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Einunddreißigstes Kapitel.

Das Feuer war abgebrannt, und die empfindliche Kälte weckte Kameron endlich ans der dumpfen Betäubung, in der er zurückgeblieben war. Halb erstarrt stand er auf und schürte die Glut von neuem, bis eine behagliche Wärme ihm durch die Glieder strömte. Dann schob er die Tür etwas zur Seite, um hinauszublicken; ein heftiger Windstoß trieb ihm den Schnee ins Gesicht, und er taumelte von der Oeffnung zurück, vernahm aber zu gleicher Zeit einen halberstickten Verzweiflungsschrei, der ihm kundtat, daß einer seiner Unglücksgefährten draußen im Sturm mit dem Tode rang, vielleicht in unmittelbarer Nähe seines rettenden Armes.

Da galt kein Besinnen; in seiner Hast warf Kameron die Tür dröhnend zu Boden, riß einen Feuerbrand vom Herde und schwang das Rettungszeichen in die Dunkelheit hinaus. Schon im nächsten Augenblick hatten Schnee und Wind es ausgelöscht, aber nicht bevor es dem Verirrten den Weg gewiesen. Atemlos und keuchend kam ein Mann durch die Oeffnung gestürzt und fiel, keines Wortes mächtig, auf die vom hereinwehenden Schnee bedeckte Erde.

Kameron leistete ihm sofort die nötige Hilfe, wie es Molesworth für ihn getan. Nachdem er die Türöffnung wieder geschlossen, schleppte er den Mann zum Feuer und versuchte mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, ihn wieder zu sich zu bringen. Bald gewahrte er denn auch zu seiner Genugtuung, daß die zwar schmächtigen, aber kraftvollen Glieder sich neu zu beleben begannen und ein deutliches »Ich danke Ihnen« sich vernehmen ließ. Er schrak zusammen, die Stimme kam ihm bekannt vor.

Rasch beugte er sich nieder und blickte dem Geretteten ins Gesicht. Zu seinem großen Erstaunen erkannte er in ihm den Hausierer, dessen Gegenwart ihm schon in den letzten Tagen wiederholt lästig gefallen war.

Ein schlauer Zug um Augen und Mund, der Kameron früher nicht aufgefallen war, verriet ihm aber zugleich noch eine andere Tatsache. Wie ein Blitz fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, der Mensch habe wohl nur deshalb seinen Weg so oft gekreuzt, weil er dazu bestellt war, ihm zu folgen.

Sie find ein Geheimpolizist, nicht wahr? fragte er, so kaltblütig er vermochte.

Zu dienen, gestand der andere, indem er sich erhob und dabei so kräftig auftrat, daß die Hinfälligkeit, die er vordem zur Schau getragen, plötzlich verschwunden war. Wie freut es mich, Sie gerettet zu sehen. Solchen Sturm habe ich noch nie erlebt, ich glaubte schon, es wäre mit uns allen Matthäi am letzten.

Kameron erwiderte kein Wort; er dachte an den Flüchtling oben, der nicht ahnen konnte, was für ein gefährlicher Kamerad in ihren Schlupfwinkel eingedrungen war.

Hier ist's zum Glück ganz behaglich; drüben am Herde liegt noch ein Haufen Holz, und ein Bissen Brot wird sich doch auch auftreiben lassen.

Halt! rief der Doktor, da jener im Gefühl der neuen Lebenskraft nicht übel Lust zeigte, den Ort, an welchem sie sich befanden, einer genauen Durchforschung zu unterziehen, wobei er unfehlbar die Leiter entdeckt hätte, halt! Erst beantworten Sie mir gefälligst ein paar Fragen. Zuvörderst: wie kommen Sie hieher? Ich ließ Sie doch in Sinton zurück.

Ja, aber ich nahm Anteil an Ihnen und zog deshalb vor, in Ihrer Nähe zu bleiben. Unsereins läßt man nicht so leicht zurück. Ich schlief im selben Gasthaus mit Ihnen und fuhr mit dem gleichen Zuge ab. Wir haben einen harten Strauß bestanden, aber das ist glücklich vorbei und verdrießt mich nicht weiter.

Kameron musterte ihn mit ernsten Blicken. Sie kommen aus Neuyork, sagte er, und sind meinen Schritten gefolgt, seitdem ich die Stadt verließ?

So gut es ging. Aber das hat nichts auf sich, solange es in freundlicher Absicht geschieht. Sie werden mir bezeugen, daß ich bei meinen kleinen Aufmerksamkeiten nie die schuldige Achtung verletzt habe.

Doch möchte ich mir gerade über Ihre Absichten etwas nähere Aufklärung ausbitten. Hat die Polizei Sie mir als Spion nachgeschickt, oder sollen Sie mich in meinen Bemühungen unterstützen, Doktor Molesworth aufzufinden?

