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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Wieviel Doktor Kameron auch schon gelitten hatte, der schwerste Augenblick für ihn kam am nächsten Morgen.

Sie hat den Arm erhoben und wieder fallen lassen, flüsterte die Wärterin, die ihm mit dem Finger auf den Lippen an der Treppe entgegentrat.

Er aber fand nicht ein Wort der Erwiderung, wankte in sein Sprechzimmer und schloß die Türe. Keine Macht der Erde hätte ihn in diesem Moment vermocht, sich Genofevas Krankenlager zu nähern. Als er das Weib mit der Botschaft auf ihn warten sah, war ihm ein Hoffnungsstrahl in die Seele gefallen, es möchte Tod sein und nicht Leben, was sie zu verkünden habe. Er fühlte in diesem Augenblick, daß sein Glauben erschüttert sei, daß er die frühere abgöttische Liebe und Verehrung für seine Gattin nicht mehr im Herzen trage.

Bald jedoch gewann der starke Mann die Herrschaft über sich selbst zurück. Vor seiner Pflicht als Arzt mußte jede persönliche Empfindung schweigen; mit kühler Ruhe und Besonnenheit betrat er das Krankenzimmer. Sein Weib lag wieder unbeweglich da, nur der Gesichtsausdruck war verändert: nicht mehr starr und leblos, sondern zart und lieblich, wie von einem aufdämmernden innigen Gefühl beseelt. Unendlich rührend sah sie aus in ihrer Hilflosigkeit; Kameron kniete an ihrem Lager nieder und betrachtete sie lange mit unverwandtem Blick. – Ließ sich solcher Frieden vereinigen mit dem Bewußtsein einer schweren Schuld? Konnte hinter dieser Engelsmiene Betrug und Falschheit lauern? – Es schien unfaßlich, und doch – war nicht ihre ganze unheimliche Geschichte eine einzige Kette von Täuschung und Unwahrheit, die jede redliche Natur mit Abscheu erfüllen mußte? – Wohl – aber jetzt handelte es sich nicht darum, ihre Schuld oder Unschuld abzuwägen; es handelte sich nur um die Kranke, um ein menschliches Wesen, das seiner Hilfe und Pflege bedurfte. Er mußte bei ihr ausharren, mußte den schwachen Lebensfunken mit aller Liebe und Sorgfalt von neuem entfachen, bis die Enttäuschung kam, und er sein Elend auch vor den Augen der Welt nicht mehr zu verbergen brauchte.

In der entferntesten Ecke des Krankenzimmers sitzend, verbrachte er die endlos langen Stunden. Er harrte und wartete mit angstvollem Herzen. Denn er wußte, daß eine Botschaft vom Polizeiamt nicht ausbleiben würde. Jetzt ward er hinabgerufen, ein Herr wünsche ihn zu sprechen. Es war Herr Gretorex, der sich nach der kranken Tochter erkundigen wollte. Kaum hatte sein Schwiegervater ihn mit bedenklicher Miene verlassen, da rauschten weibliche Gewänder durch den Vorsaal, duftende Blumenspenden wurden abgegeben, und teilnehmende Stimmen fragten nach Genofevas Befinden. Während ihr Gatte noch höflich Rede und Antwort gab, sah er plötzlich, als er den Kopf wandte, die Gestalt des Detektivs Gryce hinter sich stehen. Noch eine Verbeugung gegen die Damen, und er trat in den Vorsaal zurück.

Haben Sie Molesworth gesprochen? stieß er mühsam hervor.

Gryce blickte in seinen Hut, den er in der Hand hielt. Der Inspektor ist heute früh sehr beschäftigt, bemerkte er, ohne Kamerons Frage zu beachten. Könnten Sie wohl in sein Bureau kommen? Er wünscht, mit Ihnen zu sprechen.

Ich stehe ganz zu seinen Diensten, erwiderte der Doktor; aber es war für ihn ein Gang wie zur Hinrichtung.

Kameron hatte geglaubt, man werde ihn Molesworth gegenüberstellen; er fand jedoch den Inspektor allein.

Sie haben merkwürdige Erlebnisse gehabt, seit wir uns zuletzt sahen, bemerkte dieser. Also Molesworth hat Ihnen nichts anvertraut? Nun, mich nimmt das nicht wunder. Sie werden ihn eben nach Dingen gefragt haben, die er selbst nicht wußte. Ob Genofeva Gretorex ihrer Schwester das Gift gereicht hat, an welchem diese starb, konnte er Ihnen nicht sagen. Aber etwas anderes hätten Sie von ihm erfahren können.

Und das wäre? Kamerons Stimme bebte, als er den seltsamen Ausdruck in des Inspektors Mienen gewahrte.

Davon später, war die Antwort. Vor allem sollen Sie wissen, daß wir infolge Ihrer Mitteilungen bei unserer letzten Zusammenkunft zu der Ueberzeugung gelangt sind, daß Genofeva Gretorex an dem Todesfall, der in ihrem Zimmer stattfand, unschuldig ist; sie war nicht die Täterin, sondern das Opfer; denn die Frau, welche Sie geheiratet haben –

Er hielt inne und sah den Doktor an, welcher vor freudiger Erregung zitternd zu ihm aufschaute und rief:

Nicht aus meiner Beweisführung haben Sie diesen Schluß gezogen. Sie haben Molesworth gesprochen, und er –

Der Inspektor unterbrach ihn mit ernster Miene. Durch Molesworths Verhör ist nichts Neues zu unserer Kenntnis gekommen. Die Tatsachen, welche Sie selbst neulich anführten, Ihre eigenen Aussagen, haben Genofeva Gretorex' Unschuld bewiesen. Aber, fügte er mit einem Blick hinzu, der Kamerons Freude verstummen machte, sie haben uns zugleich die traurige Gewißheit gebracht, die ich Ihnen nicht länger verhehlen will, daß es Ihre Braut selbst war, die in jener verhängnisvollen Stunde starb, und nicht deren Stellvertreterin und Abbild. – Die Frau aber, die Sie geheiratet haben und die jetzt unter polizeilicher Aufsicht auf dem Krankenlager liegt, ist nicht die vornehme Dame, nicht die feingebildete Tochter des Herrn Gretorex, sondern die feurige, kluge und ehrgeizige Mildred Farley.


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