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1. In der Po-Tiefebene. – 2. An der Riviera. – 3. Im heutigen Rom. – 4. Karneval im päpstlichen Rom. – 5. Die römische Campagna. – 6. Neapel. – 7. Pompeji. – 8. Skizzen aus Sizilien. – 9. Malta. – 10. Küstengrotten des Mittelmeers.
Quelle: Viktor Hehn, Italien. Berlin 1896, Gebr. Bornträger. Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
Und schnob durchs Welschland trüb und feucht
Die Wolken flogen vor ihm her,
Wie wann der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den Forst,
Auf Seen und Strömen das Grundeis borst.
Am Hochgebirge schmolz der Schnee;
Der Sturz von tausend Wassern scholl:
Das Wiesental begrub ein See,
Des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
Und rollten gewaltige Felsen Eis.
Das Welschland, das uns hier der Dichter nennt, ist ein anderes Italien, als wir es uns gewöhnlich vorstellen, wenn wir den Namen hören: hier im Mündungsgebiet der Etsch und des Po und vieler anderer Alpenflüsse, hier im südlichen Vorlande der Alpen und im Küstenlande der Adria dürfen wir nicht die sonnendurchstrahlte, schon an das wüstenhafte Afrika im Süden gemahnende, braungoldene, trockene Felslandschaft erwarten: nein, hier empfängt uns Marschenluft und Marschboden, eben, dunstig, von Kanälen und Flußarmen, zwischen Deichgeleisen schleichend, durchzogen; Moore und Sumpflachen, Sandbänke und Haffbildungen, Lagunen, Rohrdickichte voller Fiebermücken und Frösche, aber auch Weiden mit hohem Gras und buntem Milchvieh, Mais- und besonders üppige Weizen- und Reisfelder. Der Boden ist von dem Schlamm und Geröll der Alpenflüsse gebildet und wird vom Menschen seit der Veneter Zeiten umgestaltet: entwässert und eingedeicht. »Hier sind die Niederlande Italiens, hier ist die Heimat der Wasserbaukunst, klassischer Boden für Arbeit mit Grabscheit und Richtwage seit uralter Zeit.«
Wenn im Herbst und Frühjahr, den Regenzeiten Italiens, Wassergüsse oder Schneeschmelze die lombardischen Flüsse füllen, wenn der Po sichtbarlich mit jeder Viertelstunde steigt und der Schirokko mit wütenden Schauern die Nacht durchsaust, dann eilt der Mensch an die uralten gewaltigen Dämme, die das Kulturland vor der Wut des Wassers schützen sollen; von Cremona an ziehen sie bis zur Mündung des Pos. Wo die Wogen den Damm zu unterwaschen drohen, wird durch Alarmzeichen der Deichbann aufgeboten, Faschinen und Sandsäcke werden versenkt, um den Bruch zu verhüten. So auch an der Etsch und all den anderen Alpenabflüssen! Ein Dorf wacht eifersüchtig darüber, daß das andere seine Pflicht tut, Deichpolizei und Deichgesetze sichern den Zustand der schützenden Wälle, hinter denen die Flüsse in hochgelegenen Betten, höher als das umgebende Land, dahingeschoben werden. Der Po zum Beispiel hat je näher seinem Delta kein Gefälle mehr, überfüllt und übersättigt drängt der Wasserdruck von oben her langsam die Flut vorwärts dem Meere zu, mühsam durch das eigene Schlammland seines Deltas sich durchringend, oft sich verstopfend, dann durchbrechend und einen anderen Weg zur See suchend, während der alte ein toter Arm, ein fiume morto, wird. So brach er im Mittelalter, 1152, nach Norden durch und näherte sich der nach Süden drängenden Etsch; der Mensch aber legte auch Durchstiche an und gab den Gewässern neuen Lauf in einem taglio, um der Schiffahrt eine bessere Straße zu öffnen. Auf den Kanälen, die ja von Venedig bekannt sind, aber auch sonst überall das Land durchziehen, gleiten Schiffe langsam hin; aus der Ferne sieht es aus, als führen sie über die grünen Wiesen hin. Den Alten war es schon ein geläufiger Vergleich, daß das Land der Veneter das Ägypten Italiens sei. Hier erhob sich die Nebenbuhlerin Roms, Ravenna, am Meere, unter Augustus eine mächtige Flottenstation, als Vorläuferin der eigentlichen Lagunen- und Wasserstadt Venedig, ward aber bald durch die Anschwemmungen ins Land zurückverlegt und ist heute 15 km von der Küste entfernt, voller Baudenkmäler als den Erinnerungen seiner Glanzzeit, umgeben von Sumpf und Pinienwald. Ein ähnliches Schicksal hatte die griechische Seestadt Spina nördlich von Ravenna, sie ist jetzt ganz verschwunden, die alte Hatria, die dem Meere den Namen gab, zwischen Po und Etsch, Padua, Altino und Aquileja als äußerster Vorposten gegen Osten am Isonzo. In der Zeit der Völkerwanderung wurden die Erfahrungen der Wasserbaukunst, des Pfahlrostbaus usw. von Flüchtlingen auf einige flache Sandbänke und Inseln im seichten Meere draußen in den Lagunen des Deltas übertragen, und die Herrscherin der Adria, Venedig, war gegründet. Aber trotzdem, daß hier in jahrhundertelanger Arbeit der Mensch den Weg zum Meere offen zu halten suchte, geht auch sie, Venezia la bella, dem gleichen Schicksale ihrer Vorschwestern entgegen. Durch Dämme wehrte man dem Meere und ließ nur der Flut gewiesene Gassen offen; ungeheure Summen verwendete der Freistaat der Venediger darauf, die Anschwemmungen des Po, der Etsch, der Brenta und Piave vor allem von der Stadt und ihrer Umgebung abzuleiten, Fahrstraßen ins Innere wie zum Meere freizuhalten.
Als aber das Mittelmeer mit der Entdeckung Amerikas aufhörte, das Welthandelsgebiet zu sein, als die Dogenrepublik fiel, als Triest als Nebenbuhlerin auftrat, da war der Rückgang der alten Adriastadt besiegelt. La bella ist sie trotzdem geblieben, und es ist ein herrlicher Anblick für jeden Fremden, der über die lange Lagunenbrücke heutzutage sich auf der Eisenbahn, nicht mehr auf dem Schiffe der abendbeglänzten Inselstadt nähert, die wie ein zackiger Goldstreif auf der blauglitzernden Lagune liegt, märchenhaft fern, im feuchten Luftblau verschwimmend, wie die Erfüllung des Traumes von der Stadt der güldenen Gassen. Das Auge sucht jetzt wieder den stolzen Markusturm, der in sich selbst zusammensank, aber durch die Opferwilligkeit des italienischen Volkes zu neuer Schönheit wieder aufstieg. Sonst freilich Verfall überall an den Prunkpalästen der Dogen mit ihrem phantasievollen Bauschmuck, ein Träumen, ein Schlummern wie Dornröschenschlaf liegt über der Stadt des geflügelten Markuslöwen, der einst seine Schwingen schützend über das östliche Mittelmeer, über Dalmatien, Morea, Cypern breitete. Leben und Schaffen der Stadt hängt an dem Fremdenbesuche, doch hat sich in einer Beziehung Venedig den stolzen Namen als Herrscherin der Adria bewahrt. Wenn man vom Markusplatze zur Rialtobrücke wandert mit ihren Basarlauben, empfängt einen ein scharfer Fischgeruch, der einer Riesenhalle aus Eisen entströmt. Hier wird der letzte Tribut der Adria – ihre Fischfülle aufgestapelt. Da liegen bis 2 m lange Thunfische, deren Fleisch, in Olivenöl gebraten, ein Leckerbissen ist, Störe mit ihrem Schuppenpanzer, dann kleine Hundshaie, die »Briganten des Meeres«. Feine Speisefische wie »Sole« und »Brancino«, der goldschuppige Dorato, der weißrot schillernde Triglio, flundernartige, aalartige Fische, die winzigen »Frutti di Mare« werden auf Korbdeckeln in ungeheuerer Menge und zu sehr billigen Preisen feilgeboten, mit italienischer Lebhaftigkeit in Zungen- und Gebärdensprache verhandelt. Kinder hocken um einen Tisch und drücken aus einem Haufen schleimiger Tintenfische die Rückenschulpe, die ossa sepiae, heraus, damit diese »zu scheußlichen Klumpen geballten« Weichtiere in Öl gebacken und verspeist werden können. Dort krabbeln breite Taschenkrebse in den Körben, dort hummerähnliche Langusten, dort stehen Teller mit Krabben, Miesmuscheln und vielen anderen Lagunenmuscheln. Das ist der Fischmarkt von Venedig, für die Ernährung der Stadt so wichtig wie anderswo der Gemüse- und Fleischmarkt.