Das können Sie noch fragen nach allem was geschehen ist? Wären Sie ohne meinen Beistand dem Bösewicht je auf die Spur gekommen? Und wenn auch, hätte man Sie nicht für einen Polizeispion gehalten und mit Mißtrauen betrachtet? Es war zwar nur wenig, was ich für Sie tun konnte, aber doch genug, um Ihnen zu beweisen, daß ich hier bin, um Ihre Zwecke zu fördern. Nur der Sturm ist schuld daran, daß uns der Flüchtling entkommen ist. – Aber, zum Kuckuck, in was für eine Spelunke sind wir denn eigentlich hier geraten? Diese Pfeiler, der Tisch, die Bank, die Tierfelle – man glaubt sich in eine Höhle versetzt, nur der Feuerherd paßt nicht recht dazu.

Jedenfalls haben wir hier Zuflucht gefunden und Obdach für die Nacht, rief Kameron, der des andern Blicke neugierig zur Decke hinaufgerichtet sah, mehr brauchen wir nicht zu wissen. Mir scheint, wir sind im Untergeschoß eines Hauses, und wir wollen nur hoffen, daß der Eigentümer nicht zum Vorschein kommt und uns unserer Wege weist.

Wer soll nur kommen, ich fürchte mich nicht. Wüßte ich nur, wo er seine Vorräte verwahrt!

Wir täten besser, daran zu denken, ob nicht noch andere verirrte Wanderer in Todesnot draußen sind und unserer Hilfe bedürfen, entgegnete der Doktor in dem unbestimmten Gefühl, daß ein solcher Zuwachs erwünscht sein könne. War denn niemand in Ihrer Nähe, als ich Sie rufen hörte? Wir waren doch mindestens unser zwölf, als wir aufbrachen.

Jeder ist sich selbst der Nächste in solcher Not. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Ich hatte sogar Ihre Spur verloren. Aber wo ist denn Ihr Gefährte?

Mein Gefährte? –

Da liegt ja noch ein Ueberzieher. Sie haben doch nicht zwei angehabt?

Kameron sah sich betroffen um; auf dem Boden lag noch das Kleidungsstück, mit welchem Molesworth ihn auf dem Lager zugedeckt hatte. Das Wort blieb ihm fast in der Kehle stecken, und er mußte selbst über die scheinbare Sorglosigkeit staunen, mit der er erwiderte:

Es ist noch einer hier, einer der Reisenden, der sich mit mir durchgeschlagen hat. Er ist hinaufgegangen, da muß wohl noch eine Art Zimmer sein.

Haben Sie es nicht untersucht? – Wenn man in solchem Nest steckt, muß man sich doch darin umsehen. Wo ist denn die Treppe?

Was weiß ich und was kümmert's mich? Ich lasse mir an dem genügen, was die Götter mir beschert haben.

Sie sind freilich nicht »Q., der Neugierige«, lachte der andere. Wenn ich auch nur fünf Minuten an einem Orte bin, muß ich ihn von oben bis unten durchstöbern. Das gehört zu meinem Geschäft, ja, mehr als das: es liegt in meiner Natur.

Q.? fragte der Doktor zerstreut.

So heiße ich; eine Abkürzung des lateinischen » Quaesitur«; ich bin ein lebendiges Fragezeichen.

Kameron war ein solcher Mensch noch nicht vorgekommen, er sah ein, daß er gegen ihn nichts werde ausrichten können.

Ihr Name ist wunderlich, und Ihre Naturanlage wenig beneidenswert, bemerkte er, aber das geht mich nichts an. Wahrscheinlich ist sie Ihnen in Ihrem Beruf sehr nützlich.

Ja, da treffen Sie den Nagel auf den Kopf. Mich als Geheimpolizist auszuzeichnen, ist mein höchstes Streben. Wenn Herr Gryce einst alt und schwach wird, hoffe ich ihn zu ersetzen. Man hält das nicht für unmöglich. – Jetzt aber bin ich darauf aus, uns ein Abendessen zu verschaffen; hier unten ist nichts zu holen, das ließt auf der Hand, ich muß einmal mein Glück im oberen Stockwerk versuchen.

Er würde sich sicherlich dahin begeben haben, und Kameron hätte ihn nicht zurückhalten können, ohne seinen Argwohn zu erregen, wenn nicht in diesem Augenblick der Ruf erschallt wäre:

Hurrah, die Hütte des alten Harper!

Zugleich erfolgte ein heftiger Anprall gegen die Türe. Sie polterte auf den Boden, und drei Männer stürzten, vom heulenden Wind getrieben, gleich Wahnsinnigen in den innern Raum.

Dieser unerwartete Ueberfall fesselte für den Augenblick die Aufmerksamkeit des Geheimpolizisten, was für Kameron von größter Wichtigkeit war, da er bereits ernstliche Besorgnis zu hegen begann. Die allgemeine Aufregung benutzend, schlich er sich leise davon und stieg, ohne bemerkt zu werden, in jene dunkle Region hinauf, wo Molesworth vorhin verschwunden war. Des Flüchtlings Namen und Persönlichkeit vor Entdeckung zu schützen, hielt Kameron jetzt für seine wichtigste Aufgabe.


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