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11. In der südrussischen Steppe. – 12. Herden und Hirten in der Steppe. – 13. Kiew, das russische Jerusalem. – 14. Unter Deutschen an der Wolga.
Nach J. G. Kohl, a. a. O. Von Odessa nach Nordost entlang dem pontischen Gestade mit seinen eigentümlichen Limanen, einem Mitteldinge zwischen einer Trichtermündung und einem Haff, bis zum Ural zieht der südrussische Steppengürtel sich hin, durchbrochen vom Unterlauf des Donez, Don, der Wolga, des Ural, des Kuban u. a., übergehend in die asiatische Kirgisensteppe. Zwischen der Krim mit ihrem mittelmeerischen Klima, ihren immergrünen Laubhölzern und dem mittelrussischen Wald- und Schwarzerdegürtel liegt er mitteninne. Wie kommt es nun, daß derselbe schwarze Kornboden oder Tschernosem von Kischinew, Kiew, Charkow und Kursk zwischen dem 45. und 50. Grad n. Br. nur eine Steppenflora, nur Gesträuch und Stauden, nur Gräser, durchschossen von Tulpen, Krokus und Hyazinthen, zeitigt? Die Isothermen-, Niederschlags- und Windkarte gibt die Antwort auf diese Fragen. Jener Steppengürtel Rußlands gehört trotz seiner nördlichen Lage und trotz der Schneestürme des Winters schon zum subtropischen Gebiete unseres Erdteils. Jener Streifen Landes nördlich vom pontischen Gestade hat einen 5-6 Monate währenden Winter, in welchem der sibirische Nordost den Schnee über die Ebene fegt, einen Winter, der, da ihm die gleichmäßig verteilte Schneedecke mangelt, seine schädigenden Einwirkungen tief in den Boden hinein äußert und daher den immergrünen Wäldern Südeuropas mit ihrer zarten Natur das Lebenslicht ausbläst. Ihm folgt nach kurzer Übergangsjahreszeit ein drückend heißer Sommer, der das Pflanzenleben rasch entwickelt, der jedoch an großer Trockenheit leidet, so daß der Boden klaffend aufbirst. Beträgt doch die Regenhöhe jener Gebiete kaum 20-30 cm. Und wie der Winter die südeuropäische Flora erstarren läßt, so läßt der dürre Sommer die kräftigeren Baumgestalten und Getreidegräser des Nordens verdursten.
Die tiefen Täler und Regenschluchten führen bezüglich des Klimas die schneidendsten Gegensätze herbei. Im Winter, wenn auf der Steppe die alles Leben tötenden Unwetter wüten, sind sie ruhiger und wärmer als Keller. Im Sommer gleichen sie glühenden Backöfen, in denen die Sonnenstrahlen an den schroffen Wänden sich brechen und die Luft bis auf einen kaum erträglichen Grad erhitzen, derart, daß die trockene Erde meterlang klafft und aufreißt. Im Frühling weht auf der hohen Steppe oft noch ein schneidend kalter Wind, während in den Talschluchten schon die Sonne lieblich wärmt. Des Abends jedoch kühlt sich die Luft in den BalkisName für die Täler. sehr rasch ab, so daß, während es auf der hohen Steppe noch bis spät in die Nacht hinein warm bleibt, in den Schluchten und Tälern alsbald ein kalter Tau niederfällt, sobald der Sonnenschein darin verschwindet.
So scharf der Gegensatz zwischen der hohen Steppe und ihren Einschnitten ist, so auffallend ist auch die klimatische Verschiedenheit zwischen dem Steppenrande und dem Meere. Wir sahen im Mai und Juni 1838 wenigstens zwanzig Gewitter auf der Steppenplatte aufsteigen, die sich nach allen Seiten darüber verbreiteten bis zu dem Steppenrande, aber nicht auf das Meer hinausgingen, derart, daß die Nereïden im sonnigsten Himmelsblau schwammen, während Zeus auf der hohen Steppenfläche donnerte und blitzte. Umgekehrt sahen wir oft das ganze Meer in Wolken gehüllt und nicht weit vom Steppenrande den Regen ins Wasser fallen, während die Viehherden auf dem trockenen Lande dürres Gras rupfen mußten. Oft dauerte es halbe Tage lang, bis die Grenze überschritten wurde und die Meeres- mit der Landluft sich ausglich. Am größten ist diese Verschiedenheit im Sommer, wenn die Steppe verbrannt und ihre Luftschichten aufs äußerste erhitzt sind. Dann kommen die Gewitter, welche im Meere aufsteigen, nie auf die Steppe; und die Wolken, welche auf dem Lande sich zusammenziehen und ihre vollen Brüste hoffnungsvoll tief zu den schmachtenden Kräutern und Herden herabhängen lassen, werden von der grausamen Steppe nicht angenommen, indem die heiße Steppenluft, in senkrechtem Winde von unten nach oben aufsteigend, sie schwebend erhält, so daß sie auf das Meer hinabgleiten. Vergebens hofft der Gutsbesitzer auf seine großen von ihm angelegten Teiche, daß ihre Wasserfläche die in den Lüften schwebende Feuchtigkeit herablocken möchte; vergebens schöpft der kleinrussische Bewohner seine Brunnen leer und schüttet alles Wasser weit und breit im Grase umher, Gott anflehend, daß er Gleiches zu Gleichem gesellen wolle – aber gegen diese Bitten schreien die großen erhitzten Steppenflächen ihr unbarmherziges Nein.
Der Steppenwinter ist sehr lang und rauh, besonders furchtbar durch seine Schneegestöber. Der Russe unterscheidet sehr genau drei Arten: die Mjatjols, Samets und Wjugas. Unter »Mjatjols« versteht man die gewöhnlichen Schneegestöber, bei denen der Schnee aus einer vorüberwandelnden Wolke herniederfällt, unter »Samet« aber das Schneejagen, wobei von heftigen Winden der Schnee von der Erde gehoben und flüchtig über die Gefilde hingefegt wird.
Mit dem Namen »Wjuga« bezeichnen die Russen die schlimmste und gefährlichste Art des Schneegestöbers, wo bei großer Kälte und ungemein heftigem Sturm der Schnee sowohl von oben herab als von unten herauf getrieben wird. Bei diesen Wjugen verschwinden in den Steppen alle Wege und Stege. Himmel und Erde sind in dreitägigem Aufruhr, aller Verkehr hat ein Ende. Daß in den wald-, dach- und fachlosen Steppen ein solcher Luftaufruhr Menschen und Tieren sehr gefährlich wird, kann man sich denken.
Es gibt in diesen Gegenden (auch abgesehen davon, daß ein geringer Grad von Kälte im allgemeinen empfindlicher ist als im waldigen Norden) so harte Winter, wie man sie an der Küste kaum kennt. Sechs Monate hüllen sich, zur großen Verwunderung des Nordländers, die Steppenbewohner in Pelze, und in Odessa werden nicht viel weniger Pelze abgesetzt als in Riga. Ja, der Schafpelz des gemeinen Mannes wird sogar das ganze Jahr hindurch nicht beiseite gelegt und ist noch bis zum Juni bei der Hand, wo die Tage zuweilen schon sehr heiß sind.
Die Schneemassen, die im Winter auf die Steppen herabfallen, sind im Vergleich zu denen des Nordens gering, und dabei werden sie auch noch sehr schlecht verteilt, indem aller Schnee sich in den Vertiefungen anhäuft, so daß er hier oft 10-12 m tief liegt, während auf der flachen Steppe nichts bleibt.
Die Natur schläft in den Steppen einen so langen Winterschlaf, daß man im Frühling wohl ein freundlicheres Erwachen erwarten könnte, als man im April und Mai zu sehen bekommt. Der Steppenfrühling beginnt mit der schmutzigen Zeit der Schneeschmelze, und wenn die Steppe oft monatelang kein Tröpfchen Wasser an sich zieht und meilenweit nicht die geringste Quelle aus dem prasseldürren Boden entläßt, so strömt im Beginn des Frühlings das unruhige Element überall, wo man es wünscht und nicht wünscht. Die ganze Steppe geht auf, und ihre Oberfläche, wo nicht der dickste und älteste Rasen sie festigt, verwandelt sich in einen schwarzen, schwammigen Brei, so daß es dem Menschen unmöglich ist, seinen Fuß irgendwo hinzusetzen. Von allen Rücken und in allen Schluchten und Tälern brausen die schmutzigsten Ströme des widerlichsten Wassers. In den Wohnorten der Menschen, wo in den Straßen ebensolche wilde Ströme und Wasserfälle geräuschvoll arbeiten, wird der greulichste Unrat, den die Schneedecke lieblich verbarg, enthüllt und durch die Wege geführt. In dieser Zeit gehen die Hauptveränderungen der Bodenoberfläche der Steppen vor sich. Regenschluchten werden oft in einer Nacht bis zu Klaftertiefe aufgerissen. Senkungen der Küste am Meere finden nun vorzüglich statt, so wie auch Abtragungen und Verflözungen der oberen Decke der Fruchterde, die so bedeutend sind, daß in einigen Tagen lange Talstrecken mit einer mehrere Meter dicken Erdschicht bedeckt sind.
Hat sich der Frühling endlich durchgearbeitet zu den schönen Tagen des Mai, so erscheint die Steppe wie eine grüne Oase zwischen den Schneeflächen des Winters und den Graswüsten des Sommers. Sie steht dann voll grüner Gräser; auch Tulpen, Hyazinthen, Krokus und Schneeglöckchen erheben ihre freundlichen Blütenkronen. Aber doch, welch ein mongolischer Frühling ist so ein Steppenfrühling im Vergleich mit einem deutschen oder französischen! Zwar ist Grün eine schöne, wohlgefällige Farbe. Aber wie wird man gesättigt mit Grün und Gras bei einer Reise durch das Reich des Steppenfrühlings, und wie verschwinden in dieser Einförmigkeit die farbigen Blumen! Und der grüne Mantel, den die Steppe anzieht, wie ist er so grob geworden, wenn man ihn näher betrachtet! Nur von der Höhe des Kaleschensitzes herab findet man diese Blumen schön. Wenn man sich aber freundlich ihnen naht, so muß man über das harte und schlechte Gewebe des Teppichs klagen. Ja, hätte man Alpenwiesen oder nur den Rasen des Oden- und Schwarzwaldes, oder den Kunstrasen des britischen Eilandes! Aber an dergleichen darf man bei der Steppe nicht denken, wo alle Kräuter groß, grob und strunkig sind und dabei sehr locker und gar nicht dicht beieinander stehen.
Wenn der Frühling schon so wenig Behagen bringt, so ist der Sommer ganz und gar unerquicklich und ohne allen Reiz. Der erhitzte Boden klafft überall auf und schreit vergebens nach der Labung des Regens. Die Juliwolken und Gewitter lassen keinen Tropfen entschlüpfen, blitzen aber und donnern unaufhörlich über den Köpfen der durstigen Tiere und Menschen.
Die Sonne geht in dieser heißen Zeit meist feuerrot auf und unter, und um Mittag ist der Himmel ganz bleich; denn die Luft wird mit den Dünsten der Meere, Flüsse, Limane, der Tier- und Pflanzenwelt geschwängert, die aber wegen der großen Hitze nicht zum Niederschlag kommen. Die Steppe verliert ihre Frische, wird braun, endlich schwarz, als hätte alles ein verzehrender Brand versengt. Menschen und Tiere magern ab. Die Herden der wilden Ochsen und mehr noch der Pferde, die im Frühling so voll und mutig waren, sind matt und lahm. Selbst die braune Haut der Steppenbewohner, die freilich nie sehr frisch und elastisch war, legt sich schlaff in die hohlen Wangen; alles macht ein leidendes Gesicht und schleicht träge einher. Die Wasserteiche schmelzen zusammen, die Brunnen trocknen aus, und der schwarze Staub wirbelt empor.
Ende Juli und August erreicht die Dürre ihren höchsten Grad und geht gegen Ende dieses Monats schon wieder merklich bergab. Dann stellen sich wieder starke Nachttaue ein, und Gewitter werden hie und da vom Boden angenommen. Der bleiche Dunsthimmel klärt sich allmählich zu freundlichem Blau ab, und alles bildet sich mehr und mehr zum sanften Herbste hinüber. Die Lüfte werden nun äußerst sanft und mild, und zuweilen einfallende Regen halten den unholdigen schwarzen Steppenstaub nieder. Die Steppe ergrünt von neuem, und Menschen, Tiere und Pflanzen erholen sich wieder.