Über der Lagune, auf der sich sonnendurchleuchtete Barkensegel rötlich blähen und weiter blauer Himmel spiegelt, draußen auf der dünenreichen Nehrung, die hier Lido (litus lat.) heißt, liegt jetzt ein großes modern eingerichtetes Seebad, das nicht nur von Italienern besucht wird.Nach der Illustr. Zeitung vom 22. Oktober 1903. Eine Dampfbarkasse führt uns von Venedig hinüber an den Landungsplatz, dort nimmt uns eine Pferdebahn auf, für die Venediger, die nur die Gondel als Verkehrsmittel kennen, ein staunenswertes Ding. Die Badeanstalt ist ein großes neuzeitlich eingerichtetes Gast- und Kurhaus mit langem Altan und großem Saal, die Seitengebäude enthalten die Badezellen. Dort herrscht neuzeitliches Leben: die feine Welt plaudert an den Marmortischchen des Altans und nascht von gelato oder granite oder schlürft Eisgetränke durch Strohhalme, die Kurkapelle spielt. Drunten in den salzigen Wogen tummeln sich wasserfröhliche Menschen. Die Badezeit der Italiener ist Juli und August, die fremden Gäste verweilen hier bis in die Mitte des Novembers. Gasthäuser gibt es in Menge. Auf der Nachbarinsel San Lazzaro liegt seit 1717 ein armenisches Kloster, ein Orden der römischen Kirche pflegt dort besonders die heimische Sprache und Literatur. Er nennt sich nach dem Armenier Petro Mechitar (1676 geboren), der von Konstantinopel nach dem venetianischen Morea und 1715 im Kriege zwischen Venedig und der Türkei ganz nach der Lagunenstadt wanderte.
Wer aber an den Werken einstiger Macht und Größe in Venedig sich satt gesehen hat und des modernen Badelebens am Lido überdrüssig geworden ist, der suche das Volksleben der italienischen Fischerstadt Chioggia auf, 26 km südlich von Venedig auf einer Nehrungsinsel. Mächtige Steinmauern, die Murazzi, 15 m breit und 10 m hoch, sind hier von den letzten Dogen zum Schutze gegen die Wogen der Adria erbaut worden. Die Männer sind draußen auf der See groß geworden; ernst und ruhig schreiten sie einher, die Tonpfeife im Mundwinkel, die rote Mütze auf dem Haupte. Die schönen Frauen treiben ein wenig Gartenbau im Stadtteile Sottomarina, am Hafen. Die Gassen sind eng und schmutzig, nur wenige Kanäle durchziehen die bunten Häuserfluchten, an deren Stirnseite überall im Sonnenschein Wäschewimpel wehen. Der Abend wird am »Korso«, der Hauptstraße, nach dem heißen Tage durch Gesang und Gitarrenmusik gefeiert, da zeigt sich die alte Volkstracht der Frauen und Mädchen, die schmucke tonda oder indiana auf dem Haupte wird mit vollendeter Anmut getragen. Italienische Maler holen sich ihre Vorbilder und in dem Gewinkel der Gassen und Höfe reiche Anregung.Nach dem Dresdner Anzeiger vom 17. Sept. 1900.
Quellen: Viktor Hehn, Italien. Berlin 1896, Gebrüder Bornträger: E. Strasburger, Streifzüge an der Riviera. Jena 1904, Gustav Fischer. Die schmale ligurische Steilküste des Golfes von Genua hat durch ihre klimatische Begünstigung Weltberühmtheit erlangt. Indem sich hier Alpen und Apenninen die Hand reichen und wie ein Sturmbock gegen alle die Himmelsgegenden stemmen, aus denen rauhe, ungünstige Wetter in der nördlich gemäßigten Zone nahen können; indem sich in diesem nach Süden geöffneten Gebirgsbogen ein warmes Meer ausbreitet, das wie eine Warmwasserheizung wirkt und der milden Südluft Tor und Tür öffnet, daß sie sich schmeichelnd in diesem Winkel fängt; indem endlich auf die Küstengehänge durch die feuchtklare Seeluft hindurch das reinigende, heilende, warme Sonnenlicht fast das ganze Jahr lang auffällt – ist hier ein bevorzugtes Gestade, ein Sonnenland entstanden, das von Urzeiten her ein Lieblingsaufenthalt des europäischen Menschen gewesen ist. Nach der Sonne richten sich auch die Namen der Riviera, die von Spezia, dem italienischen Kriegshafen, bis Genua R. di Levante, des Aufgangs, von Genua bis Toulon hin, dem französischen Kriegshafen, R. di Ponente, des Niedergangs genannt wird.
Die wichtigste Stelle dieser Küste ist der innerste Winkel, von dem aus das städtereiche Ufer der beiden Rivieren auf dem Wasserwege nach allen Seiten leicht zu erreichen, zu versorgen und zu schützen war. Hier entstand Genua, eine Seestadt, die ihre Verbindungsfäden durch das ganze Becken des Mittelmeers im Mittelalter gezogen hatte und bis ins Schwarze Meer hinein gefürchtet war. Ihr verdankt es die ligurische Küste, daß sich perlschnurartig Ort an Ort ans Meer schmiegen konnte, während sonst die Gestade des Mittelmeers so leer sind, weil sich die Siedlungen landeinwärts zogen aus Furcht vor »dem Korsaren, der die Küste verwegen durchkreuzt«.
Die alte Feindin Genuas, Venedig, zeigt heute alle Spuren des Verfalls, hier aber herrscht auch unter dem veränderten neuzeitlichen Weltverkehr Leben, Schaffen, Aufschwung. Mit einem Aufwande von 20 Millionen Lire ist ein gewaltiger Hafendamm aufgeführt worden, um ein stilles Landungsbecken für die zahlreichen Schiffe zu schaffen. An der mauergeschützten Berguferwand bauen sich mit Gärten und Bogengängen die Häuser der Stadt bis 300 m hoch auf. Der Raum ist knapp, daher sind selbst die Palaststraßen so eng, daß man die prächtigen Schauseiten der Gebäude nicht mit dem Blicke umspannen kann; daher sind die Häuser fast alle in die Höhe gewachsen und oft zu turmartiger Entwicklung gediehen; daher sind freie Plätze im alten Genua sehr selten. Auch die Verbindung Genuas mit dem Hinterlande war trotz der hohen Berge gerade hier ziemlich günstig; die Eisenbahnen gelangen durch zwei tiefe Einschnitte im Kamme, »Bocchettas« genannt, die noch von Tunnels in 3-400 m Höhe durchbohrt sind, nach der Stadt. Das Gelände der heutigen erweiterten Stadt ist natürlich ziemlich bewegt, aber die Technik überwindet diese Verkehrsschwierigkeiten durch Brücken und Tunnels auch für die elektrischen Bahnen, die den alten Stadtteil am Meere mit den neueren Vierteln am Berghange verbinden.
Der Reichtum, den der See- und Landhandel in die Stadt trägt, zeigt sich bis heute in dem Kunstsinne der Genuesen. Wie in allen italienischen Städten von einiger Bedeutung hat die Stadt ihren denkmalreichen Campo santo, er wird von vielen für den schönsten Italiens erklärt. Auch die Bauten und Denkmäler, zum Beispiel das des Kolumbus, sind Zeugen dafür.
Den anderen zahlreichen Orten der Riviera, außer Savona etwa, fehlt vor allem die günstige Rückwärtsverbindung mit dem Hinterlande, sie haben dafür als Gesundungsstätten, als Lustorte eine hervorragende Bedeutung. Wegen des langen warmen Sonnenscheins, der allen Bakterien feind ist, wegen des milden Seeklimas ziehen sich während des nordischen Winters vornehme Kranke gerne zur Erholung in irgendeinen der bekannten Kurorte wie Nervi, San Remo, Bordighera, Mentone usw. zurück; andere suchen diese herrliche südliche Landschaft rein zum Vergnügen auf. Das ist seit den Römerzeiten schon so gewesen. Zweierlei nur stört die Genesung der Kranken und die Lust der Reichen, der Mistral, ein kalter Fallwind von den Höhen der Seealpen, und der Staub, der sich auf den Landstraßen aus dem feinen Kalksteine der ligurischen Küste entwickelt. Doch sind manche Orte nach beiden Seiten hin von diesen Störenfrieden frei und deshalb am besuchtesten. Am meisten hat vielleicht die Gegend um Toulon durch den Sturzwind zu leiden. Am günstigsten liegt die Küste von Cannes bis San Remo. Hier beginnen an geschützten Stellen die Veilchen schon im Dezember zu blühen, die Schwalben versäumen ihre Südwanderung, und die Eidechsen vergessen ihren Winterschlaf. Denn Insekten sind zu allen Jahreszeiten wach und schwirren durch die warmen Lüfte.
