August Wilhelm Grube
Geographische Charakterbilder. Erster Teil. Arktis – Europa
August Wilhelm Grube

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[Vorworte]

Vorwort zur ersten Auflage.

Wie der eigentliche Wert und die Bedeutung der als Wissenschaft wiedergeborenen Geographie darin besteht, daß sie die Erde als ein Organ des Menschenlebens kennen lehrt, das die menschliche Wirksamkeit ebenso bedingt, wie es von dieser bedingt wird: so besteht der eigentliche geistige Gewinn, den unsere Schüler aus dem geographischen Unterrichte ziehen sollen, darin, daß sie einen Blick bekommen für die Wechselwirkung des Erd- und Menschenlebens und in dieser Anschauung ihr eigenes Weltbewußtsein entwickeln. Dieses Ziel kann aber nur dann erreicht werden, wenn wir die Fundamente des geographischen Lehrganges so anlegen, daß sie alle auf ihre gemeinsame Spitze, die Kulturgeographie, die Richtung bekommen, daß die einzelnen Teile des geographischen Lehrstoffes hierin ihren Mittelpunkt, ihre vereinende und belebende Seele finden. Dies ist nun freilich leicht gesagt, doch schwer zu machen. Die Volksschule und das Jugendalter bis zum 14. Jahre überhaupt bewegt sich auf der psychologischen Stufe der Anschauung, und da ist es unmöglich, die Gesetze der Wechselbeziehung zwischen Natur und Mensch in wissenschaftlicher Allgemeinheit als solche – etwa wie sie Kohl in seinem Buche: »Über den Verkehr und die Ansiedlungen der Menschen« zusammengestellt hat – zum Bewußtsein zu bringen, so gründlich auch zuvor die mathematische, physikalische und was man politische Geographie nennt, die Hilfswissenschaften der Geschichte, Naturkunde usw. absolviert sein mögen. Wir werden so lange vergebens danach ringen, jene oberste Spitze des geographischen Lehrgebäudes zu erreichen, als es an geographischen Charakterbildern fehlt, welche das Menschenleben mit seiner Sitte, Geselligkeit, Religion, Staatsverfassung im Reflex des Grundes und Bodens, auf dem es erwachsen, des Klimas, in dem es sich bewegt, der Tier- und Pflanzenwelt, die es umgibt, vor die Anschauung stellen, und auf konkretem Wege das geographische Gesetz zur Darstellung bringen. Diese »Charakterbilder« müssen einerseits ganz individuelle, für sich abgerundete Einzelbilder sein, und andererseits in einem inneren Zusammenhange zu dem Lehrgange stehen, indem sie geographische Hauptexistenzen zum Vorwurf nehmen, typisch in dem Besonderen das Allgemeine darstellen, also Gattungsbilder sind. Die menschliche Kultur in der Polar- wie in der tropischen Zone, in ihrem Embryo bei dem Australneger wie auf ihrem Gipfel europäischer Zivilisation, in der nordamerikanischen Ansiedlung und in der englischen Weltstadt usw. prägnant und lebendig zu schildern, das ist ihr Zweck, und sie unterscheiden sich dadurch von den bloßen »Landschaftsbildern«, die schon in früheren Kursen (bei der sogenannten physikalischen Geographie) herangezogen werden können, daß sie auf jedes Landschaftsbild den Menschen stellen, der, im Vordergrund stehend, den Hintergrund erklärt und verständlich macht und zugleich von demselben die Beleuchtung und das Relief empfängt. Eben darum aber, weil sie den Menschen und die Natur in ihrer Einheit auffassen, müssen Naturkunde und Naturlehre, welche überwiegend auf das Physische den Ton legen und als Elemente der physikalischen Geographie behandelt werden müssen, sowie die Geschichte, welche die Kulturstufen der Menschheit im Nacheinander der Zeit anschaulich macht und überwiegend auf das Ethische den Ton legt, vorhergegangen sein – sie bilden die einzelnen Momente, welche die Kulturgeographie als der letzte Kurs in eins zusammenfaßt. Darum haben die Kulturbilder auch eine tüchtige Vaterlandskunde zur Voraussetzung, und die Zeit wird hoffentlich nicht mehr fern sein, wo ein Vaterländisches Lesebuch in keiner Volksschule fehlen wird.