Ende September ist aber auch schon alle Lust wieder zu Ende, und der Oktober, der sich bei uns noch mit Weinlaub und herrlichem Himmelblau schmückt, ist schon wieder ganz Skythe und Wüstenbarbar, trübe, nebelig und regnerisch. Früchte kennt er nicht und nicht die schönen Herbstmorgen, an denen bei uns die kleine schwarze Spinne ihr zartes Gewebe in die Luft hinaushängt, auch nicht das goldgelbe Laub der Bäume und das träumerische Violett der hinsterbenden Wälder. Ende Oktober beginnt schon meistenteils der Graus und Braus der Wjugen und Samets, und gegen einen Steppennovember ist ein deutscher November als ein unschuldiger Nachsommer zu betrachten.
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Treffende Skizzen aus der südrussischen Steppe zeichnet in seinen Werken der russische Dichter Maxim Gorjkij (Gorki), und wir wollen uns nicht versagen, diese mit stimmunggetränkten Worten in unsere Anschauungskraft hineingedichteten Landschaftsbildchen aus dem Rahmen der trefflichen Erzählungen Archip und Lenka, Jemeljan Piljaj und anderer zu lösen und den Versuch zu machen, sie zu einem Mosaikbild zusammenzusetzen.
Östlich von Odessa ziehen sandige Dünen am Meere hin, die brandenden Wellen spielen mit dem weichen Sande, der mit Muscheln und Schneckenhäusern vermischt ist, die beim Anprall der Wellen melodisch rascheln. Das Meer wirft auch zittrige Quallen, kleine Fische, nasse schwarze Holzstücke aus. In der Ferne liegt der Mastenwald des Hafens, in Wolken schweren und schwarzgrauen Rauches eingehüllt, über die sanftbewegte Wasserfläche scheint ein unregelmäßig dumpfes Geräusch von rasselnden Ankerketten, pfeifenden Warenzuglokomotiven und lebhaftem Stimmengewirr der Schiffsarbeiter herüberzuschweben. Vom Meere her bläst eine frische Brise, die fern in der Steppe kleine Staubwirbel vor sich hertreibt.
Am Abend steigt über dem Meere die Dämmerung auf und bedeckt das Wellenspiel mit einem leichten bläulichen Flor. Aus dem Meeresinnern scheint eine gelblich-violette Wolkenmasse aufzusteigen, die, von rötlichem Gold umsäumt, der Steppe zueilt und die Dämmerung mehr und mehr verdichtet. Fern am Rande der Steppe steht ein riesiger purpurroter Fächer aus Strahlen der untergehenden Sonne, der Erde und Himmel mit weichen und zarten Farbentönen überflutet. Das Meer ist herrlich, schön und mächtig anzusehen, wie es hier rosig, dort dunkelblau blinkt. Wenn dann die Abendröte fast erloschen ist und am Himmel lässig und regungslos eine lange Wolke stehen geblieben ist mit einem dünnen rosigen Streifen, der immer mehr verblaßt, dann wird es still auf der Steppe, und das unausgesetzte Plätschern der Wellen vom Meere hebt in einförmig kosender Weise die melancholische Stille hervor. Die Steppe schläft, von der Tagesglut ermüdet. Über dem Meere aber erglänzen die Sternchen, eins nach dem anderen, klar und blank, als ob sie erst gestern zur Zierde dieses dunkelblauen, samttiefen südlichen Himmels gemacht worden wären. Das Meer scheint auch in die Nacht hinüberzuschlummern; breit liegt es da wie eine Riesenbrust, die gleichmäßig, ruhevoll und tief in festem Schlaf atmet.
Wenn anderen Tages Morgensonnenlicht die Steppe überflutet, daß sie am Horizonte mit dem Himmel in eins verschmilzt, liegt sie da weit, dunkelbraun wie eine riesige runde Schüssel, bedeckt von der glühenden Kuppel des wolkenlosen Sonnenhimmels. Hier und da wogt üppig darin ein goldenes Weizenmeer. Der staubige Weg durchschneidet sie wie ein breites Band und brennt unter den Fußsohlen, wenn die Sonne steigt. Drei schlanke Pappeln heben sich in der Ferne vom blendend hellen Himmel ab; sie werden bald kleiner, bald größer, der Himmel hebt sich über dem gelben Weizenfeld, er senkt sich wieder – bis plötzlich alles hinter dem silbernen Vorhange des Steppendunstes verschwindet. Der zittrige, grelle, täuschende Dunst schwebt bisweilen wie ein glänzender Strom aus der Ferne heran, als ob er vom Himmel niederflösse, die von der Mittagsglut erschöpfte Steppe zu beleben. – Und dann verschwindet er wieder.
Wo man die Steppe am sonnenglühenden Tage durchwandert, glaubt das Auge in der Ferne, dort, wo sich die Wölbung des Himmels auf ihre breite Brust zu stützen scheint, wundervolle Städte mit Kuppeln und Türmen hervorkommen zu sehen – und trübe Enttäuschung überkommt einen, wenn immer wieder nur dieselben Kosakendörfer zum Vorscheine kommen, dieselben Häuser, dieselben Menschen, die man so oft schon gesehen.
Ein Fluß erscheint hinter steil abfallendem Ufer, sein Rauschen verkündet ihn lang vorher. Dürftiges Weidengestrüpp säumt ihn, ein gelber Sandstreifen dann, zuletzt die braune Uferwand. Trübe sind die raschen Fluten von mitgespültem Erdreich. Ein zweirädriger Wagen knirscht mit seinen großen eisenbeschlagenen Rädern auf dem Wege einher in den Ufersand. Die schwarze Seilfähre nimmt das Gefährt samt dem großen scheckigen Pferde und dem breitschultrigen, rotwangigen Wagenlenker, einem schwarzbärtigen Kosaken aus dem nächsten Dorfe, auf. Drüben verschwindet Wagen und Roß in einer Wolke feinen dunklen Staubes. Endlich hat er das Dorf erreicht: Pappelgruppen, hinter deren Stämmen Dächer und Bretterzäune erscheinen. Eine schmale Gasse führt hinein. Das Schwarzpappellaub ist von einer grauen Staubkruste bedeckt, und die Rinde der dicken geraden Stämme ist von der Hitze rauh und rissig geworden. Hohes Steppengras und Klettenstauden stehen dicht am Wege, über den ein Kirschbaum seine Zweige hängt. Der laute Lärm des von der Weide am Abende heimkehrenden Viehes zieht die Straße herauf. Dort steht die Kirche mit den fünf blauen Kuppeln, niedrig und breit, rings von Pappeln umgeben, deren Wipfel über die goldenen Turmkreuze hinausragen, welche in rosiger Glut der Abenddämmerung durch das Laubgrün schimmern.
Immer drückender und dunkler wird es ringsum. In der Abendluft liegt die stickige Schwüle, die einem Gewitter vorausgeht. Die Sonne steht dicht über dem Horizonte, und um die Pappelspitzen fliegt ein rötlicher, matter Schimmer, während sich die Abendschatten in ihr schwarzes Laub legen, daß sie höher erscheinen und ihre Kronen ernster, als brüteten sie Schrecken. Gesänge, hohe volle Noten zittern unaufhörlich in der heißen Luft durchs Dorf, als wären sie auch von Gewitterschwüle gesättigt. Der Himmel verdunkelt sich, seine Farbe wird wie schwarzer Sammet, und er scheint tiefer zur Erde herabzusinken. Endlich ist die Nacht hereingebrochen, der Mond ist aufgegangen, und sein milchig-silbernes Licht gießt sich über die breitgedehnte Steppe, die darin gleichsam schmäler erscheint, als sie am Tage war. In der Ferne, da, wo die Steppe mit dem Himmel zusammenfließt, steigen violette Wölkchen empor, die langsam über den Mond hinschweben und auf die Erde dichte Schatten werfen. Melancholisch, leise gleiten sie dahin und verschwinden plötzlich, als wenn sie durch die von den sengenden Sonnenstrahlen verursachten Spalten in den Erdboden geschlüpft wären. Vom Dorfe her flammen Lichter auf, die den grell-goldig schimmernden Sternen am Himmel zuzublinzeln scheinen.
In der Ferne kriechen langsam dunkle Wolken empor, schon verdeckt eine schwere dunkle den Mond. Plötzlich erbebt die ganze Steppe und weitet sich, von blendendem, blauem Lichte übergossen; der Nebel, der sie eingehüllt hat, erzittert und schwindet für einen Augenblick. Ein Donnerschlag dröhnt und rollt mit dumpfem Knattern über die Steppe hin, sie und den Himmel erschütternd. Rasch eilt eine dichte Masse schwarzen Gewölkes darüber. Es wird stockdunkel. Irgendwo zuckte, schweigend zugleich und drohend, noch ein Blitz nieder, und eine Sekunde darauf folgte ein schwaches Murmeln . . Und nun Stille – eine Stille, die nie ein Ende zu nehmen scheint. Wir erwarten in qualvoller Angst einen neuen Schlag. Endlich, es dünkt uns nach langer Pause, erbebt der Himmel wieder, lodert in blauem Flammenscheine auf und führt einen gewaltigen, metallisch dröhnenden Schlag gegen die Erde. Es ist, als ob Tausende eiserner Platten laut aneinanderschlagend und klirrend auf uns niederrasselten . . Große Tropfen fallen, ihr Rauschen klingt ahnungsschwer und geheimnisvoll . . Aus der Ferne kommt ein breiter voller Ton, der sich anhört wie das Reiben einer gewaltigen Bürste, die über die trockene Erde fährt. Näher dröhnen die Donnerschläge, häufiger zuckt es über den Himmel. Sie überhasten sich, Blitz und Donner, und tauchen die Steppe bald lodernd in blaues Schwefellicht, bald in unheimliches, kaltes, ängstigendes Dunkel, das zittert und bebt mit uns. Der Regen strömt und strömt, seine Tropfen blinken im Feuerschein der Blitze wie Stahl, sie verbergen dicht die winkenden Lichter des Kosakendorfs . . Blank und grün glänzen am anderen Morgen die Blätter der Pappeln, die Raben fliegen krächzend über die belebte Strecke und suchen die Opfer der Gewitternacht. In den Bodenrissen stehen nur hie und da noch vereinzelte Pfützen, alles hat der durstige Boden aufgetrunken.