Die Orte liegen meist tief in kleine rundliche Golfe geborgen, im innersten Winkel, oder hoch oben auf den felsigen Vorgebirgen. Wie Schwalbennester kleben die weißen Häuser mit ihren offenen Fensteraugen rund um die Marina, den Hafen, mit seinen Ruderbooten und Segelschiffchen, die dem Verkehr und dem geringen Fischfange dienen. Lose bekleidete Männer flicken ihre Netze am Ufer, Frauen und Mädchen kommen aus den Terrassengärten, den Korb mit Anmut auf dem Haupte tragend, um auf dem Markte, auf den Steinfliesen am Brunnen ihre Früchte oder Blumen feilzubieten. Braune Kinder jagen sich in den engen Gassen, zwischen den turmhohen Häusern, die oft 10 Stockwerke wegen des Raummangels haben, selbst in so kleinen Städten wie Camogli.
Die Hochortschaften auf den Vorgebirgen tragen meist Ruinen alter römischer Villen, mittelalterlicher Wachtürme oder Lustschlösser oder scharen ihre Häuser um ein Kloster oder eine Einsiedelei mit einer Madonnensäule. Heutzutage sind diese vielfach von Hotels abgelöst worden, die Wachkastelle von Leuchttürmen, Wetterwarten, Signalstationen.
Soweit die Urgeschichte in graue Vorzeit hinaufleuchtet, findet sie an der Riviera auch Spuren des Menschen, der es sich an dem sonnenwarmen, von üppigem Pflanzen- und Tierleben überfluteten Gestade wohl sein ließ.
Der Fürst von Monaco hat die Höhlen von Mentone sorgfältig und planmäßig erforschen lassen. Seit der bekannte Anthropologe Rivière in einer dieser Höhlen ein menschliches Gerippe gefunden hatte, wurde die Frage, von welchem Alter die Ablagerungen in diesen Grotten mit ihren Gebeinen sein möchten, lebhaft in der Wissenschaft erörtert. Die Funde an menschlichen Knochen aus vorgeschichtlicher Zeit sind so wenig zahlreich, daß jeder neue Fund besonders geschätzt wird. Jetzt liegt über die Ergebnisse der neuen Untersuchungen in den Höhlen von Mentone ein vorläufiger Bericht von Prof. Boule vor, der sich zunächst hauptsächlich vom geologischen Standpunkte aus mit den dortigen Ausgrabungen beschäftigt. Prof. Boule begann seine Arbeiten in der noch fast unberührt gebliebenen Fürstenhöhle, wo die Ablagerungen mehr als 20 m mächtig sind und zu unterst aus Meeresschichten bestehen. Die darüber lagernden Festlandschichten zeichnen sich dadurch aus, daß sie in ihrem oberen und mittleren Teile Reste von Renntieren, die bisher so weit südlich überhaupt noch nicht nachgewiesen waren, ferner vom Steinbock, vom Murmeltier und vom wolligen Rhinozeros enthalten. Diese Tiere sind Vertreter der Eiszeit. Die unteren Schichten des Höhlenbodens bergen wesentlich andere Tierreste in sich, nämlich solche des Ur-Elefanten (Elephas antiquus), der nach Merck benannten ausgestorbenen Rhinozerosart und auch eines Flußpferdes. Es ist nach der genauen Prüfung dieser Ablagerung ganz gewiß, daß hier das Meer früher wesentlich höher gestanden hat; beispielsweise hat man an einer Stelle, die jetzt 28 m über dem Meeresspiegel liegt, deutliche Spuren der Wirkung von Brandungswellen entdeckt, und außerdem erwies sich dicht daneben die Höhlenwand von Bohrmuscheln durchsetzt. Später muß dann durch Rückgang des Meeres genügender Raum für den Aufenthalt der Elefanten, Nashörner und Flußpferde geschaffen worden sein. In der »Kinderhöhle« sind in jüngster Zeit drei menschliche Gerippe aufgefunden worden. Das erste ist von Fachmännern untersucht worden und hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Knochenbau der eingeborenen Australier. Es steckte in einer Erdschicht, die außerdem Reste des Höhlenbären, der Höhlenhyäne, des Höhlenlöwen und des Merckschen Nashorns enthält. Das Alter jenes Menschen würde daher in die frühe Quartärzeit zu versetzen sein. Das zweite Gerippe wurde etwa 60 cm über dem ersten ausgegraben und war von Resten der nämlichen Tierarten begleitet. Das dritte Gerippe lag dagegen volle 6 m über dem ersten. Sein Eigentümer muß daher wohl wesentlich später, nämlich gegen das Ende der sogenannten Eiszeit, gelebt haben und ist wahrscheinlich ein Zeitgenosse des Renntiers gewesen.
Das herrlichste Stück der Rivieralandschaft ist aber sicherlich der üppige Pflanzenwuchs. Es ist sehr schwer hier festzustellen, was einheimisch und was eingewandert ist; denn hier haben sich alle Pflanzen der Subtropen beider Erdhälften und viele der Tropen sogar ein Stelldichein gegeben; die Riviera ist dadurch ein botanischer Weltgarten geworden. Wer die Pflanzenwelt unserer Erde vom Renntiermoos der Tundra bis zur Dattelpalme der Sahara, von den Wiesenblumen und Wiesengräsern unserer Heimat bis zu dem Riesengrase der Bambusse und den Schlinggewächsen der Tropen kennen lernen will, der muß an diese Küste gehen. Der botanische Garten von La Mortola bei Mentone ist für diese Pflanzenzusammenkunft aus aller Welt mustergültig, aber auch in den Lustgärten der Schlösser und Landhäuser häufen sich die seltsamsten Gewächse aller Zonen: rosenumrankte Zypressen, in höheren Lagen unsere Obstbäume, australische blattlose Casuarinen und zitternde Eukalypten, der Teestrauch und der Kaffeebaum, Indigopflanzen und Zuckerrohr, Kampfer- und Zimtbäume, Agaven und Bambusse, neben dem Lorbeer des Apollo und der Myrte der Aphrodite usw.
In den künstlich bewässerten Baumgärten, die hier als Nutzflächen die Stelle der Felder einnehmen, gedeihen vor allem die silbergrauen charaktervollen Ölbäume. Die Oliven werden herabgeschlagen, getrocknet und in den malerischen Ölmühlen in den Gehängeschluchten zerquetscht: das feine Jungfernöl, die Maschinenöle, die Seifenöle, die Brennziegel aus den Rückständen sind die Früchte dieser Kultur und Industrie. Die Olivenhaine lassen genug Licht durch, daß sich der Boden mit einem Flor lieblicher Anemonen, Orchideen, Muskathyazinthen usw. bedecken kann.
Die Rebe weicht hier vor dem salzigen Seehauch zurück, erst in den Sandfeldern der Rhonemündung beginnt ihre Kultur bedeutend zu werden. Dagegen gedeihen in allen geschützten Lagen herrlich die Südfrüchte, jene Citrusarten, die aus Asiens Monsunländern hierher gebracht worden sind: Limonen oder Zitronen, Orangen oder Apfelsinen, Pomeranzen, Pompelmusen, Mandarinen. Die Hauptgebiete dieser Südfrüchte sind im Mittelmeere freilich Sizilien, Sardinien und die Balearen.
Die Fiederpalmen liefern Weihwedel für die Palmsonntagsfeier, tragen aber keine verwertbaren Früchte. Sie geben, wie zum Beispiel die berühmten ScheffelpalmenSo nach Viktor von Scheffel genannt. bei der Zisterne von Bordighera, der Landschaft ein afrikanisches Gepräge – die Küste von Beaulieu bis Eza bei Nizza heißt tatsächlich Petite-Afrique, Kleinafrika.
Auf den Porphyrbergen des Esterel liefern die Edelkastanien gute Erträge; in den Tälern des Maurengebirges hinter Hyères gedeihen auf dem Urgesteine vortrefflich die Korkeichen, von deren Entrindung und Verarbeitung die Bewohner dieser Täler vorwiegend leben.