Da meine »Charakterbilder« einen gründlichen geographischen Unterricht fordern und methodisch gewandte Lehrer voraussetzen, so brauche ich wohl kaum bemerklich zu machen, daß nicht mit den komplizierten Kulturverhältnissen Europas der Anfang gemacht werden darf, sondern mit den einfachsten einer Polarzone, einer Wüstennatur, einer Steppe, wo das Wechselverhältnis zwischen Boden, Pflanze, Tier und Mensch leicht in die Augen springt. Wenn ich Verwandtes zusammenstellend doch im allgemeinen den Rahmen der Erdteile beibehalten habe, so mag man das entschuldigen, da diese Anordnung das Aufsuchen des jedesmal Notwendigen nicht eben erschweren wird. Indem ich viel entschiedener die ästhetische Rücksicht verfolgt habe, als es bisher in ähnlichen Werken geschehen, so habe ich auch überall ein in sich vollendetes, abgeschlossenes Gemälde – nicht bloße Exzerpte – aufgestellt. Dabei habe ich aber soviel als möglich die lebendige Schilderung des Reisenden unverändert gelassen, da jede Darstellung um so eingreifender wirkt, als sie von der lebendigen Persönlichkeit getragen wird. Daß ich überall bedeutende Persönlichkeiten herangezogen, solche, die mit wahrhaft historisch-geographischem Sinne geschrieben, und daß ich nur klassische Darstellungen ausgewählt habe, das hielt ich für eine der Hauptrücksichten, die ich beim Entwurf der Arbeit nehmen mußte. Daß ich auch aus der fremden Literatur Wertvolles benutzt habe, namentlich aus der englischen und französischen, die an charakteristischen gelungenen Reiseskizzen sehr reich sind, wird man gewiß billigen. Wo mir die Übersetzung nicht genügte, habe ich mit besonderer Rücksicht auf die ästhetische Abrundung von neuem übersetzt, zugesetzt, weggelassen, anders gruppiert, wie es der Zweck des Buches erheischte. Je weniger dabei meine Arbeit auffällt, desto lieber soll es mir sein.

Man wird vielleicht schon nach zwei Dezennien wunderbar finden, wie es »einst« möglich war, daß vierzehnjährige Schüler wohl die Namen russischer Flüsse und Provinzen aufzuzählen wußten, aber von der russischen Kirche und dem griechischen Ritus kein Wort gehört hatten, und wie der geographische Unterricht wohl die Namen sämtlicher Residenzstädte auf dem weiten Erdenrund dem Gedächtnis einprägte, aber das Wesen und die Bedeutung auch nicht einer zur Anschauung brachte. Es ist indes hohe Zeit, daß die Errungenschaften, welche die Wissenschaft durch den Genius Karl Ritters gewonnen, auch den niederen Schulkreisen zugute kommen. Dies wird mit Erfolg aber erst dann geschehen, wenn wir, über die abstrakte Scheidung des geographischen Lehrstoffes in topische, physikalische und politische Geographie hinausgehend, die lebendige Einheit der Kulturgeographie zu gewinnen trachten.

In der Hoffnung, mit dieser Arbeit einen nicht unwichtigen Beitrag zu der Methodik des weltkundlichen Unterrichts geliefert zu haben, und im Bewußtsein der Schwierigkeit einer Aufgabe, die auf einem noch wenig betretenen Felde gelöst werden mußte, empfehle ich meine »Charakterbilder« den Freunden der Geographie zur gütigen Aufnahme, wie den sachverständigen Methodikern zur nachsichtsvollen Beurteilung.

Hard bei Bregenz, im Januar 1850.

A. W. Grube.

 

Vorwort zur zwanzigsten Auflage.

Das Vorwort August Wilhelm Grubes (1816–1884) verleugnet nicht den Einfluß Harnischs, seines Seminardirektors in Weißenfels, der den Basedowschen Konzentrationsgedanken einer Weltkunde aufgenommen hatte, die Geschichte und Naturkunde in sich vereinigte (1827), die den Realunterricht auf der Oberstufe der Volksschule zu einer Einheit verschmelzen sollte. Dieser Gedanke erwuchs aus der Tatsache, daß die Geographie als Wissenschaft zu den Natur- und Geisteswissenschaften reiche Beziehungen unterhält, er barg aber die Gefahr in sich, daß die Schulgeographie ihre Selbständigkeit einbüßte und als Weltkunde sich im blauen Dunst der Allgemeinheit verflüchtigte. Dieser vorwiegend pädagogische Gesichtspunkt mußte als überholt bei einer Neubearbeitung fallen gelassen werden.

