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Neuntes Kapitel.

Der Detektiv setzte seine Nachforschungen unermüdet fort, und erst als er nicht mehr hoffen durfte, selbst noch weitere Tatsachen zu ermitteln, suchte er den Coroner wieder auf. Es war Gryce weder gelungen, ausfindig zu machen, wo das Mädchen die letzten Tage vor ihrem Tode zugebracht hatte, noch für wen die schönen Kleider bestimmt gewesen waren, an denen sie so eifrig gearbeitet hatte. Nun sollte die Gerichtsverhandlung gehalten, und der Bericht darüber in allen Zeitungen bekannt gemacht werden. Vielleicht stand dann doch noch ein Zeuge auf, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.

Irgend jemand in der Stadt oder Umgegend muß doch wissen, wo sie sich aufgehalten hat, bevor sie den verhängnisvollen Schritt tat, äußerte sich Gryce dem Beamten gegenüber. Darüber, daß die Dosis Gift, die sie genommen, stark genug war, einen schnellen Tod herbeizuführen, ist wohl kein Zweifel?

Nein, entgegnete der Coroner, das hat die Sektion erwiesen.

Aber die Dosis war doch nicht stark genug, um auf der Stelle zu töten?

Darüber sind die Sachverständigen uneins.

Als Gryce im Begriff war, sich zu entfernen, hielt ihn der Beamte mit der Frage zurück: Wie verhält es sich denn mit dem Farbfleck?

Der Fleck auf dem Wagenkissen ist nur undeutlich, aber der auf ihrem Kleiderrücken ganz frisch, war die Antwort. Sie muß sich an etwas angelehnt haben, was frisch gestrichen war, und vom Kleide hat der Fleck auf den Wagen abgefärbt. Die Farbe ist so eigentümlich, daß man sie leicht wieder kennt, aber ich habe trotz aller Mühe keinen solchen Anstrich entdecken können.

Haben Sie auch daran gedacht, daß Molesworths Aermel gleichfalls befleckt sein müßte, wenn er, wie er angibt, die Sterbende in den Wagen getragen hat?

Natürlich, und der Fleck ist vorhanden.

Nun, dann dürfte des Doktors Geschichte doch wahr sein, meinte der Beamte.

Bei dem gerichtlichen Verhör, das tags darauf stattfand, wurden die verschiedensten Zeugen vernommen, und die Untersuchung aufs gründlichste geführt. Dennoch kam nichts zutage, was nicht der Detektiv schon zuvor in Erfahrung gebracht hatte. Auch Molesworths Zeugenaussage ergab nichts Neues, doch waren einige seiner Antworten immerhin bemerkenswert.

Auf die Frage, wann und wo er sich mit Fräulein Farley verlobt habe, entgegnete er würdevoll und ohne Rückhalt:

Das Fräulein hatte niemals bestimmt gesagt, daß sie mich heiraten wolle, bis ich an dem Morgen des Tages, an dem sie starb, einen Brief von ihr erhielt, der mich aufforderte, nach dem C-Hotel zu kommen, wo sie bereit sei, sich mit mir trauen zu lassen. Zeichen ihrer Zuneigung hatte ich wohl schon früher erhalten, aber, wie gesagt, noch kein Versprechen.

Sie haben ihr wohl Ihre Neigung schon seit längerer Zeit gestanden?

Am Totenbette ihrer Mutter trug ich ihr zuerst meine Hand an.

Er sprach mit verhaltenem Gefühl; ein scheues Gemurmel durchlief die Versammlung, und des Coroners Stimme klang ehrerbietig, als er die weitere Frage stellte, ob der eben erwähnte Brief noch in des Doktors Besitz sei.

Nein, lautete die Antwort, ich bewahre grundsätzlich keine Briefe auf und habe daher die Zuschriften des Fräuleins ebenfalls vernichtet.

Der ungünstige Eindruck, den dieser Umstand auf die Menge machte, schien Molesworth nicht zu bekümmern. Es waren weise Häupter genug zugegen, die solche Vorsicht durchaus lobenswert und nachahmungswürdig fanden.

