Zielscheibe harmloser Spässe und Neckereien gemacht, wie dies bei solchen Gelegenheiten oft vorkommt, noch waren ihre Namen überhaupt im Hause zusammen genannt worden.
Ein einzigesmal hatte man sie auf der Treppe miteinander flüstern sehen, aber auch dann nicht etwa in zärtlichem Zwiegespräch, sondern nur wie bei einer geschäftlichen Verabredung.
Mit diesen Mitteilungen mußte sich Gryce fürs erste begnügen. Aber Frau Olney war nicht seine einzige Quelle. Als der Coroner sich am Morgen zur Totenschau eingefunden hatte, war in seiner Begleitung eine freundliche ältere Frau erschienen, um die Wirtin bei der Wache am Lager des toten Mädchens abzulösen. Von ihr hoffte Gryce Auskunft über einen Umstand zu erhalten, der ihm sehr wichtig war, denn Frau Roberts, die er sofort erkannte, diente der Geheimpolizei als ein tätiges Mitglied. Sobald er sich mit ihr allein sah, fragte er:
Haben Sie meinen Zettel heute früh erhalten?
Ja, lautete die Antwort, und Sie haben recht: auf dem Kleid, am Rücken zwischen den Schultern, ist wirklich ein ganz frischer Farbfleck.
Gryce atmete tief auf vor innerer Befriedigung.
Ist er hell oder dunkel? fragte er, beschreiben Sie ihn mir ganz genau.
Ein rötliches Hellbraun, von ganz besonderer Schattierung.
Also richtig. Besten Dank; ich bin Ihnen, sehr verbunden. Weiß jemand hier im Hause um den Fleck?
Ich glaube nicht. Kann ich Ihnen sonst mit etwas dienen?
Nur noch eine Frage: Was halten Sie von Doktor Molesworth?
Es ist ein finsterer, trübsinniger Mensch, dem wohl noch etwas anderes auf der Seele drückt, als sein Kummer. Es ist schwer, aus ihm klug zu werden, aber eins ist sicher: verraten wird er nichts, wenn ihn nicht der Richter dazu zwingt. Er hat sich vollständig in der Gewalt, ist stets auf seiner Hut und benimmt sich ruhig und würdig. Ich bin erst so kurze Zeit hier auf dem Posten, aber ich muß sagen, er flößt mir Bewunderung ein.
Wirklich? – Da wäre es ja leicht möglich, daß auch andere Frauen die gleichen Gefühle hegten.
Versteht sich. – Sein Aeußeres ist zwar dem Auge nicht wohlgefällig, auch zeigt er keine Weichheit des Charakters, keine Schwäche für das weibliche Geschlecht – und doch kann er den Mädchen gefährlich werden. Ich sehe das in seinem Blick und kenne die Weiber.
Sie glauben also, daß Mildred Farley durch die Liebe in den Tod getrieben worden ist? Aber der Doktor sagte doch ausdrücklich in meiner Gegenwart, sie habe den Tod der Heirat vorgezogen.
Wir sonderbar! – das kann nur Doktor Molesworth aufklären, erwiderte Frau Roberts.
Gryce fragte nun noch die Dienstmädchen aus und ließ Mildred Farleys Zimmer öffnen. Dort entdeckte er sichere Anzeichen, daß die junge Schneiderin sich nicht ausschließlich mit ihrer Näharbeit beschäftigt habe. Auf dem Tisch lagen verschiedene Lehrbücher und Hefte, darunter eins mit französischen Sätzen, offenbar von ihrer Hand geschrieben. Gryce riß ein Blatt heraus und steckte es in die Tasche.
In tiefen Gedanken verließ er das Haus.
Also, dachte er, wie Frau Olney sagt, kam das Mädchen oft erst spät abends nach Haus und zwar nicht immer infolge geschäftlicher Abhaltung, da sie zuweilen Ausflüchte gebrauchte, um sich zu entschuldigen. Wurde Molesworth eifersüchtig, vielleicht nicht ohne Grund und hat er, im Glauben an ihre Untreue, ihr nur den Ausweg gelassen, sich das Leben zu nehmen oder ihre Schuld öffentlich an den Pranger gestellt zu sehen? Oder hat er am Ende – freilich der schwärzeste Verdacht – ihr lieber den Tod gegeben, als sie zu heiraten?