Die Blumenfülle der Riviera fließt besonders während des Winters in alle nordischen Großstädte ab. Der Blumenversand der französischen Riviera hat seit etwa 1850 große Ausdehnung gewonnen. Die Veilchenfelder von Hyères, die Anemonen-, Ranunkel-, Nelken- und Rosengärten von Cannes, Antibes, Nizza senden ihren Überfluß nach Norden. Im Frühjahre ist aber auch der einheimische Verbrauch sehr groß bei den Blumenfesten und Blumenschlachten des Karnevals in Monte Carlo und Nizza, im Sommer und Herbste bei den Korsofahrten der Automobile der vornehmen Welt dieser Vergnügungsorte.
Ganze Wagenladungen von Maiglöckchen, Veilchen, Nelken, Rosen und anderen starkduftenden Blüten aber werden in Cannes und Grasse zu Wohlgerüchen verarbeitet. Diese Luxusindustrie soll allein in Grasse einen Jahresumsatz an Blüten und ätherischen Ölen von 30 Millionen Franken haben.
Die Eigenform der Rivieraflora ist aber die blütenübersäte Maquis oder Macchia, eine Art Strauchheide, die freilich durch die reiche Besiedlung sehr zurückgedrängt ist und den Gartenpflanzen fast überall hat weichen müssen. In unverdorbener Größe und Schönheit kann man sie besonders in Korsika kennen lernen. Schmetterlingsblüten und Lippenblüten von leuchtender Pracht und würzigem Dufte wie Ginster, Lavendel, Rosmarin – die weißen und roten zartblättrigen Cistrosen mit ihrem orangegelben Wurzelschmarotzer Cytinus, der ein Verwandter der sumatranischen Riesenblume Rafflesia ist – honigduftende Euphorbienbäumchen, weißtraubige Baumheiden, rotbeerige Wacholderbüsche, der Ölstrauch, die Ilexeiche, der Erdbeerbaum, kletternder Asparagus und schlingende Smilax und Lonicera und viele andere Stauden und Büsche bilden ein von bunten Schmetterlingen, summenden Fliegen, raschelnden Eidechsen und Nattern belebtes Dickicht.
Der Wald ist durch einige kleine Bestände der Strandkiefer, der Aleppokiefer, der Pinie spärlich vertreten, doch entschädigen diese gehegten Zapfenbäume durch den Balsamhauch, der weithin von ihnen ausgeht.
Diese üppige Pflanzenpracht, verstreut über die formenreichen Felsgesimse der steilen Bruchküste, die starre Alpenherrlichkeit, die von oben herabschaut mit ihrem Firnschnee, die flüssige Farbenglut des Meeres, die je nach der Beleuchtung durch alle Regenbogenlichter hindurchwandelt, die Fülle geschichtlicher Reste von grauester Urzeit an schaffen an der Riviera eine der schönsten und reichsten Landschaften dieser Erde.
Nach Ad. Stahr, Ein Jahr in Italien. 3. Auflage. (Oldenburg, Schulze'sche Hofbuchhandlung.) Roma Capitale von Dr. Rudolf Kleinpaul (Ausl. 1875. 14). Italien von Viktor Hehn. Berlin 1896, Gebrüder Bornträger. Das heutige Rom streckt sich in Gestalt eines Fächers, dessen Griff die Porta del Popolo mit der vorstadtartigen Verlängerung nach Ponte Molle hin bildet, etwa bis in die Hälfte des von den Umfangsmauern eingeschlossenen Raumes hinein. Dort kam vor der Eisenbahnzeit der Fremdling, der Rompilger im Wagen des Vetturino in der heiligen Stadt an. Drei Hauptstraßen, die Via del Babuino, die Via di Ripetta und zwischen beiden der weltberühmte Korso, bilden gleichsam die Gitterstäbe dieses Fächers, als deren Endpunkte von Porta del Popolo aus die Kirche S. Maria Maggiore mit ihrem spitzen Turme, das Kapitol und das Ghetto angesehen werden können. Von diesen drei Punkten in südlicher Richtung beginnt die Trümmerstadt, das alte Rom, dessen Überbleibsel aus der Kaiserzeit zwischen den unabsehbaren Gemüsefeldern, Gärten und Weinpflanzungen hervorragen, die jetzt wohl über zwei Dritteile des von den heutigen Umfangsmauern eingeschlossenen Flächenraumes bedecken.
In diesem Neu-Rom geht keine Straße in der Richtung irgendeiner des alten Rom. Keine Phantasie reicht hin, sich die Vorstellung eines Platzes, wie es etwa das alte Marsfeld war, aus dem wüsten Häusergewirr mit seinen grauen Dächern, welches jetzt seine Stelle einnimmt, zu erneuern. Es hat geradezu etwas Gespensterhaftes, wenn zum Beispiel in der Nähe des schmutzig-engen Judenviertels oder unter den jämmerlichen Häusern am ehemaligen Forum des Nerva plötzlich die Reste eines alten Portikus oder ein halbversunkenes Säulenpaar vor uns aufsteigen. Sie gleichen »kaum kenntlichen Resten menschlichen Gebeines, die wir aus aufgedeckten uralten Gräbern hervorscharren«.
Keine Stadt hat solche Erschütterungen, Verwüstungen, Umwandlungen erfahren wie Rom. Die tiefste und durchgreifendste in den 70er Jahren: Rom hat aufgehört, die weltliche Hauptstadt des päpstlichen Kirchenstaates zu sein, und ist zur Hauptstadt des Königreichs Italien, zur Residenzstadt des Königs geworden! Nachdem die schwache Militärmacht des Papstes Pio nono von den piemontesischen Scharfschützen gesprengt war, zog Viktor Emanuel am 20. September 1870 zur Porta Pia im Nordosten ein – die Sehnsucht so vieler Geschlechter, die dahingegangen, ohne diesen Tag zu erleben, war erfüllt: das einige Italien mit der Hauptstadt Rom war erstanden.
Aus seiner vorläufigen Residenz Florenz kam am 27. November 1871 Viktor Emanuel abermals nach Rom, um das Parlament in der neuen Hauptstadt zu eröffnen und die glücklich errungene Einheit Italiens zu besiegeln. Da läutete die große Glocke des Kapitols, auf den Straßen wehten die Fahnen mit dem silbernen Kreuz im roten Felde; alle Körperschaften eilten nach dem Bahnhof, den König zu empfangen, und ein tausendfacher Jubelruf erscholl bei seinem Einzug. Er fuhr nach dem Quirinal, seiner neuen Residenz in alten, durch Jahrhunderte geweihten Mauern. Auf dem Platze, wo die rossebändigenden Dioskuren wie Söhne einer heroischeren Zeit zum Himmel ragen, sammelte sich das Volk, ungeduldig, den König auf dem Balkon nochmals zu begrüßen. Von diesem Balkon aus verkündigte sonst der Kardinal-Diakon den neugewählten Papst; von ihm aus spendete dieser selber der Stadt und dem Erdkreis seinen ersten Segen. Wird der König erscheinen und als ein nicht minder gnadenreicher Fürst den altehrwürdigen Balkon betreten? Ja, er kommt. Ein purpurner Teppich wird ausgebreitet wie zuvor, und der re galantuomo schwenkt den Hut unter dem Freudenruf der Patrioten: Viva Emmanuele re d'Italia! Den Namen Verdi, der die Anfangsbuchstaben dieses Rufes enthält, schrieb man, neckend, jetzt an die Türen der päpstlich gesinnten Großen in Rom.
Eine neue Zeit war hereingebrochen: Rom war eine Residenzstadt geworden wie vorher Turin, Neapel, Florenz. Die Abgeordneten des Volks, ein neues Heer, der Hofhalt des weltlichen Fürsten, die Menge von Beamten – alles das brachte einen neuen Zug in das alte und doch immer neue Stadtbild. Trotzdem hat die ewige Roma nicht aufgehört, die Hauptstadt der katholischen Christenheit, die Residenz des heiligen Vaters zu sein; ihm ist der Vatikan zu unbeschränkter Verfügung geblieben mit seinen Palästen und Gärten, fast so groß wie die ganze piemontesische Hauptstadt Turin. Rom hat nicht aufgehört, die Ruine der Hauptstadt eines untergegangenen Weltreichs, der Wallfahrtsort der Gläubigen und – weltlicher Reiselust zu sein.