* * *
Obgleich die Malorossianen (Kleinrussen) durch ihre große Zahl und allgemeine Verbreitung die Hauptbevölkerung in den russischen Steppen bilden, so fehlt es hier doch keineswegs an Großrussen. Vielmehr findet man sie als Fischer, Tabuntschiks (Pferdehirten), Handelsleute, Fuhrleute, Holzarbeiter usw. im ganzen Lande verstreut. Man kommt daher überall mit ihnen zusammen, und so traf es sich denn auch eines Tages, daß ich meine Schritte neben denen eines langbärtigen Kapappen,Spitzname der Großrussen, den sie bei den Kleinrussen der Steppe haben. dessen Gesicht hochrot wie sein Hemd glühte, durch die Steppe setzte. Es war ein Fischer vom Meeresstrande, der in einem benachbarten Dorfe bei Verwandten seinen Sonntag feiern wollte. Ich sprach mit ihm von seiner diesjährigen Fischerei, und er sagte, daß es schlecht ginge. Darauf fragte ich ihn, wie ihm die Steppen gefielen. Er sagte: »Ach Herr, wie könnte es mir hier gefallen? Was kann hier gefallen?« – »Ist denn Euer Rußland besser?« – »Unsere Russija? Russija?Russija ist das Moskowiterland, der Kern von Großrußland. Wie sollte sie nicht besser sein?« – Ich sah, daß er sich erwärmen wollte, und um ihn abzukühlen, hielt ich ihm Widerpart und fragte: »Wieso denn?« – »O, in Russija, Herr, da ist von jeglichem jedes, und hier – ist von allem nichts. In Russija ist das Brot besser, die Häuser besser, das Land besser, der Schnee besser, der Sommer und Winter und alle Jahreszeiten besser. Da gibt's Berg und Tal, Wald und Wiese, Brunnen, Quellen und Flüsse die Fülle. Alles wechselt ab, und alles ist schön!« Ich sah, daß er im Zuge war, sagte nicht, daß ich auch in Russija gewesen wäre, und er fuhr in der allen Russen so eigenen bilderreichen, lebendigen und fast schauspielerischen Beredsamkeit fort: »Im Lande fließen große Ströme, vor allen die prächtige Mutter Wolga mit allen ihren Kindern. Die Wälder sind groß und schön, die Eichen, Linden, Buchen, die Tannen und Fichten alle bis zum Himmel! Und in den Bäumen singen Vögel von jeglicher Art, der eine so, der andere so!« (Er pfiff dabei den Nachtigallen und Lerchen nach.) »Ach, in den Wäldern, welche Luft und Wohlgeruch!« (Dabei fächelte er sich die Luft zu und atmete sie so begierig ein, als wenn sie mit lauter Veilchenduft geschwängert wäre.) »Und wie nahe ist dir das alles! Siehe hier ist eine Haustür – du machst sie auf – trittst heraus, und du bist gleich mitten im schönen Walde.«Die Großrussen folgten in ihrer Verbreitung den Wäldern, die Kleinrussen den Steppen. (Hierbei hielt er mich bei der Hand, und ich mußte stehen bleiben, als wenn ich die Haustür wäre; er aber schritt in das hohe Gras hinein, als wenn es der Wald wäre.) »Welch herrliche Musik im Walde,« sagte er dann, »und wie die Sonne durch die Blätter scheint! Und im Rasen des Waldes auf dem Boden blühen und reifen allerlei Beeren um dich her; Erdbeeren, Herr, kleine, süße, rote, wilde Himbeeren, Brom- und Blaubeeren von jeglicher Art, so viele, viele, als du nur wünschen magst. Du kannst dich niederlegen, wo du nur willst, rund um dich herum pflücken, ohne anders als völlig satt wieder aufzustehen.« – Dabei warf er sich gar ins Gras und raufte rund umher die Halme, als wenn es Erdbeeren wären, und ich glaube, wenig fehlte, so hätte er sie auch gegessen, um mir zu zeigen, wie gut sie schmeckten. Dann sprang er wieder auf und sagte: »Auch Pilze sind da von allen Sorten und in großer Menge. Man füttert bei uns die Schweine damit. Gras und Heu ist noch das einzige in diesem Lande, überall Gras und nichts als Gras. Und selbst dieses einzige, was sie haben, wie schlecht ist es! Holzig, struppig und den größten Teil des Jahres ohne Saft. Bei uns gibt es auch Gras, aber so hoch bis zu meinem Bart, und was für Gras, grünes, feines, saftiges, süßes! Daß Gott erbarm! Die Kühe werden ganz fett davon und so dick!« (Er stellte sich wieder hin, blies sich auf und machte sich mit Beinen und Armen so breit, als er konnte.) »Seht, und in dem allen mitten drin liegt unser Moskau, die vor allen prächtige und heilige Stadt. Wie ich sage, dort ist von jeglichem alles. Und sagt mir, was ist hier? O! Russija wäre gewiß das erste und beste Land, wenn nur eins nicht wäre – die Herren. Die haben's verdorben.« (Gewiß war er ein seiner Herrschaft entlaufener Rebell.) »Wenn wir jetzt in Rußland gingen, anstatt auf dieser öden Steppe, wie würden wir schön gulaienVon dem russischen galati (scherzend umherwandeln). bald an einem Bache, bald in einem Gehölz, bald durch ein Dorf. Und hier müssen wir ein paar Stunden wie die Wachteln schnurstracks im Grase hinstreichen, bis wir unser Dorf erreichen. Die Sonne brennt uns auf den Kopf, und nirgends Schatten, auch nirgends ein Erdbeerlein gegen den Durst.«
In der Tat scheint die Natur bei der Anlage und dem Aufbau dieser Steppenplatte so wenig Rücksicht auf den Menschen genommen zu haben und dagegen so viel auf das grasfressende Vieh, daß sie den Menschen nur insofern dulden zu wollen schien, als er sein Dasein an diese Grasfresser bindet. Die ganze Pflanzenwelt der Steppe bietet äußerst wenig dem Menschen Genießbares oder für seine Hauswirtschaft Nützliches; Schilf statt Bauholz, Unkraut statt Brennholz, Dorngebüsch statt der Fruchtbäume, fürs Vieh dagegen unendlich viel Dienliches.
Daher kommt es, daß auch die Haupteinteilung der Pflanzen, von der man in diesem Lande beständig reden hört, ihren Einteilungsgrund von der Beziehung zum Vieh hernimmt. »Trawa« und »Burian« sind die beiden großen Klassen, in welche der Steppenbewohner alle Gewächse seiner Graswüste unterbringt. Trawa heißt Rasen, und man versteht darunter alle niedrigen, kurzen Pflanzen, welche das Vieh mit seinen Zähnen leicht bezwingen kann, auch wegen ihrer heilsamen Säfte gern genießt. Unter Burian versteht man alle die struppigen, strunkigen, hochaufschießenden Stauden, welche das Vieh wegen ihres holzigen, saftlosen Gewebes nicht frißt.
Die Büsche und Bäume beschränken sich auf wenige Arten von Dornen- und Holunderbüschen, wilden Birn- und Apfelbäumen und einige noch weniger nennenswerte Baumarten. Die Birnbäume, die oft bloßes Birngebüsch sind, kommen hauptsächlich in den Vertiefungen und Schluchten vor; hie und da sieht man sie auch mitten auf der Fläche und dem breiten Steppenrücken stehen. Weit häufiger und auch in ordentlichen Gesellschaften sind die Dorngebüsche, die Schleh- und Weißdorn-, Hagebutten- und Brombeersträuche. Die Kosaken nennen ein solches dichtstehendes Gebüsch »Derina« und haben darin einen Ersatz für unsere Wälder und Gehölze. Im Herbste schneiden sie sich die langen Stäbe aus den Dornen, die sie zum Lenken ihrer Ochsen brauchen; auch verfertigen sie daraus die Heuschreckeggen, indem sie eine Menge von Dornzweigen an einem Balken befestigen, sie mit Steinen beschweren und fortschleifen, damit die Heuschrecken auf dem Felde tötend. Selbst die Egge, mit der sie nach der Aussaat die Körner eineggen, ist auf diese Weise gemacht. Im Frühling freuen sich die Kosaken über die Blüte und den Duft des Schlehdorns und wandern um ihn herum, den Duft genießend.
Der Holunder steht häufig an den schroffen Ufern des Schwarzen Meeres bei Odessa herum. Die deutschen Kolonisten sammeln hier seine Blüte, wenn sie noch ganz zart ist, und machen ihre im Schwabenlande so beliebten »Holderküchle« davon, indem sie die ganze Dolde in einen Milchteig tauchen, backen und sie wie Blumenkohl verzehren.
Eine sehr bedeutende Rolle im Leben der Steppenbewohner spielt das Schilf. Alle Häuser der Landleute sind mit Schilf gedeckt, die Zäune der Gärten werden, wenn man sie nicht von Erde aufwerfen will, aus Schilf geflochten. Man stellt dazu ganz einfach dicke Bündel von Schilf in schmalen Garben in die Erde und flicht sie mit ihren oberen Enden zusammen. Ja, in vielen Gegenden bauen die Leute auch ihre Häuser aus Schilf und zwar oft ganz hübsche und wohnliche, wobei die Schilfwände so mit Lehm und Kalk überworfen werden, daß man sich einbildet, in einem steinernen Hause zu sein. Endlich dient das Schilf auch noch als Brennstoff, wenngleich nicht als der vorzüglichste; denn es erzeugt noch weniger anhaltende Glut als Stroh. Der Dnjestr und Dnjepr versehen weit und breit die Umgegend mit diesem in so viele Lebensverhältnisse eingreifenden Hauptbedürfnisse, und beständig winden sich lange, mit Schilf beladene Wagenreihen aus ihren Niederungen auf die Steppe herauf. Der Dnjestr insbesondere versorgt die Stadt Odessa damit. Die Schilfwaldungen der Flüsse sind gemeinschaftliches Gut der anliegenden Ortschaften, und jeder Ortsbewohner kann so viel herausholen, als er Lust hat.
Die Gräser werden nur einmal im Jahre gemäht; denn die Steppe hat in den Monaten Juni, Juli und August zu wenig Kraft, um neue Halme zu treiben, da sie in dieser Zeit fast ebenso tot wie im Winter daliegt; im September und Oktober gibt es freilich wieder Regen und Gras, jedoch wird dieses Herbstgras zum Mähen nicht reif genug, und man läßt es daher bloß vom Vieh abweiden. Die Heuernte macht den Steppenbewohnern nicht halb so viel Mühe als uns im feuchten Deutschland, wo man das Gras tagelang liegen lassen, trocknen, zusammenrechen, wieder auseinander breiten und abermals trocknen muß, bis man endlich einmal das Glück hat, das Heu einfahren zu können. In den Steppen gehen unmittelbar hinter den Mähern Mädchen her und Burschen, welche das gleich trockene Heu in Haufen, »Kopitzen« genannt, zusammenlegen. In diesen Haufen bleibt es einige Tage stehen und wird alsdann heimgefahren oder für die Überwinterung in größere Haufen gebracht, die »Skirten« heißen. Ja, zur Mitte des Juni ist die Trockenheit oft so groß, daß man das abgemähte Gras sogleich als Heu nach Hause oder zu Markte fährt. Da es in den schwach bevölkerten Steppen an Arbeitern fehlt, so müssen die Mäher reich bezahlt werden, und aus den Nachbarprovinzen wandert den ganzen Sommer hindurch eine Menge von Menschen in die Steppen, um sich so ein Stück Geld zu verdienen.
Die Tierwelt der Steppen ist verhältnismäßig gering in der Zahl der Geschlechter, aber groß in der der Einzelwesen. Die Steppen sind von Menschen wenig bevölkert, und die Kultur tritt den Tieren noch nicht hinderlich und beschränkend entgegen. Daher finden die Familien, welche einmal die Steppe vertragen lernten, einen um so freieren Spielraum, und der Reisende glaubt in einem der lebensreichsten Striche der Erde zu sein, zumal im Frühling, wenn alles grünt und blüht und sich sowohl die einheimischen Tiere lustig regen, als auch fremde Pilgrime auf der Steppe sich sammeln, die sich nachher bei der Sommerglut in benachbarte oder entfernte Länder verlieren. Alsdann erblickt man Vögel, die sich bei uns nur einzeln zeigen, Adler, Geier, Habichte, Trappen in großen Zügen, Enten, Gänse und Pelikane, die Schilfgebüsche füllend. Im Grase spielen überall die Kaninchen in ausgedehnten Ansiedelungen, und Wölfe streichen zahlreich umher. Lerchen, Kibitze, Drosseln, Tauben sind allenthalben, und selbst von Insekten zeigen sich große Massen, die Schmetterlinge im Verhältnis zu der Unzahl von Blumen, die Mistkäfer im Verhältnis zu den großen Viehherden, und in schlimmen Jahren die Heuschrecken, von denen jede Abteilung des großen Zuges Legion ist.
Im Frühlinge verfällt in den Steppen selbst das zahme Vieh in einen Zustand halber Wildheit; die Pferde in den Tabunen (Pferdeherden), die Ochsen in den Tscheredas (Ochsenherden), alles sucht die freie Steppe, oftmals selbst die Hunde. Die Hündinnen entlaufen den Städten und Dörfern, scharren sich in der Wildnis eine Grube, werfen da ihre Jungen, fern von den Menschen, wie die Wölfe. Diese in den Steppen geborenen jungen Hunde sind den Sommer über völlig wild, scheuen die Menschen und lassen sich nicht fangen. Im Winter aber, der mit seinen Wjugen alles bändigt, durch Hunger und Kälte selbst das Wild zahm macht und sogar den Wolf in die Dörfer treibt, da erinnern sich die wilden Hunde ihrer alten Heimat und kommen zu den Wohnungen der Menschen zurück.
Freie Bienen, wie in den polnischen Wäldern, gibt es nicht in der Steppe, nicht einmal Erdbienen. Das Klima ist zu gegensätzlich, zu heiß und zu kalt, und des Schutzes wie der Nahrung ist zu wenig, als daß sie sich halten könnten. Der Baum- und Wassermangel, die Armut an duft- und saftreichen Pflanzen ist schuld daran, daß die Zucht der zahmen Bienen fast nirgends gedeiht. In Odessa sind zwar einige Bienenliebhaber, deren Zahl jedoch mit der Dürftigkeit der Gärten in dieser Stadt in Verhältnis bleibt. Nur das einigermaßen fruchtbare Dnjestrtal zeichnet sich durch seine Bienenzucht aus. In den Steppenvorländern aber, in der buschigen Ukraine, in Kleinrußland und Podolien, wo Wälder Schutz verleihen und viele Flüsse auch selbst im Sommer in den Tälern Feuchtigkeit und Blumenblüte unterhalten, ist die Bienenzucht sehr bedeutend. In diesen Provinzen hat fast jeder Bauer Bienen, mancher oft 300 Stöcke und mehr. Dort kann man selbst auf den kleinsten Bazars den Honig, den die Kleinrussen und Kosaken sehr lieben und, wenn sie Gäste haben, mit Löffeln essen, zentnerweise kaufen. Von dort kommt auch aller Honig, der von Odessa verschifft wird, von dort stammt das meiste Wachs zur Erleuchtung der russischen Kirchen.