Sie handelten also dieser Ihrer Gewohnheit gemäß, indem Sie auch den Zettel verbrannten, welchen Fräulein Farley bekanntlich in dem Hotel zurückgelassen. Aber vielleicht teilen Sie uns mit, was er enthielt?

Fast bloß unzusammenhängende Worte, nur ein einziger Satz war klar.

Und der lautete?

»Meine Bekannten müssen zugegen sein, das verlangt der Anstand.« Und doch hatte sie selbst die Heirat beantragt und sich bei der Unterredung, die wir am Nachmittag hielten, mit allem einverstanden erklärt, was ich in Bezug auf die Hochzeit vorzuschlagen hatte, ergänzte Molesworth.

Können Sie den Inhalt dieser Unterredung angeben?

Im allgemeinen, ja. Mildred Farley wollte als zartfühlendes Mädchen natürlich vor allem wissen, wie ich es aufgenommen, daß sie einen so entscheidenden Schritt gewagt hatte. Als ich ihr der Wahrheit gemäß mitteilen mußte, daß sie keine sehr geeignete Zeit für unsere Hochzeitsfeier gewählt habe, brach sie in Tränen aus und zeigte sich so fieberhaft erregt, daß ich sofort erkannte, sie befinde sich nicht wohl, und mich bemühte, sie zu beruhigen. Sie faßte sich auch bald wieder und hörte mir aufmerksam zu, als ich ihr auseinandersetzte, wie wir alles einrichten wollten. Auch erhob sie, wie gesagt, keinerlei Einspruch gegen meine Vorschläge.

Und wie war ihr Abschied?

Von meiner Seite liebevoll, von der ihrigen etwas gezwungen, wie mir schien. Die Krankheit steckte ihr schon in den Gliedern, das machte sie reizbar, sie fühlte sich gekränkt und verbarg es nicht. Ich hielt dies jedoch nur für eine flüchtige Verstimmung und war aufs höchste überrascht, sie bei meiner Rückkunft nicht mehr im Hotel vorzufinden.

Sie hatten die Trauung auf neun Uhr anberaumt, doch erschienen Sie schon bald nach acht mit dem Pfarrer; darf ich fragen aus welchem Grunde?

Aus Besorgnis. Je mehr ich die Sache überlegte, um so klarer wurde nur, daß bei Fräulein Farley eine ernstliche Krankheit im Anzug sei; deshalb kam ich früher zurück. Das klang alles höchst glaubwürdig, und doch war Gryce noch nicht zufriedengestellt. Er gab dem Coroner durch ein Zeichen zu verstehen, er habe noch etwas vorzubringen und schrieb einige Zeilen auf ein Papier, das er ihm zukommen ließ.

Nachdem der Beamte den Zettel gelesen, wandte er sich wieder an den Zeugen:

Waren Sie bei der bewußten Unterredung im Zimmer 153 des C-Hotel mit Fräulein Farley allein?

Ohne Frage.

Dies Zimmer ist durch Vorhänge von einem Alkoven getrennt.

Ich glaube mich an die Vorhänge zu erinnern, aber was dahinter war, habe ich nicht untersucht.

Wie können Sie dann mit Gewißheit behaupten, daß Sie allein waren?

Schnell, wie ein Blitz, fuhr ein Ausdruck des Schreckens und Entsetzens über des Doktors Gesicht. Dem Coroner entging dies nicht, so wenig wie Gryce. Dieser Blick, den er schon bei einer frühern Gelegenheit gesehen hatte, besaß für ihn mehr Beweiskraft als alle Zeugenaussagen.

Ich nahm das als selbstverständlich an, erwiderte Molesworth schon im nächsten Augenblick in völlig gelassenem Tone. Wenn Sie einen Zeugen haben, um das Gegenteil zu beweisen, rufen Sie ihn auf; er erinnert mich vielleicht noch an einige Einzelheiten der Unterredung.

Ein kühner Schachzug, aber er glückte. Es war kein Zeuge vorhanden; der Doktor sah es, die Blässe schwand aus seinem Gesicht, und ein verächtlicher Zug spielte um seine Lippen.

Das Verhör ward fortgesetzt, brachte jedoch nichts Bemerkenswertes zutage. Den Schluß bildeten noch einige Fragen ziemlich verfänglicher Natur:

Doktor Molesworth, haben Sie während Ihrer Bekanntschaft mit Fräulein Farley je Ursache gehabt anzunehmen, daß sich außer Ihnen noch ein anderer um ihre Hand bewerbe?