Neben dem Charakter einer uralten Residenz des geistlichen Oberhirten der Christenheit mit seinen zahllosen Kirchen – deren mehr als 300 vorhanden – und den Hofburgen und Schlössern seiner geistlichen und weltlichen Fürsten bietet es in seinen neu angelegten Teilen und ihren glänzenden Basaren den Eindruck einer modernen Großstadt. Und wiederum genügen wenige Schritte, um sich hinaus in eine Stadt des buntesten, wenn auch nicht blühenden gewerblichen Treibens, und aus dieser wieder in die Stille und Einfachheit ländlicher Zustände zu versetzen. Und über dieses bunte Gemisch ragen die Trümmer der Ruinenwelt des alten Rom in ernster Einsamkeit zum Himmel empor, wie riesige Schattenbilder einer Jahrtausende alten Vergangenheit. Antike, frühchristliche Kunst, mittelalterliche Ziegelbauten, Renaissancepaläste, Rokokoprunk, neuzeitlicher Kasernenstil – alles ist vertreten auf dem bewegten Boden der Siebenhügelstadt.
Diese Mannigfaltigkeit der Zusammensetzung ist es, welche hier jeden Fremden etwas für sich finden läßt und jeder Ermüdung durch gleiche Eindrücke vorbeugt. »Rom ist immer neu,« sagen die Fremden, auch wenn sie jahrelang hier heimisch sind. Dazu kommt, daß das Auf und Ab der zahlreichen Hügel, deren das heutige Rom über ein Dutzend zählt, von denen die Hälfte durch Ruinen entstanden, überall malerische Ansichten und Gruppen bildet. Rom ist auch darin unvergleichlich, daß es von jedem bedeutenden Höhepunkt, vom Monte Mario oder dem Kapitole, vom Aventin oder Monte Pinco, von San Onofrio oder von Villa Ludovisi aus gesehen, ein immer neues Rundbild bietet, welches an malerischer Schönheit, Pracht und Großartigkeit für den Beschauer immer die früheren zu übertreffen scheint.
Wie die äußere bauliche Ansicht Roms den Anblick buntester Mannigfaltigkeit gewährt, so ist auch die heutige Bevölkerung der Stadt aus den verschiedensten Bestandteilen zusammengesetzt. Altrömisches Blut ist schwerlich mehr vorhanden, selbst nicht unter den vornehmen Familien, die zum Teil nicht einmal italienischen Ursprungs sind. Eher vielleicht noch in dem Kerne des niederen Volks, den Montigiani und Trasteverini. Von dem wenig zahlreichen Mittelstande der Negocianti di Campagna, Kaufleuten und Angestellten ist es Tatsache, daß eine Familie, die vier in Rom geborene Geschlechter aufzuweisen hat, eine Seltenheit ist. Die Mehrzahl der Einwohner sind Einwanderer aus allen Teilen Italiens, vornehmlich aus dem Neapolitanischen, Genua, der Lombardei, Piemont und den Provinzen des Kirchenstaates, aber auch Franzosen, Deutsche und Engländer finden sich genug. Wollte man genauer nachforschen, so würde man alle europäischen Völker hier vertreten finden, ungerechnet die Fremden, welche als solche sich in Rom aufhalten. Und doch so wunderbar ist die Naturmacht, welche Klima und Boden, Lebensweise, Erziehung und Anschauungen der Umgebung ausüben, daß sich trotz aller Buntheit über die Bevölkerung doch ein eigenartig Gemeinsames, charakteristisch Eigentümliches breitet, welches selbst dem längere Zeit hier lebenden Fremden sich mitteilt und den Bewohner Roms von dem aller anderen Städte Italiens in äußerer Erscheinung, Gesichtsschnitt, Behaben und Lebensführung wesentlich unterscheidet.
Die Umgebung Roms, die weite, menschenverlassene Campagna mit den Riesenbogen ihrer Wasserleitungen, ihren Gräbertrümmern, aus denen die Asche der Toten längst verstäubt ist, ihren mittelalterlichen Türmen, ihren halbwilden Herden und Hirten, die an eine amerikanische Prärie mahnen, nur von Jägern und bewaffneten Aufsehern durchstreift – bis an die Tore Roms ohne irgendeine Spur gesittet-städtischen Lebens: – dann in Rom selbst, welches von jeder Seite her dem Kommenden eine neue Ansicht bietet, das bunteste Nebeneinander von Menschen und Dingen: der einem Wilden gleiche Bewohner der Abruzzen und der rußige Kohlenkrämer der Meergestade neben dem Kirchenfürsten in seiner Prachtkarosse und dem weltmännisch gekleideten Dandy im Hydepark auf seinem Vollblutrenner; alle Geistliche aller Orden in ihren mannigfaltigen Trachten; lange Züge von Propagandisten,Die Congregatio de propaganda fide (Gesellschaft zur Verbreitung des Katholizismus unter den Heiden und zur Ausrottung der Ketzerei) hat zugleich eine Pflanzschule für künftige Missionare (Collegium de propaganda fide) aus allen Völkern, worin jährlich eine Prüfung angestellt wird, in welcher jeder Zögling in seiner Sprache einen Vortrag hält. darunter alle Gesichtsbildungen der Welt, vom wollköpfigen Neger bis zum flachshaarigen Nordländer; Künstler und Fremde aller gesitteten Völker, eine ewig wechselnde Einwohnerschaft, immer neu und doch dieselbe; – dazu die Gestalten und Trachten des eigentlichen römischen Volks der Jackenmänner, der Montigiani und Trasteverini, die Scharen von Landvolk aus der Umgegend, vom ziegenbepelzten Hirten des rauhen Sabinergebirges bis zu der in Gold und Scharlach strahlenden Schönen von Nettuno, die leise einherschleichenden Jesuiten, die stolzen, nun kleinlaut gewordenen Dominikaner, die feinen Benediktiner, die braunen Kutten der Bettelmönche mit ihren Lasteseln, die altertümlichen Hellebardenträger an den päpstlichen Palästen, die neue Dienstkleidung des Heeres und der Hof des Königs, die Minister und das Parlament, das die politische Spannung stets rege erhält: das alles läßt die Langeweile nicht aufkommen. Man nehme dazu noch die Schätze der Büchereien aller Art, die Werkstätten der zahlreichen Künstler, die Ruinen des alten, die Paläste und Kirchen des neuen Roms, und man wird zugeben, daß jedes Suchen und Sehnen, jedes Alter, jede Lebensrichtung in dieser Weltstadt seine Rechnung findet.
(Zur Kennzeichnung der Römer.)
Aus Adolf Stahr, Ein Jahr in Italien. Oldenburg 1846, Schulze'sche Hofbuchhandlung. Der römische Karneval begann 1846 am 14. Februar, am Tage des heiligen Märtyrers Valentin, und endete Dienstags den 24. desselben Monats. Die dazwischen liegenden beiden Sonntage, sowie der Freitag, unterbrachen die Festlust und gaben sehr wünschenswerte Ruhepunkte. Das Wetter war höchst günstig, der Winter gar nicht zu spüren. Mit Entzücken begrüßte alles am Sonnabend den blauen sonniggoldenen Himmel, der seinen Baldachin über den allbeliebten Herrscher Karneval breitete, welcher heute nach so langer Trennung Auferstehung und Wiedereinzug in seine allergetreueste Hauptstadt halten sollte!
Durch die kleine Straße der Ripresa dei Barberi – so geheißen, weil hier die von Porta del Popolo aus laufenden Rennpferde wieder eingefangen werden – traten wir auf den Platz vor dem Palast Venezia in den Korso ein.
Es mochte etwa gegen drei Uhr sein, und schon war die ungeheuere Straße mit Menschen gefüllt und zu einem einzigen riesigen Festsaale umgewandelt. Von allen Balkonen und Fenstern der hohen Häuser und Paläste strahlte die Pracht der bunten, besonders roten Teppiche hernieder. Schon die Heiterkeit dieses Farbenschmuckes setzt uns gleich in die rechte Feststimmung, bei der einem, wie das gute alte Wort heißt, das Herz im Leibe lacht. Allmählich füllen sich die Fensteröffnungen, deren Glastüren alle ausgehoben sind, und die Balkone mit Mädchen und Frauen im festlichen Putz. Die Forestieri (Fremden) eilen, ihre Plätze einzunehmen, welche schon lange vorher von ihnen zu hohen Preisen gemietet sind. Wer aber irgend rüstig genug ist, der benutzt, wie ich, den Balkon während des Karnevals nur als Zufluchtsort zum Ausruhen, wenn ihn das Schwimmen unten in dem Menschenstrome allzusehr ermüdet hat. Denn die rechte Hauptlust kann man doch hier, wie überall, nur dadurch genießen, daß man sich zum tätigen Teilnehmer und Mitspieler des bunten Faschingstreibens macht.