Unter allen Tieren, welche die Steppe bewohnen, ist das edelste Geschöpf das Pferd, das nutzbarste aber das Rind.
Es lassen sich im ganzen drei Hauptklassen der in den Steppen lebenden Pferde unterscheiden, die auf verschiedene Weise gehalten und gezogen werden: die Hauspferde, die Pferde der Gestüte und die der halbwilden Tabunen (Zuchtherden). Die Haus- oder Arbeitspferde sind die alltäglichen Genossen des Menschen. Die Edelleute und deutschen Ansiedler in der Steppe halten ihrer eine Menge zum Spazierenfahren, Reiten, Ackern, zur Warenbeförderung usw. Der kosakische und bulgarische Bauer besitzt aber immer nur eins, das ihm bei den kleinen Fahrten dient, zu denen er nicht gerade sein Ochsenzwiegespann in Gang setzen will.
Die Pferde der Gestüte sind von den verschiedensten englischen, arabischen und deutschen Rassen und bieten in ihrer Zahmheit kein eigentümliches, durch die Steppe bedingtes Leben dar.
Anders ist es mit den halbwilden Pferden der frei in der Steppe schweifenden Tabunen. Die Herren der Steppe, nämlich die großen Gutsbesitzer, die sich hier ganze Fürstentümer erworben haben, die Potockis, die Woronzows, Orlows usw., besitzen so viel Boden, daß sie wegen Mangels an Mannschaft nur den geringsten Teil davon bearbeiten können; sie halten und hielten daher seit alten Zeiten neben ihren Schaf- und Kuhherden auch ebenso große weitschweifende Herden leichtfüßiger Pferde, die sie überall auf die entferntesten Wiesen und schlechtesten Weiden schicken können, um doch das sonst nutzlose Gras in nutzbare Kräfte zu verwandeln.
Zu diesem Zweck verschaffen sie sich eine Anzahl von Stuten und Hengsten, die den Stamm des Tabuns ausmachen und die unter Aufsicht von Hirten in die Steppe geschickt werden, um sich zu nähren und zu mehren. Der junge Nachwuchs wird immer bei den Vätern und Müttern gelassen, bis mit der Zeit die Zahl der Tiere auf die Summe gestiegen ist, welche das Gut allenfalls ernähren kann, ohne der Landwirtschaft zu schaden. Diese Summe steigt von 100 auf 1000. Die Benutzung besteht darin, daß man teils die dem Gute selbst nötigen Arbeitspferde aus dem jungen vier- bis sechsjährigen Nachwuchs nimmt, teils auch von diesen in der Freiheit erstarkten, mutigen und unverwüstlichen Tieren an Liebhaber, an herumreisende Aufkäufer und auf den Märkten des Landes verkauft.
Tabuntschiks heißen die Leute, die die Jungtiere des Tabuns vor dem Verlaufen über das Gutsgebiet bewahren, sie den Pferdedieben abjagen und Acker, Feld und Garten anderer Leute vor ihnen behüten. Diese Pferdehirten sind eine ebenso eigentümliche Geburt der Steppen wie die wilden Pferde selbst und werden durch ihre Lebensweise eine so abweichende Menschenrasse, daß man in Europa vergebens ihresgleichen sucht und nur bei ihren Gegenfüßlern in den Pampas von Südamerika ähnliche Leute wiederfindet.
In der Tat erfordert das Geschäft eines Tabuntschiks eine Leibesbeschaffenheit, die ihr Blut bei 20° Kälte ebenso flüssig und munter erhält als bei freundlichem Frühlingswetter, deren Muskeln und Nerven auch bei zweimonatlicher Trockenheit eines Backofens noch so spannkräftig und markig bleiben, als wären sie eben im kühlen Salz der Meereswellen gebadet worden. Es gehört dazu eine Lunge, die den nächtlichen Tauhauch des Grases und den glühenden Atem des Schirokko gleich erquicklich findet, und eine Haut, die Regengüsse duldet wie eine marmorne Bildsäule.
Die Schaf- und Ochsenhirten führen auf ihren Wanderungen beständig Wagen mit sich herum, mit denen sie sich hie und da auf kurze Zeit ansiedeln. Diese Bequemlichkeit darf sich der Tabuntschik nicht gönnen; denn die Beweglichkeit und Wildheit seiner Rosse nötigen ihn, beständig beritten zu sein; das feurige Geblüt seiner Pfleglinge läßt ihm nicht einen Augenblick Ruhe. Er haust Tag und Nacht auf seinem Pferde, welches nicht bloß sein Stuhl, sondern auch sein Speisetisch, sein Diwan und sein Bett ist, und diese Leute erlangen eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit darin, alle Geschäfte zu Pferde abzumachen. Wenn andere Menschen am liebsten die Ruhe suchen, muß der Tabuntschik sie am meisten verschmerzen. In der Nacht, wo die Pferde am weitesten wandern und weiden, muß er vorzugsweise bei der Hand sein, um mit wachsamem Zurufe beständig die Runde um seine Herde zu machen. Auch drohen dann alle Gefahren, Wölfe, Diebe, Gewitter usw. Bei Regen- und Schneestürmen hat er es schlimmer als die Pferde selbst; denn diese dürfen sich von der Windseite abwenden, er aber muß den Stürmen die Stirn bieten, um die Herde, die bei starkem Unwetter gern blindlings über die kahle Steppe dahinstreicht, zu überschauen und zurückzuhalten.
In der Regel tragen die Tabuntschiks Hosen von behaartem Füllen- oder Kalbsleder; ein Rock von Roßleder mit einwärts gekehrten Haaren wärmt ihre Brust. Beides hält ein lederner Riemen zusammen, den sie sich drei- bis viermal um den Leib winden, und auf dem sie allerlei kleine Seltenheiten, Metallstückchen, Münzen, Bernstein usw. angereiht haben. Da sie zugleich die Ärzte ihres Tabuns sind und über ein Dutzend altherkömmlicher Mittel verfügen, so hängt ihnen gewöhnlich auch ihr ganzer tierärztlicher Bedarf am Gürtel, was ihnen das Aussehen von Schamanen und Zauberern gibt. Ihren Kopf stecken sie wie alle Kleinrussen und Tataren unter die hohe Zylindermütze von schwarzem Lammfell. Über ihren ganzen Anzug werfen sie noch die Swita, einen aus brauner Schafwolle gewebten Mantel. An diese Swita ist oben eine weite Kapuze genäht, die über Mütze, Kopf und Gesicht gezogen wird und in der wie bei den alten Ritterhelmen bloß für Augen, Mund und Nase eine Öffnung bleibt. Bei gutem Wetter hängt sie auf dem Rücken wie ein Sack herunter und wird dann auch in der Regel nur als Tasche benutzt. Dieses Kleidungsstück gibt ihnen ein besonders barbarisches Ansehen, und ich mußte immer an Petschenegen, Alanen und Hunnen denken, wenn so ein Tabuntschik mit seiner hohen, eckigen Sturmhaube einhersprengte.
Doch es klirrt noch mehr an solch einem Rossebändiger herum. Vor allem sein großer Harabnik, die 6 m lange Peitsche mit kurzem, dickem Stiele, alsdann seine Schlinge, ein 10-12 m langer Strick, an dessen einem Ende ein eiserner Ring zum Durchziehen des anderen befestigt ist. Will er ein Pferd einfangen, so wickelt er das eine Ende des Strickes um den Arm, jedoch ohne es weiter zu befestigen, damit er es nach Belieben nachschießen oder ganz fahren lassen kann, macht alsdann die Schlinge vorn recht weit, schwingt sie ein paarmal über seinem Haupt, schleudert sie, nie fehlend, dem Tiere um den Hals, zieht sie ein wenig an und wirft dann mit einem tüchtigen Rucke den Gefangenen zu Boden.
Der Harabnik zum Regieren, die Schlinge zum Fangen und endlich die Wolfskeule zum Verteidigen, das sind eines jeden Pferdehirten Waffen. Diese Keule ist etwa 1 m lang, vorn mit einem dicken, eisernen Knopf versehen, und hängt gewöhnlich am Sattel. Er springt mit dieser Keule seinen Pferden zu Hilfe, wenn sie nicht allein mit den Wölfen fertig werden können. Je nach den Umständen schlägt er damit oder wirft sie aus der Ferne und weiß ihren eisernen Knopf so geschickt anzubringen wie ein Tiroler Schütze seine Büchsenkugel.
Im Frühjahr, wenn die Wölfe aus dem unwirtlichen Winter den größten Hunger mitbringen, sind die Kämpfe zwischen Wolf und Pferd am häufigsten und bedeutendsten. Da die WölfeWie zahlreich noch immer die Wölfe sind und wie frech sie vordringen, zeigt die Tatsache, daß im März 1883 ein Rudel Wölfe, 35-40 an der Zahl, am hellen lichten Tage (um 1 Uhr mittags) in die ansehnliche Kreisstadt Chwalinsk, die in einem Steppenteil der Statthalterschaft Saratow liegt, einfielen, die Einwohner, die ihre Wohnungen nicht zu verlassen wagten, förmlich belagert hielten und erst mit Anbruch der Abenddämmerung sich wieder zurückzogen. die schwächere Partei sind, so entwickelt sich bei ihnen große List und Gewandtheit, bei den Pferden aber eine Art Gemeinsinn, der sie und ihre Füllen gewöhnlich rettet. Daß Wölfe bei hellem lichtem Tage sich in den Tabun wagen, kommt nicht vor; sie wissen recht wohl, daß sie rettungslos verloren wären und von den Pferden zertreten würden. Bei Nacht aber geschieht es wohl, daß ein Rudel Wölfe mitten unter den Tabun gerät, und der Kampf entwickelt sich dann so: Die zunächst angegriffenen Pferde, welche die Wölfe rochen oder ihre leuchtenden Augen auf der Steppe funkeln sahen, spitzen die Ohren, brausen und wiehern und stoßen Töne durch die Nüstern, die man durch die Nacht weithin pfeifen hört. Auf den ersten Lärm springen sogleich alle nahen Hengste, Wallache und Stuten – denn bei der Wolfsgefahr macht das Geschlecht keinen Unterschied, und aller Mut ist gleich – herbei und setzen gerade auf die Wölfe ein. Diese werden dann durch den ersten wütenden Angriff der Pferde, den sie selbst erregten, erschreckt und ziehen sich leise ein wenig zurück. Indes geht das Geschrei unter den Pferden fort, und der ganze Tabun drängt sich im Sturmlaufe der gefährlichen Stelle zu. Die Mütter schreien nach ihren Jungen, und diese traben hinter den Alten her, im dicken Haufen Schutz suchend. Fühlen sich die Wölfe an Zahl stark und peinigt sie der Hunger, so weichen sie nicht völlig, nähern sich hie und da wieder und erhaschen vielleicht ein Junges, das täppisch und schreiend mit der Mutter herbeiläuft, die selbst noch nicht wußte, wo eigentlich die Gefahr drohte. Die Mutter gerät außer sich und springt mitten unter die Wölfe, ihr Kind zu retten. Allein sie verfehlt es. Bald sitzen auch ihr ein paar hungrige Rachen an der Kehle und legen sie in den Rasen. Aber nun fackeln die Pferde auch nicht länger. Sie nehmen ihre Jungen in die Mitte, und die Stuten mit den Wallachen bilden einen Kreis, der aber nicht so starr und mit den Vorderfüßen eingewurzelt dasteht, wie ihn unsere Bilderbücher darstellen. Auf diesen Bildern haben es die Wölfe ziemlich bequem. Sie hüten sich vor den Hinterhufen der Pferde, und das Schlimmste, was ihnen begegnen kann, ist, daß sie sich den Gedanken an Füllenfleisch aus dem Sinn schlagen müssen. In der Wirklichkeit büßen sie ihre Lust gewöhnlich schwerer. Die Pferde setzen wie eine bewegliche Phalanx scharf auf die Wölfe ein und machen manchem von ihnen das verwünschte Augenleuchten vergehen; denn sie wollen sich nicht bloß verteidigen, sondern auch ihren Feind vernichten. Die Hengste gehen nicht mit in jenes Viereck, sondern bleiben draußen und umtoben es schnaubend mit wallender Mähne und mit bäumendem Schweife, als wenn jedes Haar eine Schlange wäre, zugleich als Feldherren, Fahnenträger und Schlachttrompeter. Wo sie den Wolf im Grase sehen, da springen sie beißend gegen ihn ein und schlagen ihn mit den Vorderfüßen nieder. Man denkt bei uns, daß die Pferde alles in den Hinterfüßen haben; allein dies ist keineswegs der Fall. Vielmehr gebrauchen sie allemal zum Angriff die Vorderfüße und nur bei der Verteidigung die Hinterfüße. Der Hengst versetzt zuweilen seinem Feinde zugleich den ersten und letzten Schlag mit den vorderen Hufen, zuweilen betäubt er ihn nur, packt ihn alsdann ohne alle Umstände mit den Zähnen in dem Nacken und schleudert ihn durchs Gras den Stuten zu, die ihn dann so zurichten, daß auch nicht ein Knochen ganz bleibt . .