Dies kam unerwartet. Molesworth stutzte einen Augenblick, erwiderte dann aber mit voller Bestimmtheit:

Nein.

Leider ist durch die Erklärungen, die Sie bisher abgegeben haben, das Dunkel, welches über Fräulein Farleys Tat schwebt, nicht aufgehellt worden. Ich muß Sie daher bitten, mir zu sagen, ob Sie nichts von einer Neigung wissen, die das Fräulein etwa zu irgendeinem andern Manne gefaßt hatte.

Diesmal entgegnete der Doktor ohne Zaudern:

Mildred Farley hatte mir ihr Herz geschenkt und mir niemals Veranlassung gegeben, ihr zu mißtrauen, bis zum Augenblick ihrer Flucht.

Sind Sie je außerhalb des Hauses, welches Sie bewohnten, mit ihr zusammengetroffen?

Nein, die erwähnte Unterredung im Hotel ist die einzige, die nicht in Frau Olneys Hause stattfand.

Doch sahen Sie einander nicht häufig und nur im Beisein Dritter, wenn ich recht unterrichtet bin.

Fräulein Farley war ein unbescholtenes, alleinstehendes Mädchen; ich hätte es mir nicht verziehen, wenn sie durch allzuviele Aufmerksamkeiten meinerseits ins Gerede der Leute gekommen wäre. Meine Gefühle waren ihr nicht unbekannt, und ich wartete vertrauensvoll auf ihre Entscheidung.

So können Sie uns nicht sagen, warum das Fräulein oft bis tief in die Nacht hinein auswärts war?

Nein, aber wahrscheinlich geschah es in Geschäftsangelegenheiten. Viele ihrer Kundinnen wohnten weit entfernt in der oberen Stadt.

Können Sie die Namen derselben angeben?

Nein.

Nicht einen einzigen?

Nein, wiederholte der Doktor mit gerunzelter Stirn.

Nur noch eine Frage: Wissen Sie, wo sich Fräulein Farley während der letzten Tage aufhielt, bei wem sie zu Besuch war?

Sie hat mir darüber nichts mitgeteilt, und ich habe mich nicht danach erkundigt.

Aber, welchen Poststempel der Brief trug, den Sie am Morgen ihres Todes erhielten, werden Sie uns angeben können.

Er kam nicht mit der Post, sondern durch einen besonderen Boten des C-Hotel, wo sich das Fräulein schon befand, als sie ihn schrieb.

Damit war Doktor Molesworths Verhör zu Ende. Wie klar und bestimmt aber auch seine Antworten gelautet hatten, wie glaubwürdig seine Zeugenaussage schien, den Detektiv konnte er nicht überzeugen; dieser beharrte nach wie vor bei seinem Argwohn und wartete mit Zuversicht darauf, daß die öffentliche Bekanntmachung der Verhandlung noch weitere Aufklärung bringen werde. Aber die Tage vergingen, die gerichtliche Untersuchung ward geschlossen, das Urteil der Geschworenen verkündigt, und kein neuer Zeuge ließ sich blicken. Länger als sonst wohl geschieht, fuhren die Zeitungen fort, den Fall zu besprechen. Sie brachten auch den Abdruck eines Bildes, das in Frau Olneys Wohnzimmer von der Leiche aufgenommen worden war; ein Bild, das Mildred bei Lebzeiten darstellte, ward nicht veröffentlicht, Gryce hatte dies hauptsächlich aus Rücksicht für Doktor Kameron unterlassen, dem er schon einmal so unnütze Aufregung bereitet. Mildreds Aehnlichkeit mit Genofeva Gretorex, Kamerons jetziger Frau, war so groß, daß Gryce füglich die Photographie derselben, die noch in seinem Besitz war, hatte benützen können, er war aber viel zu feinfühlend, um sie für Mildreds Bildnis auszugeben, obgleich dadurch die Neugier des Publikums befriedigt, und sein eigener Zweck gefördert worden wäre.