Geographisch ließ sich Grube von Karl Ritters Anschauungen leiten: seine Charakterbilder sollten den Blick vergleichend richten auf die Zusammenhänge von Erde und Leben, besonders Bodengestalt, Klima und Menschengeschichte. Und dieser Gedanke ist auch heute noch lebendig, – doch so lebendig, daß er gewachsen ist und andere Gestalt angenommen hat. Denn Ritter (und damit Grube) betrachteten die Geographie wesentlich als deduktive Wissenschaft, die zu erweisen habe, daß die Erde das Erziehungsheim der Menschheit sei, in dem sie ihrer göttlichen Bestimmung entgegenreife. Die heutige Geographie ist über Peschel, v. Richthofen nach der naturwissenschaftlichen, über Ratzel nach der mehr ins politische und wirtschaftliche Leben eingreifenden, geschichtlichen Seite eine induktive Wissenschaft geworden ihrem Forschungswege nach, die Tatsachen sammelt, sichtet und daraus erst ihre Schlüsse zieht.

So konnte Grube zu der ihm eigenen Forderung der Charakterbilder kommen, das sind »Gattungsbilder der menschlichen Kultur aller Stufen«, wie sie sich durch die Verschiedenheit der geographischen Bedingungen herausgebildet haben. Es waren »abgerundete Gemälde, in deren Vordergrund der Mensch stand und den Hintergrund erklärte, während er zugleich von demselben die Beleuchtung und das Relief empfängt«. Es waren eben Bilder – denen nur insofern Leben zukam, als sie sich des Mittels des lebendigen Wortes bedienten, es haftete ihnen noch sehr die Auffassung der Geographie als Erdbeschreibung an. Wir verlangen heutzutage Schilderungen, die in den Landschaften der Erde, in der Formenwelt des Erdbodens, wie in der Welt des Wassers und der Luft, die auch in der Lebewelt ein Gewordenes und ein Werdendes sehen. Der Entwicklungsgedanke ist es, der aus dem Bilde, der Beschreibung, eine Schilderung macht. Damit mußte die anthropozentrische Enge der Anschauung Grubes gesprengt, es mußten Schilderungen auch von Naturlandschaften als geographischer Charaktere aufgenommen werden, in denen die menschliche Kultur noch zurücktritt. Denn gerade sie wirken auf Sinn und Geist des Menschen am stärksten, weil in ihnen die unberührte Schönheit der noch ungebändigten Natur zu uns redet, und doch aus ihnen zugleich die Forderung heraus klingt: Füllet die Erde und macht sie euch untertan! Die Schilderung der Völker und ihrer Kulturverhältnisse ist eine Aufgabe der Ethnographie. Sie konnte in der neuen Auflage um so eher zurücktreten, als der Verlag ihr in dem Sammelwerk von Leo Frobenius, Geographische Kulturkunde – eine eigne Stätte geschaffen hat.

Ich wollte in diesem Sinne Grubes Charakterbilder zu einer Sammlung guter erdkundlicher Schilderungen aus allen Teilen der Erde machen. Der Form nach sind es Reiseschilderungen, entnommen den Werken unserer besten Forscher, sie tragen die frische Stimmung des Erlebten in sich, sie zeigen die Mühsal und die Erfolge der Entschleierung des Erdantlitzes, sie packen durch das persönliche Gepräge. Es sind auch Landschaftsschilderungen, die nach der wissenschaftlichen Erarbeitung der erdgeschichtlichen und klimatischen Grundlagen eines Erdstrichs seine Erscheinungen danach gruppierten und zusammenfassend in knapper Darstellung wieder aufbauten; hieran fehlt es in unserer neuen Literatur freilich sehr, besonders für Europa, obwohl hier durch Geographen, wie Passarge, Wegener und andere schon wieder gute Anfänge da sind. In vielen Fällen aber war ich noch auf die ältere Literatur angewiesen, die ich nur überarbeiten konnte, um Fehler auszuscheiden und Übersehenes nachzutragen. Endlich finden sich auch Stimmungsschilderungen, die den rein menschlichen Eindruck einer fremdartigen Natur festzuhalten suchten, die also mehr künstlerischen als geographisch-wissenschaftlichen Charakter tragen. Es liegt in der ganzen Art dieses Werkes, daß es aus den Werken von Forschern, Gelehrten, Künstlern Anleihen machen mußte – ich ließ es mir angelegen sein, mich diesen Mitarbeitern gegenüber wenigstens insofern dankbar zu erweisen, als ich auf möglichst genaue Quellenangabe hielt. Dem Buche sind eine Anzahl malerischer und photographischer »Charakterbilder« beigegeben worden, die der lebendigen Anschauung dort weiterhelfen sollen, wo das schildernde Wort mit seiner Kraft nicht ausreicht, aus allen Winkeln der Vorstellungswelt die schaffenden Geister heranzurufen, mit Lust ein Innenbild zu schaffen, dem gleich, das der Schilderer mit leiblichem Auge draußen sah in all seinem Leben und Weben. Auch in diesem Bilderschmuck zeigt das Buch, daß es nicht nur wissenschaftliche Erdkunde vermitteln, sondern auch künstlerisch die Schönheit der Erde künden will allen, die ihre Erdheimat lieben. Möge das Buch auf der Oberstufe des erdkundlichen Unterrichts, wo der Lehrer voraussetzen kann, daß die Schüler einer Schilderung zu folgen vermögen, weil sich mit jedem Wort eine Fülle anschaulicher Vorstellungen bei ihnen bildet, sich als wertvoll erweisen; mögen Grubes Charakterbilder auch im neuen Gewand ein Lieblingsbuch unserer Jugend sein, ein Buch, das in ihr die Lust am beobachtenden Wandern und Reisen, der besten Methode des geographischen Unterrichts, anregt, ein Buch, an dessen Hand sie auch in spätern Jahren noch gern Gedankenreisen in alle Welt macht.