Die großen Schlachten der Wölfe und Pferde entspinnen sich jedoch nur selten und immer gegen den Willen des Wolfs. Denn seine Kampfführung besteht mehr in einem Kosakenkriege, in einem immerwährenden Plänkeln. Ein allgemeiner Angriff liegt nicht in seinem Plane, und Überlistung ist seine Hauptkunst. Er verfährt dabei nicht weniger schlau als Meister Reineke. Ganz leise und vorsichtig kommt er durchs hohe Gras hergeschlichen, und zwar gegen den Wind; denn er weiß recht gut, wie unangenehm den Pferden sein Geruch ist. Er kundschaftet die Stellung des Tabuns aus. Bald entdeckt er auch eine Stute, die mit ihrem kleinen zierlichen Füllen etwas abgesondert weidet. Wohl hütet er sich jedoch, sogleich spornstreichs hervorzubrechen; er fällt nicht mit der Tür ins Haus. Leise und allmählich nähert er sich dem Füllen, dessen Gebaren er in aller Unschuld sogar nachahmt. Wenn sich das müde Füllen ins Gras niederlegt, streckt er sich auch nieder und tut ganz unbefangen. Indessen wittert doch die Mutter etwas Unheimliches im Grase, erschrickt und springt auf. Der Wolf legt nun wie ein Hund die Schnauze auf die Vorderfüße, macht die freundlichsten Augen von der Welt und wedelt mit dem Schwanze. Der Erfolg dieses Manövers ist verschieden. Ist die Alte täppisch und läuft sie unvorsichtig darauf zu, so springt er im Nu ihr an den Hals, reißt ihr die Gurgel aus dem Halse und läuft mit dem Jungen davon. Zuweilen ist aber die Alte ebenso vorsichtig als wütend, macht Lärm und schlägt mit einigen herbeieilenden Schwestern den Wolf auf der Stelle in die Flucht. Zuweilen ist die Alte weder wütend noch täppisch, sondern bloß dumm, und denkt, wenn sie den schwanzwedelnden Wolf angesehen hat, es sei wohl nur eine friedliche Hundeseele, wie ihrer so viele in der Steppe herumschweifen, weidet ein wenig mit dem Füllen an der Seite und hegt keinen Argwohn. In diesem Falle siegt der Wolf wieder auf andere Weise. Will die Stute sich nicht gleich vollkommen beruhigen, so zieht er sich ein wenig zurück, als wolle er nichts mit ihr zu tun haben und ihr das freieste Feld lassen, kommt aber auf Umwegen wieder näher und legt sich an einer Stelle nieder, wo ein gerader Weg zum Füllen führt, das indes müde geworden ist und wie ein Osterlämmchen im Grase liegt. Der Wolf wacht indes bedeutend. Er könnte es schon längst erschnappen; aber es liegt ihm nicht bloß am Fange, sondern auch am ruhigen Heimbringen und Verzehren, und dazu hört er immer noch die Tritte der Alten zu nahe. So unausgesetzt er auf das Junge schaut, so scharf horcht er auf die Stute, die er vor lauter Wermut- und Königskerzenstauden längst nicht mehr sehen kann. Denn sie ging indes, weidend und milchreiche Kräuter suchend, weiter und immer weiter. Auf einmal, horch! welch Gestrampel und Geschnaube! Ach, der Wolf an der Kehle des kleinen, niedlichen Füllens! – Man muß dabei gewesen sein, um zu wissen, wie schnell er ein solches Tierchen zerlegt. Oft bekommt es nicht einmal Zeit zum Strampeln und Schreien, und der Wolf verzehrt es in aller Stille.
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Wenn auch das Leben und Treiben der edlen Wildfänge mehr die Aufmerksamkeit des Reisenden fesselt, so muß er doch bekennen, daß die Herden der stillen und unbeachteten Wollträger weit häufiger seinem Blicke begegnen, und wenn vom Reichtum eines Mannes die Rede ist, hört man fast immer nur seine Schafe und Rinder in Anschlag bringen. Auf jedem Steppengute, wo man einen Tabun von 800-1000 Pferden findet, kann man sicher auf vier bis fünf Herden von 2000-3000 Schafen rechnen.
Am meisten sind im Lande verbreitet die sogenannten »Fettschwänze«, walachische Schafe. Diese Rasse ist groß, langhaarig und hat einen dicken Fettschwanz, in dem sich gewöhnlich 6-10, zuweilen sogar 20 Pfund Fett aufspeichern. Neuerdings macht sie den Merinos und den Mischlingen mit der Landesrasse Platz.
Die gutmütigen, friedlichen Schafhirten, die den Leib nicht wie die Tabuntschiks in Pferdeleder, sondern in das weiße Vließ ihrer Herdentiere hüllen, heißen in Kleinrußland, in der Moldau, bei den Tataren »Tschabani«.
»Irlik« heißt der große, fast 4 m lange, mit Kunst gearbeitete, am oberen Ende mit einem eisernen Haken versehene Stab, welcher dem Tschaban Keule, Schlinge und Harabnik zu gleicher Zeit ist. Mit dem eisernen Haken entert er am Hinterbeine die Schafe, die er einfangen will, zugleich stößt er sie mit dem Stecken, wo es nötig ist, vorwärts, und weiß mit dem schweren Ende den Wolf auf den Rücken zu treffen und ihn mit einem Hiebe niederzustrecken.
»Swita« ist der schon erwähnte Mantel mit der schrecklichen Kapuze, den der Tschaban beim Regen sich so anlegt, als sollte er in der Zauberflöte den Bären spielen.
»Otara« heißt die Herde der einfältigen Vließträger selbst, die 2000 bis 3000 an der Zahl unter der friedlichen Zauberflöte dieser friedlichen Bären stehen.
»Oftschacki« endlich ist der Name der den Wölfen schrecklichen, zottigen großen Hunde, die zu 10-15 eine Herde von der genannten Stärke bewachen.
Außer diesen Dingen führen die Tschabans einen oder zwei Wagen bei sich, die mit Ochsen bespannt sind und alle Lebens- und Heilmittel, Kochgerätschaften, die Felle der gefallenen Schafe, die gewonnenen Käse und die Pelze der erlegten Wölfe den Hirten nachbringen. Es sind das aus uralter Zeit gebräuchliche, große, schwerfällige, mit einem hohen Dache versehene Wagen, den Reisewagen der Tataren, »Madjaren« genannt, sehr ähnlich.
So ausgerüstet, zieht der Tschaban um Ostern ins Feld, zu gleicher Zeit mit den Tabunen, schweift den ganzen Sommer mit seiner Herde (Otara) in den Steppen umher und kommt erst im Herbste wieder heim. Ein Tschaban ist natürlich zu Fuß; denn seine Herde zerstreut sich nicht so leicht und so weit als die Tabunen. Die Schafe nähren sich auf kleinerem Raume, sind nicht so wählerisch als die Pferde, fressen eifrig alles ab, was sie Genießbares finden, und legen sich dann ruhig zum Wiederkäuen hin, während die Pferde in ihrem Tabun nie liegen und selbst den Schlaf stehend abmachen wie ihr Hirt im Steigbügel. Weit um sich greifend, wogen die Roßherden hierhin und dorthin, während der tägliche Marsch einer Schafherde kaum einige Werst beträgt.
Die Tschabani setzen ihren Wagen als Mittel- und Sammelpunkt und einstweilige Residenz, um welche herum, den Kreis immer erweiternd, geweidet wird. Der Platz wird natürlich mit Klugheit gewählt. Es müssen gute Steppen in der Nähe sein, womöglich auch ein Brunnen oder Quell. Finden sie, daß die Stellung für mehrere Tage haltbar ist, so treffen sie eingehendere Vorbereitungen, graben einen Herd und kleine Keller zum Aufbewahren ihrer Lebensmittel, schlagen wohl auch ein Zelt auf. Ist aber die Gegend unergiebig und abgeweidet, so ziehen sie am andern Morgen weiter. Der Wagen geht, quiekend und knarrend, voran, und die Herde folgt nach, jedoch nicht früher, als bis der Nachttau abgetrocknet ist; denn die Schafe verschmähen es, in der Nacht, der Zeit der lebhaftesten Pferdegelage, Speise zu sich zu nehmen, und lieben nicht den frischen Morgentau. Bei gutem Wetter ist das Leiten der Schafe ein leichtes Geschäft. Ein Führer geht den Wagen begleitend voran, der Haupttschaban folgt hinterdrein, und zur Seite gehen wieder zwei bis drei mit ihren langen Irliks. Sie rufen beständig einander zu und geben sich Zeichen mit ihren langen Stäben. Die Hauptunterhaltung mit den Schafen läuft auf zwei Worte hinaus: »No kudi? kudi?« (nun wohin? wohin?), die sie fast so oft ausschreien, als sie einatmen, aus denen aber die Schafe so viel entnehmen, als ihnen zu wissen nötig ist.
Bei schlechtem Wetter aber, und insbesondere bei den in der Steppe so gefährlichen Stürmen, welche oft mit den sich selbst überlassenen Schafen davongehen und ganze Herden in Flüsse und Regenschluchten treiben, sind die Schafe nicht leicht zu lenken. Aber auch bei dem allerbesten Wetter gibt es bei der unglaublichen Tölpelhaftigkeit und Dummheit der Schafe eine Menge von Ereignissen, welche das Lenken dieser Tiere sehr erschweren. Man mischt darum allen Schafherden einige lebhafte, mutige und kluge Ziegen bei, welche als Führer und Lenker dienen. Die unbeholfenen Schafe schrecken oft ohne Ursache zusammen, kommen gleich außer sich, drängen sich beim Bellen des kleinsten Hündchens, wollen oft nicht die Regenschluchten hinab und verirren sich leicht in den Schilf- und Rohrgebüschen. Sie halten im Winde schlecht Stand, und es ist unmöglich, sie, wie dies doch zuweilen nötig ist, zu einem Marsche gegen den Wind zu bringen. In allen diesen und ähnlichen Fällen streicht nun die vorwitzige und kluge Ziege den Schafen mutig voran, führt die Otara rasch an den Abhängen der Regenschluchten und Täler hin, leitet sie sicher durch die sumpfigen Schilfgebüsche, springt auf nicht allzu überlegene Hunde ein, geht gegen den Wind, wenn er nicht zu kalt ist, und dient sonst noch vielfach der Schafdummheit als Salz und Reiz.
Ist nun der Wagen an der Stelle des folgenden Nachtlagers angelangt und sind die Schafe glücklich dorthin gekommen, so beginnen, während diese vom Marsche ruhen und wiederkäuen, für die Tschabans mancherlei Geschäfte. Einer von ihnen spielt den Koch. Er zieht die Kessel hervor, einen für die Menschen, einen für die Hunde, und hängt sie an zwei lange Stäbe, die am Wagen befestigt sind. Mit dem Wasser und der Feuerung geht der Koch sparsam um, weil die Steppe beides nur spärlich bietet. Er sucht trockenen Mist, verdorrtes Gras und Schilf zusammen, holt Wasser herbei, wenn das Faß leer ist, und läßt dann zur Freude der Hunde, die sich so viel als möglich in seiner Nähe halten, eine lange Flamme aufflackern. In das kochende Wasser tut er die nötigen Kräuter, die Hirse und den Kwaß, und der »Borscht«, dieses Leibgericht der Kleinrussen, ist fertig. Dann schlägt er zum Zeichen für die anderen Hirten an den Kessel, oder er steckt eine Fahne auf, nach deren Erscheinen die weiter entfernten schon lange schielten.