Abermals verging eine Woche, aber erst die darauffolgende brachte etwas Neues, Eines Morgens ward Gryce in seiner Wohnung von einem Fremden aufgesucht, der ihm mit wichtiger, geheimnisvoller Miene einen Zettel einhändigte. Dieser war von dem Polizeiinspektor und enthielt die Worte:

»Hören Sie, was der Ueberbringer Ihnen zu sagen hat, es wird Sie interessieren.«

Gryce betrachtete den fein gekleideten jungen Herrn aufmerksam und fragte nach seinem Namen und Begehr. Er gab sich als Sohn einer alten, ehrenwerten Neuyorker Familie zu erkennen, die zur besten Gesellschaft gehörte. Sodann begann er:

Es hat vor einiger Zeit eine gerichtliche Untersuchung stattgefunden, wegen einer gewissen Mildred Farley, die an Gift gestorben ist.

Gryce nickte bejahend; er hielt den Blick fest auf seines Besuchers Uhrkette mit Petschaft und Siegelring geheftet; von der außergewöhnlichen Spannung, in welcher er sich befand, war nichts zu ahnen.

Ich habe den Bericht gelesen, fuhr der junge Herr fort. Eine der Angaben des Hauptzeugen war falsch.

Wirklich – lassen Sie doch hören!

Sie erinnern sich, daß er das junge Mädchen auf den Türstufen eines Hauses in der 22. Straße sitzen fand, sie aufhob und in den Wagen trug, wobei ihr ein Fläschchen aus der Hand fiel und auf dem Straßenpflaster zerbrach. Da nun in diesem Fläschchen das Gift, die Ursache ihres Todes, enthalten war, ist es gewiß von Wichtigkeit, genau zu erfahren, was damit vorgegangen ist.

Ohne Zweifel!

Nun, ich kann darüber Auskunft geben, da ich an Ort und Stelle war. Die Sache verhielt sich so: ich hatte dort im Hause einen Besuch gemacht und wollte mir zum Heimweg eine Zigarre anzünden. Draußen war es windig, ich stellte mich daher hinter die halboffene Haustür. Da hörte ich Rädergeroll und gleich darauf ein Klirren, wie von Glas, das auf einem Stein zerbricht. Neugierig sah ich hinaus und bemerkte einen Doktorwagen, der eben am Hause vorbeifuhr. Er hatte nicht angehalten, und niemand war von den Stufen aufgehoben worden, die Treppe war leer, davon hatte ich mich kurz vorher überzeugt. Beim Hinausgehen trat ich auf die Scherben des Fläschchens und nahm einen starten Geruch wahr, wie von bittern Mandeln.

Das ist allerdings ein merkwürdiger Umstand, versetzte Gryce; ich bin Ihnen sehr verbunden, Ihr Zeugnis wäre uns freilich noch willkommener gewesen, hätten Sie es früher abgelegt.

Ich will Ihnen sagen, warum ich dies versäumt habe, entgegnete jener offenherzig. Ich bin nicht gewohnt, mit der Polizei zu verkehren, und empfand naturgemäß große Abneigung, mich in die Angelegenheit zu mischen. So ließ ich sie auf sich beruhen. Aber ich hatte Gewissensbisse und beschloß endlich, dem Polizeiinspektor Bericht zu erstatten. Der hat mich zu Ihnen geschickt.

Also, das ist der Sachverhalt. Schon gut, nur möchte ich Sie bitten, nicht weiter davon zu reden und das Geheimnis zu wahren.

Leider geht das nicht mehr an. Ich habe bereits mit einigen Bekannten darüber gesprochen. Sie waren es gerade, die mich darauf aufmerksam machten, daß durch mein Schweigen Unheil entstehen könne. Aber von nun an will ich gegen jedermann reinen Mund halten.

Sie tun uns damit einen Gefallen, bemerkte der Detektiv. Sobald sich der Besucher entfernt hatte, begab sich Gryce zum Polizeiinspektor, mit welchem er eine längere Unterredung pflog. Noch am selben Tage suchte er Doktor Molesworth in seiner Wohnung auf und zwar zu einer Stunde, in der er gewiß sein durfte, ihn zu Hause zu treffen.

In der Tasche trug er einen Verhaftsbefehl.

Zweites Buch.


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