Schon hat die große Glocke des Kapitols das Zeichen zum gesetzlichen Beginne der Karnevalslust gegeben, und der Zug des Senators von Rom bewegt sich in den gold- und farbenstrahlenden Staatskutschen langsam durch den Korso hinauf und hinab. Während aber der Senator, der Fürst Corsini, in den Korso einziehend, so die heiterste Weltlust eröffnete, begab sich seine Gemahlin, die junge schöne Fürstin Torlonia, Schwester des Don Alessandro, Herzogs von Bracciano, an der Spitze der frommen Schwesterschaft des Kolosseums, deren Haupt sie war, in unscheinbarem Bußgewande in die einsamen Räume dieser zum Tempel geweihten größten Ruine der Welt, um in dieser menschenverlassenen Einsamkeit des alten heidnischen Roms mit frommen Gebeten die Verzeihung des Himmels für die weltliche Festlust zu erflehen, welche aus dem neuen christlichen Rom über das stille Forum hin wie das Geräusch ferner Wogenbrandung zu den frommen Beterinnen herüberklingt. Dieser Gegensatz, welcher sich an jedem der acht Karnevalstage wiederholte, gibt ein recht schlagendes Bild von dem Gegensatze der beiden Weltanschauungen, welche der Katholizismus zu versöhnen sucht. Die Fürstin und ihre frommen Mitschwestern betraten nie den Korso zur Karnevalszeit. Aber sie verdammten auch nicht die Lust, welche auf ihm einherwogt, sondern bestrebten sich nur, mit eigener Entsagung und frommen Gebeten für die Seelen jener den Genuß der Weltlust möglichst unschädlich zu machen.
Wird durch diese und ähnliche Veranstaltungen dem Religiösen zu genügen gesucht, so vergißt auch der Staat nicht, für die gute Ordnung Vorkehrungen zu treffen, und man hört von der Porta del Popolo her die Musikbande des päpstlichen Kriegsvolks. Die Dragoner haben den Dienst im Korso und in den angrenzenden Straßen, halten streng auf das Beobachten der Wagenordnung und wissen geschickt, ohne viel Aufhebens, Störungen zu beseitigen.
Ecco fiori! ecco fiori! ist jetzt der Ruf, der uns im ganzen Korso entgegentönt. Ecco fiori! Es ist aber auch, als wenn der junge König Karneval alle Frühlingsblumen der Welt in seinen Dienst genommen und nach Rom gezaubert hätte. An allen Straßenecken des Korso haben Blumenverkäufer ihre farbenstrahlenden und duftspendenden Vorräte aufgestellt. Der ganze spanische Platz und die Via Condotti wimmeln von Frauen und Mädchen, Knaben und Burschen aus dem Volke, welche uns ihre Blumenkörbe mit dem jauchzenden Rufe: Ecco fiori, Signor, fiori, fiori, fiori, fresci! o che belle fiori! entgegenhalten. Hunderttausende von Blumensträußen, von den gering geachteten Feldblumen, den Primeln und Maßliebchen an, bis zu den kostbaren, im dunkeln Purpurrot glühenden oder in marmorner Weiße strahlenden Kamelien und den jungen Frühlingsrosen hinauf, werden von ihnen in kleineren und größeren Körben umhergetragen. Aber am beliebtesten sind mit Recht die süßen duftigen Veilchen, die Lieblingskinder des römischen Frühlings, deren Zauberduft schon lange die Paläste der römischen Großen füllt. Die Menge dieser Veilchensträuße ist ungeheuer. Man begreift kaum, wo bei der Armut an eigentlichen Blumengärten in und um Rom diese Masse von Blumen eigentlich herkommt. Aber die Landleute an den nächsten Hügeln und Gebirgen helfen aus, und auch die Campagna liefert ihre Blütenschätze, welche anmutiger und mannigfaltiger sind, als die Reisenden meinen. Diese Karnevalstage sind wahre Festtage für die povera gente von Rom und der römischen Campagna, welche die Blumen und Blümchen in römische Münzen umsetzt. Für ein paar Paoli bekommt man aber einen ganzen Vorrat von Veilchensträußen, und im nächsten Café füllt man ebenso wohlfeil die Taschen mit Confettis aller Art.
Die Wagenreihen sind bereits in den Korso eingerückt und fahren, die eine von Porta del Popolo langsam aufwärts dem venetianischen Palaste zu, die andere von dort zurück durch das immer stärker anschwellende Menschengewühl. Freunde und Bekannte begegnen sich, Sträuße und Confetti wechselnd, und im Nu sind sie durch den unaufhaltsam flutenden Strom voneinander getrennt. Jetzt gilt es nun, Bekanntschaften anzuknüpfen unter den Schönen, die alle Fenster und Balkone erfüllen. Aber die Blicke werden durch den Glanz geblendet, man müßte hundert Augen haben! Trotz des ewigen si guardi! si guardi! der Kutscher kommt man doch hundertmal in Gefahr, von Pferdehufen getreten, von Rädern gestreift zu werden oder gar einen noch gefährlicheren Deichselstoß zu erhalten, namentlich am ersten Tage, wo alles in einer Art von Trunkenheit umherschwankt!
Nachdem wir uns durch ein paarmal Auf- und Abwandern in den belebtesten Teilen des Korso bereits über die anmutigsten und schönsten Fenster und Balkone unterrichtet haben, beginnen die Vorbereitungen zu den kleinen Abenteuern, welche dem römischen Karneval einen so unglaublichen Reiz gewähren. Zuerst gilt es, durch mehrmaliges Wiederkehren und Zuwerfen von Blumen und Zuckerwerk die Aufmerksamkeit zu erregen. Der Balkon darf dabei nicht zu hoch sein, weil sonst der Verkehr zu sehr erschwert wird. Da man endlich solcher kleinen poetischen Liebeshändel der unschuldigsten Art mehrere zu gleicher Zeit anzuknüpfen und fortzuführen hat, ist eine andere Vorsicht die, daß die schönen Kinder, deren Dienste wir uns für den Karneval zu weihen gedenken, nicht allzunahe beieinander sich befinden, damit keine aus der Einbildung komme, sie allein sei die von uns in solcher Weise ausgezeichnete Herzenskönigin.
Man beginnt mit dem Zuwerfen geringerer Sträußchen, die meist sofort mit Antworten gleicher Art dankend erwidert werden. Nur einzelne besonders verwöhnte stolze Schönheiten nehmen von solchen geringeren Aufmerksamkeiten keine Kenntnis. Nun aber steigert man sie. Dem Buchsbaum, blühenden Lorbeer, den Myrten, Maßliebchen und Anemonen folgen die allbeliebten Veilchen in größeren und kleineren, mehr oder minder zierlichen und kostbaren Sträußen. Kleine Kästchen mit verzuckerten Früchten, gebrannten Mandeln, Bonbons und dergleichen Naschwerk steigen gleichfalls auf und nieder. Gemachte Blumen und kleine zierliche Arbeiten weiblicher Hand von Seide und Atlas, Stickerei und allerhand kleiner puppenhafter Scherzkram müssen demselben Zwecke dienen. Allerlei kleine Zuschriften, gereimt und ungereimt, geschrieben und gedruckt, fördern das fröhliche und freie Entgegenkommen, und ehe man sich's versieht, wird man so bekannt und vertraut, als hätte man schon monatelang miteinander verkehrt. Und dies alles, ohne daß – außer einigen Dankesworten, die nur zu oft vom Tosen des Jubels ringsumher verschlungen werden – irgendein Wort gesprochen wird. Augen und Mienen reichen vollkommen aus, die Blumensprache, wo sie mangelhaft sein sollte, zu vervollständigen. Die freie Anmut und Schönheit, mit der die Römerinnen im Karneval jede solche Huldigung entgegennehmen, die verbindliche Höflichkeit, mit welcher eine jede, auch das Mädchen der untersten Volksklassen, uns den Dank gewandt auszudrücken weiß, sind wahrhaft bezaubernd. Man kann nicht aufhören, sich den Genuß immer wieder zu erneuern, dieses holdselige Grazia Signor! mille Grazie! aussprechen zu hören, und sich an der Zierlichkeit der Haltung und Neigung zu erfreuen, mit welcher sie uns dankend die Gegengabe, sei es im Vorübergehen, zureichen oder aus Fenster und Wagen, von Estraden und Balkonen herabwerfen. Die stolze Hoheit und das Selbstbewußtsein, welche im übrigen Leben den Grundzug der weiblichen Erscheinung in Rom ausmachen, sind im Karneval gemildert durch die allgemeine Freude und Fröhlichkeit, deren Rosenschein auf allen Gesichtern glänzt.