Die übrigen Tschabans haben mittlerweile andere Beschäftigung gefunden. Der eine hat ein paar Schafe, die krank erschienen, gefangen und nach Beratung mit seinen Genossen ihnen Heilmittel eingegeben; der andere hat einem gefallenen Schafe das Fell abgezogen, es gereinigt und gesalzen; einige haben wiederum die Mutterschafe und die Ziegen gemolken, die Milch herbeigetragen und Käse gemacht. Da sie oft 500-600 Schafe zu melken haben, so machen sie die Sache kurz ab, nehmen gleich das ganze Euter zwischen beide Hände und drücken es aus wie Bacchus die Trauben. Die so gewonnene Milch stellen sie in die Sonne und lassen sie bis zum Abend gerinnen. Alsdann schütten sie Mageres und Fettes durcheinander in Säcke und reihen diese um ihre Wagen rund herum, um das Wasser auslaufen zu lassen. Den so gewonnenen Käse, der im ganzen Lande unter dem Namen »Brense« bekannt ist, schütten sie alsdann in die Felle junger Ziegen, die so zusammengenäht sind, daß bei der Ausfüllung die Form einer Ziege wieder herauskommt; jedoch wird die rauhe Seite nach innen gekehrt. Dadurch nimmt freilich der Käse einen sehr eigentümlichen Geschmack an, der aber als sehr lecker gelobt wird. Beim Anfüllen der Felle wird immer auf eine Lage geronnener Milch eine Lage Salz gestreut, wodurch der Käse sehr scharf wird. In Odessa sind solche Käsezicklein in allen Kramläden zu kaufen, und der Brense geht weit umher.
Erklingt endlich der Kesselruf des Koches, so setzen sich die ehrlichen, alten, braunen Gesellen zu ihrem einfachen Mahle hin, von dem sie auch gastfrei gern jedermann mitteilen, der etwa auf der Steppe bei ihnen vorspricht.
Für die Hunde gibt es in der Regel einen großen Kessel voll Grützebrei. Doch wissen sie als flinke Jäger noch sonst allerlei auf der Steppe zu haschen und stellen den Vögeln und Kaninchen nach. Ebenso machen sich auch zuweilen die Hirten einen Sonntagsbraten, entweder wenn der Wolf ein Schaf anriß, das sie ihm noch zur rechten Zeit abjagten und für ihre Wanderung einsalzten, oder wenn sich zwischen die Schafe Hasen verliefen, die auf der Steppe, fern von den menschlichen Wohnungen, weder selten noch scheu sind. Auch Trappen erlegen sie mitunter, und das gibt dann festliche Tafel.
Am heißen Mittag fressen die Schafe ebensowenig als die Pferde, stehen immer auf demselben Flecke und schnaufen so leidenschaftlich, als hätte sie eben der Wolf gejagt. Wenn aber die Sonne vom Gipfel ihrer Glut herabsteigt, dann beginnen sie wieder ihr liebstes Geschäft, das Kräutersuchen. Die Schäfer lassen sie bis nach Sonnenuntergang weiden, wo sich dann alles zu der Wagenheimat wendet. Da spricht oft ein Reisender ein, der nicht weiter kann, von der Dunkelheit überrascht. Zu diesem sagen die Hirten, mag er nun arm oder reich sein: »Tut uns die Gnade, mit uns zu speisen!« Dann muß der Wandersmann unter dem Schutze der Hunde bei ihnen schlafen, und er bekommt den besten Platz im Wagen. Am Morgen stecken sie ihm ein paar Schafkäse zu und sprechen: »Gott mit dir!« – Die Schlafordnung aber ist folgende:
Der Oberhirt, als der Älteste (Ataman) und die Gäste wählen die Wagen selbst zum Bette, die anderen Tschabans aber treiben die Schafe in einen dichten Kreis um die Wagen herum und ziehen mit den Hunden einen Schutzgürtel um die Herde. Jeder Hirt legt sich seinen Pelz und seine Swita, die Sommer und Winter sein Ober- und Unterbett bilden, ins Gras der Steppe, und alle lagern sich in gleichen Entfernungen voneinander. Zwischen je zwei Hirten legen sich drei bis vier Hunde, ebenfalls in gleicher Entfernung. Man breitet ihnen ein Stück eines alten zerrissenen Mantels oder Schaffelles an den Boden. Für jeden Hund befindet sich ein solcher besonders für ihn bestimmter Flicken im Wagen, und da nun jeder seinen eigenen Geruch am besten kennt, so legt er sich allemal da nieder, wo er seinen Flicken findet. Die so gesicherte Festung zu stürmen, wagt nicht leicht ein Wolf.
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Die großen Steppenweiden bewirken ferner, daß man auch bei den Rindern zahme Haus- und halbwilde Steppenrinder unterscheiden muß.
In jeder Wirtschaft befinden sich einige Ochsen, die bei den täglichen Arbeiten dienen und vom Hause unzertrennlich sind. Da das Steppenrind zwar treffliche, aber wenig Milch gibt, so hat man jetzt viel mährisches und deutsches Vieh eingeführt, das meist braun und gelb gefleckt ist.
Das Steppenrind ist groß, hochbeinig, langhörnig und durchweg silbergrau oder weiß gefärbt. Beständig gehen lange Züge nach Odessa, Taganrog und anderen Orten.
Wie in dem Steppenlande die Sprache für nichts an Ausdrücken reicher ist, als für das, was auf Herden und Vieh Bezug hat, so hat auch die Rinderherde ihren besonderen Namen. Sie heißt »Tschereda« und ein Rinderhirt »Tscherednik«. Eine solche Tschereda hält 100-800 Stück allerlei Alters. Im Sommer beständig auf den großen Steppen, im Winter in luftigen Stallungen, teilt sie im ganzen mit den Tabunen Leiden und Freuden.
Die »Tscheredniks« sind Fußgänger wie die Tschabani; denn auch ihre Schützlinge sind viel ruhiger und leichter zu treiben als die Pferde. Freilich ist das Rind schnell genug im Weiden, wählerischer in seinem Geschmacke als das Pferd, hat eine Menge von Kräutern auf der Steppe, die ihm nicht behagen, und rupft nie da, wo vor ihm ein anderes biß; aber dafür dauert sein Mahl auch nicht lange, desto länger sein Nachmittagsschläfchen zum Wiederkäuen. Den Regen erträgt es schlecht, und bei der Hitze wird es ungeduldig. Aber bei den Schneestürmen verliert es wiederum nicht so leicht den Kopf wie das Pferd, geht vielmehr rasch und gerades Weges mit dem Sturme und gegen ihn nach Hause, die Wjuga müßte denn gar zu arg sein.
Den Durst erträgt das Steppenrind wiederum leichter als das Pferd. Es kann zwei bis drei Tage dürsten, ohne große Unruhe kund zu geben. Daß es den Durst aber ebenso gern löscht wie das Pferd, davon finden sich in der Nähe jedes Brunnens oder Teiches auf der Steppe merkwürdige Zeugnisse, die zu ihnen führenden »Viehsteige« nämlich, die man als eine charakteristische Besonderheit des Steppentierlebens anführen kann. Das Vieh muß aus sehr großen Entfernungen zum Wasser laufen, sechs bis sieben Werst und noch weiter. Es wird darum nur selten getränkt, zuzeiten nur einmal des Tages. Sowie es nun merkt, daß sich die Zeit des Trinkens naht und der Hirt zu der Gegend des Brunnens hinweidet, nimmt es einen rascheren Schritt an und wird ungeduldiger, besonders wenn der Wind den Wassergeruch vom Brunnen herweht. Die Durstigen hören alsdann auf, grasend vorzuschreiten, und setzen sich in Trab, und die ganze Herde folgt ihnen bald trabend nach. Bei diesem Manöver bilden sie jedesmal mehrere (8-12) lange Reihen, in denen ganz regelmäßig ein Tier hinter dem anderen hergeht und immer gewissenhaft in dessen Spuren tritt, als hätte der Hirt sie so geordnet. Auf diese Weise treten sie alsdann die Rasennarbe völlig weg, und so bilden sich Steige, die ganz und gar den Fußsteigen der Menschen gleichen. Alle diese Wege laufen nebeneinander in gerader Richtung, als wären sie mit der Schnur gezogen, und zielen immer gerade auf den entfernten Brunnen ab. Wenn die Richtung zum Brunnen an einem Abhange hinführt, so bilden sie eben solche Wege an diesem Abhange, der dadurch auf das regelmäßigste abgestuft wird, indem eine Reihe immer etwas höher trabt als die andere.
Das Verhältnis des Wolfes zum Rind ist natürlich ebensowenig freundschaftlich als das zum Pferde. Jedoch sagt man, daß er dem Rindergeschlechte nicht so begierig nachstelle als den Schafen und Pferden, daß er sich an die Schweine noch seltener mache. In eine Herde von lauter großen Rindern wagt der Wolf sich noch weniger als mitten in den Tabun; denn sie halten ebenso stark gegen die Wölfe zusammen als die Pferde, und wo sich nur einer blicken läßt, da sind gleich ein paar Dutzend spitzige Hörner gegen ihn gerichtet, und befindet er sich unglücklicherweise mitten zwischen ihnen, so hat er nicht so viel Gewandtheit zum Entrinnen, als die Hörner Gelegenheit haben, ihn zu durchstoßen. Der Stier meint es sehr herzhaft mit dem Wolfe, daß, wenn er ihn recht trifft, er ihn auf einen Stoß durch und durch bohrt und ihn mit den Hörnern an den Boden heftet. Nichtsdestoweniger schleichen die Wölfe auch hinter den Rinderherden her, und wo etwa ein lahmes oder krankes Tier nachhinkt, da wird es ihr Opfer.
Da die Halsstarrigkeit und der Eigensinn des Rindes wie bei allen schwerblütigen Naturen, die sich einmal verstocken, viel größer ist als bei den Pferden, so kann man sich denken, welche Mühe es kostet, solche Wesen an das Joch zu gewöhnen. Es gibt viele Ochsen, die man mit keiner Kunst noch Gewalt zur Arbeit bringt. Mit solchen ist dann weiter nichts anzufangen, als daß man sie in die Talgsiedereien schickt, die ihnen den Übermut bald ausbrühen.
Was man in der Steppe von der Halsstarrigkeit der Ochsen hört und sieht, ist, glaube ich, mehr als das, was man in dieser Beziehung vom Kamel erzählt. Wenn man einen solchen wilden Ochsen ans Ziehen gewöhnen will, so spannt man ihn zunächst mit einem alten zahmen Ochsen vor einen schweren Holzstamm, den man auf dem Boden hinschleifen läßt. Kommt man hiermit nicht zustande und geht der wilde samt dem zahmen durch, so spannt man jenen mit fünf zahmen Ochsen an einen Pflug, ein Paar vorn, ein Paar hinten, und einen zur Seite. Da muß der wilde Gast denn allerdings wohl langsam und ordentlich mit fort, und kann er das starke Joch nicht zerbrechen, so muß er sich fügen. Nur ein Versuch bleibt ihm noch, welchen er von den eigensinnigen Kindern gelernt haben muß. Er legt sich platt auf den Boden hin und läßt sich von den anderen Ochsen schleifen. Dies fürchten die Leute am meisten; denn läßt man ihm dies ungestraft gelingen, so wiederholt er es in Zukunft bei jeder Fahrt wieder, die ihm mißfällt. Schlagen und zerren am Leitstrick hilft da nichts; ja die stärksten und grausamsten Mittel sind da unwirksam. Am wenigsten verträgt der Ochse die Schläge an den Wurzeln seiner Hörner; aber wenn er eigensinnig ist, so hält er die Erschütterung aus, schlägt mit dem Kopfe um sich und bleibt liegen. Oft hilft ein sonderbares Mittel. Die Leute nehmen nämlich seinen Schwanz zwischen zwei Hölzer und reiben ihn darin hin und her. Dieser Kitzel ist dem Ochsen unerträglich, und meistens springt er dann auf. Was aber ein recht eigensinniger ist, der bleibt liegen und hält aus. Dem verstopfen sie alsdann die Nasenlöcher. Davon schwillt sein Leib auf, die Augen drücken sich aus dem Kopfe, er hebt die Schnauze empor, kämpft nach Luft, und oft kommt er in diesem Kampfe auf die Füße. Aber der schlimme bleibt auch dann noch liegen, und seine Herren, in der Angst ihn zu verlieren, geben ihm schnell wieder Luft. Darauf bringen die Leute, die wohl wissen, daß die ganze Erziehung des Tieres verfehlt wird, wenn sie nicht seines Eigensinns Meister werden, Stroh und Heu herbei und machen rund um ihn ein Feuer an, so daß die Flamme an seinen Seiten hinaufleckt. Die Haare versengen, die Haut springt in Blasen auf, der Ochse streckt den Hals lang auf den Boden hin und stöhnt und schnauft ins Gras, als läge er in den letzten Zügen. Das Feuer verlöscht, der Eigensinn aber wacht nach dieser Probe erst recht auf, und das Tier macht nicht die geringste Miene zum Weitergehen. Die Bauern verzweifeln endlich über diesen argen Märtyrer seines Eigensinns, spannen ihn aus, lassen den Starrkopf liegen und pflügen um ihn herum. Ein recht eigensinniger Ochse ist fähig, so einen halben Tag auf demselben Platze zu bleiben. Sind die Menschen fern, so schaut er listig um sich und tut ganz unbefangen. Nahen sich aber Leute, so duckt er mit dem Kopfe nieder, als wollte er sich noch fester an den Boden klemmen. Endlich, endlich aber verraucht ihm doch die Laune, und was weder Feuer noch Schläge vermochten, das bringt der Hunger zuwege. Er sieht, daß die anderen Ochsen in der Nähe weiden, erhebt sich und schlüpft zu den übrigen ins Gras.