Endlich noch ein Wort über die äußere Einteilung des Werkes: Der vorliegende erste Band enthält Schilderungen aus der Arktis, aus Europa und Afrika, der zweite soll Nord- und Südamerika, Asien und Australien und die Antarktis, der dritte das deutsche Vaterland in »Charakterbildern« schildern. Daß dabei auch die Meere berücksichtigt werden, zeigt schon der erste Band. Grube hatte seiner Einteilung einen pädagogischen Gesichtspunkt zugrunde gelegt: den der psychologischen Nähe – er begann »mit den einfachsten Kulturverhältnissen der Polarzone« und stieg auf »bis zu den komplizierten Europas«. Ich habe bei der weiteren Auffassung des Begriffs »Geographisches Charakterbild« die räumliche Gliederung Ratzels nach 6 Erdteilen – je 3 Nord- und 3 Süderdteilen – vorgezogen. Der Plan des Ganzen ist also folgender:

  1. Band: Arktis, Europa, Afrika.
  2. Band: Nordamerika, Südamerika, Asien, Australien (Ozeanien), Antarktis.
  3. Band: Deutschland.

Innerhalb dieser Ordnung sind die Bilder wiederum räumlich zu Gruppen zusammengefaßt, obwohl hier die Abgrenzung und Bezeichnung manchmal schwierig war – lediglich zur bessern Übersicht. Grubes Gliederung erschwerte das Aufsuchen, zudem war sie durch die wiederholte Bearbeitung, durch Hinzufügungen fast nicht mehr zu erkennen. Sie läßt sich auch pädagogisch nicht halten, weil das räumlich Ferne nicht das psychologisch Nächste sein kann. Dem Schlußwunsche Grubes in seinem Vorwort zur ersten Auflage schließe ich mich bei der Herausgabe der zwanzigsten von Herzen an.

Bautzen, im Oktober 1906.

Dr. Hans Stübler.

 

Zur zweiundzwanzigsten Auflage.

Am 16. Dezember 1916 – mitten im schweren Ringen Deutschlands um sein Dasein – konnten wir den hundertsten Geburtstag August Wilhelm Grubes feiern. Schulinspektor Oppermann-Braunschweig widmete ihm im 2. Heft des Geographischen Anzeigers (Gotha-Perthes) ein Wort des Gedankens, auf das hier verwiesen sei. Die neue Auflage ist ein durch die Ungunst der Zeit verspätetes Geburtstagsgeschenk zu jenem Gedenktage. Sie ist wiederum erweitert und durchgearbeitet und kommt, soweit sie die außerdeutschen Länder behandelt, in drei handlicheren Bänden heraus, die aber die alte, seit der 20. Auflage bewährte, oben dargestellte und begründete Einteilung des ganzen Stoffgebietes beibehält. Es entfallen nun auf den

  1. Band: Arktis und Europa,
  2. Band: Afrika und beide Amerika,
  3. Band: Asien, Australien (Ozeanien) und Antarktis.

Den Veränderungen der Weltlage ist Rechnung getragen, aber es konnte nicht die Absicht des Herausgebers sein, zu verleugnen, was Deutschland in der Welt geleistet hat: Wahrheit bleibt Wahrheit, und Recht muß Recht bleiben, wenigstens im deutschen Gewissen!

Bautzen, im März 1921.

Dr. Hans Stübler.


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