Schon ist der ganze Korso ein unabsehbar durcheinander flutender Menschenstrom, in welchem sich die Wagenreihen, oft gänzlich stockend, nur langsam und mit Mühe gegeneinander fortbewegen. Am dichtesten wogt aber das Leben in demjenigen Teile, welcher sich von San Carlo und der Mündung der Via Condotti in den Korso bis zur Piazza Colonna erstreckt. Wie müde Schwimmer dem Lande zustreben, suchen auch wir endlich den Ruhehafen unseres Balkons zu gewinnen, dessen Mitgenuß uns durch gute Freunde gesichert ist. Schon unten bei unserem Streben, die Fila der Sitzreihen zu durchbrechen, welche auf gemieteten Stühlen zu beiden Seiten die Fußsteige der Straßen einnehmen, begrüßt uns von oben herab ein neckender Konfettiregen zur Strafe für unser verspätetes Erscheinen.
Von oben überschaut man nun das kunterbunte Treiben, und der Anblick erscheint völlig neu. Nun erst übersieht man die Tausende der lustigsten Masken, vom einfachen Domino bis zu den glänzendsten Trachten in bunter Mischung und durch die in gewöhnlicher Kleidung Einhergehenden noch mehr auffallend! Griechen und Türken, Mohren und Perser, Pulcinellen beiderlei Geschlechts, rote, gehörnte Teufelchen, Doktoren, Advokaten und Quacksalber in altmodischer Tressentracht mit Puderzopf und Haarbeutel, riesige Klistierspritzen schwingend und fußlange Uhrschlüssel an den zolldicken Uhrketten: das alles rennt und springt, windet und drängt sich unter tausend Scherzen und Späßen neckend durcheinander. Sehr oft haben unter den Masken die Geschlechter die Rollen gewechselt, manchmal mit solchem Geschicke, daß man das Wahre nur schwer errät.
Rom und das Gebirge sind reich genug, um durch die Tracht der verschiedenen Stände und Provinzen allein schon fertige, gern benutzte Masken zu liefern. So sieht man denn den Carretiero von Genzano und Velletri, den Maultiertreiber vom Gebirge, den Hirten der Campagna gern nachgeahmt. Es fehlt auch nicht an römischen Räubern und Banditenhäuptlingen in der äußerst malerischen, weltbekannten Tracht. Aber alle wirklichen Waffen sind aufs strengste verboten, und so sieht man sie denn mit hölzernen Dolchen und Pistolen, die lange Flinte von Holz im Arm, mit der sie Blumensträuße auf ihr Schlachtopfer abschießen, durch die Straßen ziehen.
Verboten sind auch alle Masken geistlicher und Ordenstrachten; die Geistlichen vermeiden es selbst, sowohl Priester als Mönche, sich während des Karnevals auf dem Korso blicken zu lassen. Durchschreitet einmal ein einzelner das Getümmel, so regnen hageldichte Konfettischauer auf ihn von allen Seiten, bis er entweder in eine Seitengasse entweicht oder in irgendein Haus schlüpft. An den Fenstern dagegen und auf den Balkonen sieht man die schwarzröckigen Kleriker zahlreich offen und frei an der harmlosen Lust teilnehmen.
Zur Gestaltung des römischen Lebens gehört wesentlich, daß man es auch dem ärmsten Lumpen ansieht, wie er seiner vollen Berechtigung sich bewußt ist, hier zu leben und womöglich das Leben zu genießen, so gut wie der reichste und vornehmste Bürger von Rom. Dieser Zug freier bewußter Menschlichkeit macht einem vorzugsweise das römische Menschenwesen behaglich und das Leben in seiner Mitte wohltuend. In unseren großen Städten haben sich die Reichen von den Armen immer mehr zurückgezogen. Sie haben sich mit ihren Prachtwohnungen in besonderen Stadtteilen, Straßen, Quartieren, versteht sich den gesündesten, hellsten, zusammengetan; das arme Volk ist weiter zurückgedrängt und schaut nun aus seinen Höhlen mit Neid auf die Viertel des Reichtums. Ganz anders in Rom, wo sehr oft in den Palästen selbst, neben und mit dem reichen Fürsten, alle Abstufungen der römischen Bevölkerung unter einem Dache wohnen. Der echte Römer findet jene Industrie und Geschicklichkeit des Lumpengesindels während der Karnevalszeit ganz natürlich, obwohl der Fremde sich oft darüber ärgert. Alles, was an Geschenken sein Ziel verfehlt, ist auf der Stelle die Beute dieser Schnapphähne; sie bringen dir deinen eigenen Strauß, der zu Boden fiel, mit der entzückendsten Unverschämtheit und bieten ihn mit einem volete per un paolo zum Verkauf an. Ja, sie springen selbst auf die Wagentritte und nehmen aus dem Körbchen, was ihnen zugänglich ist, wenn man nicht aufpaßt.
Auf solche Kleinigkeiten achtet die römische Polizei nicht, und sie tut recht daran; aber desto strenger werden Vergehen und Verbrechen, namentlich Angriffe gegen Leben und Eigentum, geahndet; und man pflegt kurz vor dem Beginn des Karnevals gefällte Todesurteile zu vollziehen, um das Volk an die Gerechtigkeit zu erinnern.
Die Römer haben größere Ausdauer für solche Lustbarkeiten als wir Deutsche, die wir uns öfter durch Ruhe und Einsamkeit stärken müssen. So gingen wir an einem Nachmittage in die Villa Medici, ließen uns die Terrasse der Boccage aufschließen und bestiegen das Belvedere. Von diesem Punkte aus genießt man die erquickendste Aussicht, ostwärts über die ganze Campagna und das Gebirge, dessen höchste Spitzen schneebedeckt im hellen Sonnenglanze leuchteten, westwärts über die Stadt, aus welcher von Zeit zu Zeit in leisen Tönen das Gebrause des Karnevals wie fernes Meeresbrausen zu uns empordrang.
Gegen die Zeit des Pferderennens begaben wir uns wieder hinab auf den Schauplatz der Lust. Schon in den letzten beiden Tagen war der Zudrang der Kutschen ungeheuer gewesen. Einige Freunde, welche eine Fahrt zu Wagen durch den Korso machen wollten, hatten sich genötigt gesehen, nach mehrstündigem Warten in den Nebengassen auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten und den teuer bezahlten Wagen im Stich zu lassen. Heute nun schien die Fülle ihren Gipfel erreicht zu haben; denn während im Korso selbst die Wagenreihen nur selten und nach langen Pausen ein paar Schritte weit vorrückten, bildeten die in der Via del Babuino haltenden Wagen einen Zug, welcher sich über den ganzen spanischen Platz durch Via due Macelli um die Propaganda herum wieder auf die Piazza di Spagna zurück erstreckte.
Auf das gegebene Zeichen haben die Wagen den Korso verlassen, der jetzt nur noch von Fußgängern eingenommen ist. Eine Kavallerie-Abteilung durchsprengt dreimal, zuletzt im gestreckten Galopp, den ganzen Korso, um für den Wettlauf die nötige Bahn zu machen. Aber nur auf einen Augenblick bildet sich eine Art von Gasse in dem dichten Menschenstrome, welcher sich unmittelbar hinter den weiter jagenden Reitern wieder zusammenschließt. Dann donnern die Kanonenschüsse, der Ruf: »I barberi, i barberi!« geht von Mund zu Mund, ein immer mehr anschwellendes Hallo- und Hussageschrei verkündet das Ablaufen der Pferde vom Obelisken des »Volksplatzes«. Wie ein Blitzstrahl sausen die wunderlich aufgeputzten, mit Knistergold und allerhand buntem Flitter bedeckten Tiere an uns vorbei; wie von unsichtbarer Gewalt getrieben, teilt sich die Menschenmasse immer eben nur so weit, um ihnen für die nächsten Sätze und Sprünge ihres wilden Laufes Raum zu geben, und schließt sich dann gleich hinter den letzten wieder zusammen. Aber da kommen noch einige Nachzügler, begleitet von dem Hohngeschrei der Menge; die Gasse öffnet sich aufs neue, und es regnet Würfe und Hiebe auf solch ein armes Geschöpf, das dann gelegentlich auch scheu wird und Unheil anrichtet. Eine beliebte heitere Unterbrechung ist es jedoch, wenn einer von den vielen Hunden, welche die römische Straße bevölkern, in die vor dem Abrennen geöffnete Gasse gerät. Augenblicklich schließt alles fest aneinander, und dem armen Tiere bleibt nach vielen vergeblichen Versuchen, die Menschenmauern rechts und links zu durchbrechen, nur der Ausweg, in gestrecktem Lauf den ganzen Korso hinabzurennen.