Doch mag auch dem Großrussen und dem Fremdling das Hirtenleben in der russischen Steppe als ein wenig beneidenswertes Los erscheinen, für den schweifenden Nachkommen der Jazygen hat es doch seinen eigenen Zauber, seine Poesie, wie wir aus dem Hymnus des Sarmaten Zercho in Dahns »Bissula« deutlich erkennen:
»Ja wohl, die Steppe ist schöner und herrlicher als alles, was ich je geschaut in Römer- und Germanenland. Wenn im Lenz die Sonne den letzten Schnee weggeküßt hat, wann die Heide lacht, wann die Steppe blüht, wann bei Tage hundert Habichte zugleich kreischen in der blauen Luft und die wilden Hengste, die nie einen Reiter getragen, so furchtbar wiehern in der Brunst und so sturmgewaltig, alles vor sich her niederrennend, an den Zelten vorüberjagen, die zitternden Stuten verfolgend, daß dem Mutigsten das Herz erbeben könnte vor Schreck und doch auch vor Freude an der wilden, unbändigen Kraft! Und oh! des Nachts, wenn die tausend, tausend Himmelsgeister von oben niederschauen, viel, viel mehr Sterngötter und viel heller strahlen als bei euch, und wann im Dunkel die Kraniche und die wilden Schwäne wie dichte Wolken, aber wie weittönende, klingende Wolken hoch durch die Lüfte ziehen! Wohl ist die Steppe der Sarmaten schön und frei das Reiterleben der Jazygen wie kein Land sonst und kein Leben ist. Die Jazygen reiten mit dem Winde um die Wette, sie schlafen jede Nacht auf einem anderen Stück Erde, sie fangen, wenn es nichts Besseres zu beißen gibt, Heuschrecken und Eidechsen!«
Von J. C. Martin.
Zu den ältesten, schönsten und merkwürdigsten Städten Altrußlands gehört Kiew, die stark befestigte Hauptstadt der Statthalterschaft gleichen Namens. An dem linken, steilen bewaldeten Ufer des hier etwa 750 Meter breiten Dnjepr breitet sie sich malerisch nach der Ebene hin aus, und wer einmal oben auf der Höhe beim Wladimir-Denkmal gestanden, wird den Anblick auf den majestätischen Strom und das Häusermeer nicht so leicht vergessen, denn nur Moskau darf sich mit diesem Anblicke von fern messen. Es ist nicht das saftige Grün, das überall zwischen den Häusern hervorleuchtet, sondern das gleißende Gold und Silber auf den fremdartig gestalteten Kuppeln und Ketten der zahlreichen Kirchen, welches die Sinne gefangenhält. Und scheint gar noch die Sonne auf diesen glitzernden Reichtum, dann glaubt man sich in ein wahres Märchenland versetzt.
Kiew zählt annähernd 180 000 Einwohner und zerfällt infolge seiner Lage in die sogenannte Höhlenstadt, von welcher noch die Rede sein wird, in das alte, hochgelegene Kiew, an das sich das von reichen Russen bewohnte Lipki anschließt, und in den am Dnjepr gelegenen Geschäftsteil Podol. Ist die zwischen einer Schlucht sich hinziehende breite Geschäftsstraße, der Kreschtschatik, der Sitz der öffentlichen Gebäude, schöner Läden, moderner Gasthöfe und sonstiger hübscher Privatbauten aus Stein, so begegnen wir im Basar und den angrenzenden Straßen und Karawansereien mehr dem arbeitenden Volke, einem Gemisch der verschiedenen Stämme des großen russischen Reiches: Polen, Tscherkessen, Tataren, Zigeuner und Juden. Schöne Anlagen, wie der Kaisergarten, der Mineralsgarten, Vergnügungsstätten, Theater usw. vervollständigen mit dem ehemaligen kaiserlichen Schloß, den zahlreichen Klöstern und Bettlern das Straßenbild Kiews.
Kirchen und Klöster haben der Stadt ihr religiöses Gepräge verliehen. Von diesen ist die Lawra das größte und berühmteste im ganzen Reiche. Nach diesem Höhlenkloster pilgern jährlich Hunderttausende aus allen Teilen Rußlands, zumeist arme Leute, aber auch Kranke und gebrechliche Greise schleppen sich mühsam von weither nach diesem Mekka, um hier entweder Heilung zu suchen oder, mit neuen Hoffnungen erfüllt, in die Heimat zurückzukehren.
Die Lawra liegt in der von der Festung umschlossenen Höhlenstadt. Hohe Mauern umgeben den gesamten Gebäudebezirk. Vom heiligen Tor aus, gegenüber dem Zeughaus mit den dräuenden Kanonen am Eingang, führt eine ebene Landstraße in den Klosterhof. Zur Zeit der großen russischen Kirchenfeste gleicht der breite, menschenübersäte Platz einer wahren Völkerwanderung, doch herrscht auch an anderen Tagen im Jahre hier stets ein gewaltiger Verkehr. In sackleinene, zerschlissene Gewänder gehüllt, die wunden Füße mit Lappen umwickelt, auf dem Rücken in einem Sacke die wenigen Habseligkeiten und in der Hand das kleine Säckchen mit Kupfer- und Silbermünzen, womit sie ihr Seelenheil zu erkaufen hoffen, so stehen die Pilger bettelnd und plaudernd umher oder kauern ermattet am Erdboden. Zu beiden Seiten des Platzes befinden sich zur ebenen Erde die Zellen der Mönche und Verkaufsbuden, und mitten auf dem Platze erhebt sich der 98 m hohe Glockenturm, dessen vier Stockwerke sich nach oben zu verjüngen.
Von den zur Lawra gehörigen Kirchen ist die bedeutendste die Maria-Himmelfahrts-Kathedrale; ihre sieben vergoldeten Kuppeln sind gewissermaßen das Wahrzeichen Kiews. Sie ist in überladenem Rokokostil nach dem Brande im Jahre 1729 neu aufgebaut und strotzt im Innern von Gold und Silber. Der Ikonostas,Vergl. S. 142. ganz aus vergoldetem Silber hergestellt, reicht fast bis zur Decke. Kostbare Heiligenbilder, mit Diamanten und farbigen Edelsteinen geschmückt, bedecken die Wände. Ein besonders altes Marienbild wird an bestimmten Festtagen mittels Ketten herabgelassen, um geküßt zu werden, auch pflegt man es bei herrschenden Seuchen um die Mauern der Lawra herum zu tragen. Die Kathedrale, im Innern finster wie spanische Kirchen und mit Weihrauch gesättigt, ist stets angefüllt von Andächtigen, die entweder inbrünstig betend am Boden liegen und sich unaufhörlich bekreuzigen oder die Heiligenbilder küssen, weshalb das Beschauen und Umhergehen geradezu beängstigend ist. Unaufhörlich und überall ertönt das Geläute greller Glocken an die Ohren, dazwischen aber auch der wohltönende Baß der zelebrierenden Geistlichen. Der nicht dem griechischen Glauben Ergebene ist schließlich froh, aus dem Gewühl herauszukommen.
Eine überdeckte Holztreppe führt zur Kirche der Kreuzerhöhung, und hier befindet sich der Eingang zum Höhlenkloster des heiligen Antonius. Wir schließen uns den Pilgern an, kaufen ein paar Kerzen und folgen nun auf einem durch beständiges Abtropfen von Stearin schlüpfrig gewordenen Gange dem führenden Mönche. Die Luft ist heiß und wirkt fast erstickend. Das Gemurmel wird lauter, wir haben heiligen Boden betreten. Die an beiden Seiten befindlichen, in den weichen Kalkstein gehauenen Nischen enthalten die Grabstätten von Heiligen, deren eingetrocknete Leichen, mit kostbaren Gewändern umhüllt, hier aufgebahrt liegen, und die jetzt zugemauerten Höhlen, worin büßende Mönche jahrelang gehaust haben. Ein aus einer schmutzigen Bodenerhöhung hervorragendes Haupt, gänzlich vertrocknet und mit einer hohen Mitra bedeckt, wird besonders verehrt, denn dieser sonderbare Einsiedler soll der Sage nach bis an die Arme vergraben dreißig Jahre lang in dieser Stellung gelebt haben. Bei all diesen Heiligen senkt sich der gläubige Mund zum Küssen der Gewänder, und stets fällt reicher Segen an Kupfer oder Silber in die angebrachten Opferschalen. Mühsam erspartes und zusammengebetteltes Geld! Was bedeutet der Peterspfennig gegenüber diesem Geldstrom!
Der Stifter des Höhlenklosters soll der Russe Hilarion sein, welcher, bevor man ihn zum Metropoliten ernannte, hier in einer selbst gegrabenen Höhle viele Jahre als Einsiedler lebte. Er fand bald Nachahmer unter den gläubigen und frommen Söhnen des heiligen Reiches, und die Lawra, ein alter orientalischer Name für Mönchsansiedelungen, wurde bald von der hohen Geistlichkeit in Moskau und im Orient anerkannt. Die Lawra ist das reichste Kloster Rußlands und übertrifft an Wert noch das Troizakloster bei Moskau. Es wird berichtet, daß der verstorbene Zar hier sieben Millionen Rubel entliehen haben soll, sie aber nie zurückgegeben habe.
Kiew besitzt noch mehrere solcher Höhlenkloster, doch sind diese kleiner und weniger berühmt.
Quellen: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung 1898, Nr. 88. Tromnau-Eckert, Kulturgeographie des Deutschen Reichs. 3. Aufl. S. 118 ff. Halle a. S. 1904, H. Schroedel. Über eine halbe Million unserer Landsleute wohnen im europäischen Rußland an der Wolga und, da sie kulturell meist über ihre Wirte hervorragen, haben sie auch Sprache und Sitte, auch ihren Glauben aus dem Heimatlande in der Fremde bewahrt. Ja, es gibt dort deutsche Ansiedlungen, deren Bewohner kaum Russisch verstehen. Neben den Württembergerkolonien am Finnischen Meerbusen in der Nähe von St. Petersburg, neben den Siedelungen am Schwarzen Meere vom Pruth bis zum Don und denen im Kaukasusgebiete sind besonders die Wolgakolonien zu nennen, welche 102 Stammkolonien auf dem Berg- und Wiesenufer dieses russischen Riesenstroms von Samára über Sarátow bis nach Sarepta, der Herrnhuterstadt, umfassen. Zu ihrer Blüte hat nicht wenig »Mütterchen Wolga«, die Ernährerin, beigetragen, wie sie die Russen in halbbewußter Ahnung ihres wirtschaftlichen Wertes nennen. Sie haben den Ursprung ihrer Matjuschka aufgesucht in einer moorigen, seenreichen Gegend der Waldaiberge und glauben ihn auch bei dem Dörfchen Wolgino Werchowje gefunden zu haben; denn sie haben dort eine kleine hölzerne Kapelle erbaut, ein Denkmal der Heimatliebe, des Natursinns und der Frömmigkeit zugleich, obwohl sie kaum die Quelle der Wolga bezeichnet. Rasch schwillt der Strom und hat bei Rybinsk schon fast 2 km Breite. Von Nischnij-Nowgorod ab, wo sie die fast gleich große Oka aufnimmt, entwickelt sich der europäische Riesenstrom mehr und mehr; er übertrifft an Wasserfülle und Breite die Donau und hat dabei die Lieblichkeit des Mittelrheins an seinen Ufern. Rechts sind, wenn man abwärts fährt, fast überall steile Gehänge waldiger oder samtgrün beraster Berge mit tiefen Waldschluchten, links fruchtbare Felder und Wiesen. Am Knie von Samára treten an beide Ufer die Schegulinberge heran und schaffen ein malerisches Landschaftsbild.
Vom Dampfschiffe aus erkennt man an den spitzen Kirchtürmen, den gut gebauten Häusern und den langen Windmühlenreihen bald die zahlreichen deutschen Dörfer an der Wolga, die heute in großer wirtschaftlicher Blüte stehen, nachdem sie im Anfange, als sie das durch den Vernichtungskampf der Russen und Tataren, durch die Raubzüge der Steppenvölker und die furchtbaren Kosakenaufstände verödete Land auf das Betreiben Katharinas II. besetzten, nicht recht gedeihen wollten. Mehrere haben heute 3000 Einwohner; Katharinenstadt hat etwa 10 000 Einwohner, es hat Ackerbau und Gewerbtätigkeit gegen den Wolgahandel vertauscht. Die Russen nennen den Ort Baronski.
Von diesen Kolonien bei Samára und Sarátow unterscheidet sich die Herrnhuterkolonie Sarepta in der Nähe der Sargamündung und der Teilung des Stromes in Wolga und Achtuba bei Zarizyn. Den Namen erhielt die Kolonie 1770, als sich die ersten Herrnhuter nach der entbehrungsreichen Durchwanderung der öden Steppen hier häuslich niederließen, wie Elias einst nach langer Wanderung vom Bache Krith bei der Witwe zu Sarepta im Lande der Sidonier. Das Gemeindesiegel der neuen Gründung zeigt deshalb noch heute das Mehlkad mit Kornähren und den Ölkrug unter dem Olivenbaum. Die Zähigkeit des Elias und sein ausharrendes Gottvertrauen waren ein gutes Vorbild für die jungen Ansiedler, die schon drei Jahre später von Kosakenhorden ausgeplündert, deren Felder oft von Heuschreckenschwärmen vernichtet wurden, die Mißernten, Feuersbrünste (1823), Krankheiten unter Menschen und Tieren oft zu vernichten drohten. Kalmücken und Kirgisen suchte man durch ein kleines Kastell abzuwehren, das die Regierung mit einigen alten Geschützen ausstattete und mit 12 Mann besetzte. 100 Jahre lang hat so das Schicksal der Kolonie geschwankt, jetzt aber blüht sie auf; Sareptasenf und Sareptabalsam kennt ganz Rußland. Dieser Balsam wird aus Steppenkräutern hergestellt, die bisher niemand beachtete; auch die Senfpflanze wuchs hier wild, als sie ein findiger Deutscher, namens Klitsch, zur Quelle seines heute nach Millionen zählenden Vermögens machte. Talgsiedereien verdanken ihr Entstehen dem Rinderreichtum der Steppe, ebenso die Lederfabriken. Tabakbau ist die Grundlage eigener Tabakverarbeitung. Daneben blüht der Wein-, Obst- und Gemüsebau. Die früheren Räuberhorden der Kalmücken decken jetzt den Arbeiterbedarf der Fabriken. Mit Russen steht Sarepta wohl in Geschäftsverbindung, aber sie meiden den Ort selbst wegen seiner pietistisch-strengen, weltabgewandten Art, die dem lebenslustigen Russen ein Greuel, der Inbegriff der Langeweile ist. »Sarepta ist eine Welt für sich, die vor Langeweile schläft und nicht gestört sein will«, sagen sie; denn sie vermissen die Lust des Trinkens und Zechens, die Lust feuriger Tanzmusik oder heiterer Lieder – das stille, beschauliche Leben in ewig gleichen Geleisen: Tags Arbeit, abends Kirchgang und Plauderstündchen auf den Veranden, um 10 Uhr Bettruhe; Sonntags Predigtgottesdienst, nachmittags geistliche liebliche Lieder oder Geschichten daheim; genau wie es das Herkommen der Brüderunität vorschreibt; nie Tanz, nie Gesellschaften und Gastmähler, nie Spiel und öffentliche Vergnügen, – solch Leben hält kein Russe aus.
Aber der Erfolg, die Früchte rechtfertigen dieses Leben. Wenn man von der Landungsbrücke an der Wolga durch die malerischen Hügel, dann durch die hitzestrahlende Steppe fährt, prangt die Stadt Sarepta wie eine Oase am Fuße der Wolgahöhen. Sie nähern sich hier, einen Halbkreis für die Stadt offen lassend, zum letzten Male dem Strome, dann verlieren sie sich in der Kalmückensteppe. Weiße Häuschen bergen sich im Schatten grüner Pappeln, Eichen, Maulbeerbäume. Staubige Gäßchen führen zum Hauptplatze, auf dem in einem Kranze von Pyramidenpappeln eine kleine gotische Kirche steht. Gemeindehaus, Pfarrhaus, Schule, Kaufhaus, Gasthaus und Bäckerei rahmen den Platz ein. Erklimmt man einen der Gipfel der Wolgahöhen, so wird einem staunend der Gegensatz klar zwischen der öden, Grabesfrieden atmenden Steppe draußen und dem Oasenstädtchen, das deutscher Bienenfleiß und herrnhutische Frömmigkeit hierhergezaubert haben mit seiner Kirche, seinen weißen Häuserzeilen und qualmenden Fabrikschornsteinen. – Im Norden aber winken die Zwiebelkuppeln der orthodoxen Russenkirchen der Handelsstadt Zarizyn, im Osten glänzt der Spiegel der Wolga zwischen waldigen Sumpfinseln hervor, über allem aber wölbt sich der blaue, wolkenlose, lichtdurchflutete Steppenhimmel.
Andere Bauernsiedlungen liegen in der Nähe von Saratow. Ein deutscher Kriegsgefangener vom Juli 1916 schildert das Leben unter diesen »Hessen mit ihren Löwenmähnen« sehr hübsch in der Zeitschrift des Vereins für das Deutschtum im Auslande:1919, Heft 40.
»Nach kurzem Marsche sahen wir das Dorf Anton in einer Talsenkung vor uns. Ganz anders sah es aus als die Russendörfchen, durch die wir bisher gekommen waren. Weiß getünchte Häuser mit Strohdächern, Backsteinhäuser mit Ziegel- und Blechdächern boten sich unsern Blicken dar, und in der Mitte stand eine Kirche von derselben Art, wie wir sie aus der Heimat kannten. Es war ein richtiges deutsches Dorf. Die Straßen waren nicht gepflastert, aber es lag wenigstens kein Schmutz darauf; die Häuser alle weiß getüncht, und fast vor jedem Hause stand eine Bank. Was mir besonders auffiel, waren die Torwege, zwei schlanke Pfosten mit seltsam geschnitzten Köpfen russischer Herkunft. Das Wohnhaus mit den Schlafzimmern usw. hatte in der Regel einen Vorgarten nach der Straße hin, dessen Fliederbüsche mit ihrer duftenden Last im Sommer die Fenster beschatteten. Außer dem Wohnhaus besaß jeder Hof noch ein zweites, meist unheizbares Gebäude, das »Backhaus«. Hier spielte sich im Sommer das Familienleben ab, um das Wohnhaus zu schonen. Den Namen »Backhaus« hat es nach der großen »Plieta«, einem russischen Koch- und Backofen, der den größten Teil der Küche einnimmt.
Die Kleidung der Wolgadeutschen ist äußerst einfach. Die Männer tragen einfache weiße oder farbige Russenhemden, schlichte schwarze Anzüge, dazu die schwarze Mütze und die in Rußland unvermeidlichen hohen Stiefel. Die Kleidung der Frauen besteht aus einem dunkeln, faltigen Rock mit heller Bluse und einem einfach gemusterten Kopftuch. Im Winter ziehen die Frauen meist nur noch ein kurzes, mit Schafwolle gefüttertes, eng anliegendes Jäckchen, das »Koftche«, über, und das leinene Kopftuch wird mit einem wollenen vertauscht. Die Männer tragen entweder den »gälen Faltepelz« der Russen aus gegerbten Schaf- oder Ziegenfellen mit der Wolle nach innen oder einen schwarzen Faltenpelz. Solch ein schwarzer Pelz ist bis zu den Hüften eng anschließend gearbeitet und hat dann bis zu den Fußspitzen eine weite faltige, rockartige Verlängerung. Die sommerliche Schirmmütze und die Lederstiefel werden mit einer hohen Lammfellmütze und Filzstiefeln vertauscht. Auf seinen schwarzen »Faltepelz« ist der Ansiedler äußerst stolz; denn »do schaat'r aus wie a richt'ger Deitscher«. Und wirklich, wenn man an einem stillen Wintertage so einen würdigen alten Herrn mit seinem schwarzen Pelz gemächlich daherwackeln sieht, »do maant mer grad«, es käme ein richtiger hessischer Bauer in seinem sonntäglichen Bratenrock daherstolziert. Tatsächlich stammt auch ein großer Teil dieser Wolgadeutschen aus Hessen, wovon ich mich durch Einsicht in die Kirchen- und Gemeindebücher überzeugen konnte. –
Wenn die Sonne untergegangen ist, ruht jede Arbeit. Dann besuchen sich die Nachbarn, setzen sich auf die Bank vor dem Hause, zünden ihr Pfeifchen an oder »wicklen sich aans«, d. h. sie drehen sich eine Zigarette und fangen an, »Rot zu halla«: sie erzählen sich etwas. Die »Mädercher« sitzen still bei ihren Müttern, wenn sie sich als »Kindsmaad« zu betätigen haben. Die jungen Burschen dagegen ziehen truppweise durch die Straßen und singen, wenn sie nicht auch »spiele gehn«: Besuche machen. Bei diesen Sangesbrüdern wird eifersüchtig darüber gewacht, daß die »Obergässer« sich nicht in die »Unnergaß« oder die »Gänsgässerer« sich nicht in die »Kerchgaß« verirren, sonst könnte leicht mal einer »gerisse« oder »gehullaxt« werden. Kurz und gut, es ist dann nicht gut mit ihnen Kirschen essen, und sie sind bereit, über jeden herzufallen.
Eine große Neigung haben diese Deutschen, sich Spitznamen oder, wie man dort sagt: »Uhnamen«, anzuhängen. Da gab's einen »Flohhannes«, einen »Speckmichel«, einen »Hickelhannes«. Aber das ging noch an; als ich später in Balzer (Goloj-Karamysch) lebte, lernte ich dort zwei Webermeister kennen, von denen der eine der »Sandhas«, der andere »das uralte Apostelmaul« genannt wurde. Ein dritter wurde das »Hosenmuster« genannt, weil er es gewagt hatte, statt der althergebrachten schwarzen Hose eine kreuzgestreifte englische zu tragen usw.
So lernte ich bald alle umliegenden Dörfer: Moor, Messer, Beideck, Grimm, Norka usw. kennen und lebte mich immer mehr bei den Ansiedlern ein, daß man mich schließlich selbst für einen Kolonisten hielt; man hatte vergessen, daß ich Kriegsgefangener war. In Balzer wurde ich einst nach einer Theateraufführung, bei der ich mitgewirkt hatte, gefragt, ob ich Schauspieler wäre. Als ich verneinte und sagte, daß ich vor dem Kriege in Berlin orientalische Sprachen studiert hätte, fuhr es einem braven alten Herrn, der daneben stand, heraus: »Un eich hunge denkt, Ihr sad aaner von dere Wiesseseit!« (Wiesenseite, das linke Wolgaufer, wo die Siedler eine etwas andere Mundart sprechen, im Gegensatz zum rechten Bergufer).
Vergessen wir es nicht, das knorrige, wetterharte Völkchen an der Wolga. Sie sind deutsch geblieben, die Wolgasiedler mit ihren guten alten verwitterten Gesichtern, mit den scharfgeschnittenen Hakennasen, deutsch geblieben im Fühlen und Denken und hoffen auf ihr altes Vaterland, daß es ihnen einst wieder die Hand zur Rückkehr entgegenstrecken werde.«