Nachdem das Rennen der Barberi vorüber ist, rücken sogleich alle Wagen wieder in den Korso ein, auf dem sich nun alles bereitet, den Schlußakt des Festes würdig zu begehen. Ehe man sich dessen versieht, ist die nächtliche Dämmerung niedergesunken, rasch und plötzlich, wie im Süden der Tag abschließt. Da blitzt es auf aus dem Menschengewühle unter uns. Hier, dort, an den Fenstern, auf den Balkonen, von den höchsten Mansarden und Dachöffnungen herab zucken kleine Flämmchen empor. Sie mehren sich mit Blitzesschnelle, bald sind es Hunderte, bald Tausende. Wir eilen von unserem Balkone in die anstoßenden Zimmer, in welchen durch unseres Freundes Vorsorge zahlreiche Bündel und Päckchen der dünnen zerschnittenen Wachskerzen zum beliebigen Gebrauch neben den brennenden Lampen aufgestapelt sind, um uns mit den nötigen Moccoli zu versehen. In einer Minute sind wir wieder auf dem Balkon. Aber welche Veränderung ist unterdessen wieder vor sich gegangen! Das geblendete Auge ist kaum fähig, den ersten Eindruck eines Schauspiels zu ertragen, welches mir noch herrlicher erschien als Kuppelbeleuchtung und Girandola.Das berühmte Feuerwerk auf der Engelsburg. Der ganze Korso in seiner vollen Ausdehnung hat sich in einen langen beweglichen Lichtstrom verwandelt, in eine Milchstraße von Lichtflammen, welche wie Sterne in der Luft zu wandeln scheinen.
Hunderttausende von Lichtern winken aus allen Fenstern, von allen Balkonen, schweben von den Schaugerüsten und selbst von den Dächern herab, schwanken auf 3-6 m langen Rohren, hoch über der Straße, mitten in der Luft. Oft trägt eine solche Canna deren über ein Dutzend, die darauf festgeklebt sind. Unten im Korso sind alle Wagen mit Lichtern und Wachsfackeln besteckt, alle Insassen tragen Lichterchen in den Händen, die sie durch Vorhalten der Drahtmasken oder in Papierlaternchen gegen den Angriff aller derer zu schützen suchen, welche sich von allen Seiten unermüdlich und oft mit Gefahr herandrängen, um ein Lichtchen auszulöschen. Der sternbedeckte Nachthimmel erscheint in tiefster Schwärze gegen das flammende Lichtmeer unten.
Die bunten Masken, die schönen Augen der Frauen, all die Farbenpracht und Schönheit, das Bunte, Blitzende und Glänzende des Schmuckes der prachtvollen Zweispänner, in denen sich, vor Jubel und Lust strahlend, die schönsten Mädchen und Frauen in den entzückendsten Trachten dem Blick zeigen, die schnaubenden Rosse, das ganze farbenbunte Durcheinander der sich auf- und niederdrängenden, springenden, tanzenden und rennenden Tausende und Abertausende, hie und da von wahrhaft bacchantischem Jauchzen durchtönt: das alles erscheint in diesem wogenden und flutenden Lichtmeer tausendfach gehoben und verschönt von den wunderbarsten Rückstrahlungen und Streiflichtern. Alle Farben treten kräftiger, alle Formen körperlich bestimmter hervor. Roms Karneval im Glanz des Moccoliabends ist, was der Vatikan und seine Marmorwelt bei Fackelbeleuchtung. Hier erlahmt jede Hand, welche eine Beschreibung versucht.
In dieser kurzen Stunde des Moccoliabends kann man mit vollem Rechte sagen, daß alle Römer, ja alle Anwesenden, seien sie sonst im Leben auch noch so ernsthaft, zu Kindern geworden scheinen. Denn es ist ganz unmöglich, sich der Ansteckung dieser allgemeinen Kinderlust zu entziehen, die in nichts mehr und in nichts weniger besteht, als seinem Nachbar, sei er befreundet oder wildfremd, alt oder jung, groß oder klein, das angezündete Moccolo, welches er in der Hand oder auf dem Stocke trägt, auszulöschen. Man verfolgt diesen Zweck mit einem Eifer, mit so kindischen Listen und Schlichen, daß sich der ausgelassenste Knabe deren nicht zu schämen hätte. Es ist, als ob alles, was von Jugend- und Kindheitserinnerungen in dem Erwachsenen schlummert, plötzlich wie durch einen Zauber von seinen Banden frei würde.
Es ist ein Krieg aller gegen alle; jeder ist zugleich Angreifer und angegriffen. Wo der stärkste Atemzug zum Ausblasen der Moccoli nicht zureicht, erfindet die List alle möglichen Arten von Löschmaschinen. Hüte und Taschentücher werden in Bewegung gesetzt, und nicht genug, daß man auf den Balkonen sich der nächsten Nachbarn zu erwehren hat, entspinnt sich auch zwischen den übereinander befindlichen Stockwerken ein lustiger Kampf. Tücher, an lange Stöcke gebunden, werden von oben herab und von unten hinauf wie Fahnen geschwenkt, um die Moccoli auszulöschen. Man erwehrt sich ihrer so gut man kann, sucht sie mit Stöcken und langen Rohrstäben abzuwehren, oder mit den Händen zu erhaschen und abzureißen, und das Gelingen solcher Bemühung ist stets von dem lautesten Jubel begrüßt.
Ich versuchte es, mich auf einige Augenblicke in die Straße zu begeben, und stürzte mich mit einem Freunde in das brausende Getümmel. Aber um hier lange auszudauern und die Besinnung nicht zu verlieren, muß man ein Römer und an solche Dinge gewöhnt sein. Es war mir wie einem Schwimmer, der machtlos in starker Brandung kämpft.
Alle Wagen sind im Belagerungszustande. Die darin sitzenden oder auf den Sitzen stehenden Damen sind umgeben von beschützenden Herren, welche alle Angreifer von den Lichtern ihrer Damen abzuwehren und dabei zugleich ihre eigenen Moccoli zu schützen unablässig bemüht sind. Man steigt auf die Tritte, erklettert die Räder, klimmt auf die Bedientensitze, und wo ein Angriff gelingt, ertönt das ewige »senza moccolo!« triumphierend durch die Nacht. Die Römer und Römerinnen bewegen sich in diesem gewaltigen Aufruhr wie Fische im Wasser, dem Fremden aber sind, ehe er sich noch besinnen kann, seine Lichter ausgeblasen oder entrissen. Ich eilte einem heftig bestürmten Wagen zu Hilfe und reichte einer Dame ein dem Nächsten schnell entrissenes Wachskerzchen zum Wiederanzünden des ihrigen. Sie lüftete die rosafarbene Drahtmaske mit einem reizenden »mille grazie, Signor!« und reichte mir einen Veilchenstrauß, den sie noch vom Karneval her trug. Aber in demselben Augenblicke blies sie mir verräterisch mit einem fröhlichen »o che vergogna, senza moccolo!« (o welche Schmach, ohne Kerze) mein Moccolo aus.
Mitten in diese hellflammende Lust des reizenden Wahnsinns, mit welchem der fröhliche Held Karneval unter Fackelschein zu Grabe getragen wird, ertönt plötzlich das Ave-Marialäuten von den zahllosen Kirchtürmen der ewigen Stadt, und schnell, wie er begonnen, endet all der strahlende Glanz des heitersten Festes, »ausgelöscht wie eine Kerze mit einem Hauche«!
Alfr. v. Reumont, Römische Briefe eines Florentiners. Teil 2. Stahr a. a. O. II. S. 312 ff., und die Aufsätze von Dr. Siebmann und Dr. Fr. v. Hellwald, Ausl. 1875, 31 und 32. Der alten Via Appia nach Südosten folgend, der römischen Gräberstraße, zwischen Hügeln und Malern, zwischen Zypressen und Pinien und Oliven, an den Eingängen der Katakomben vorüber, in denen das römische Christentum geboren wurde, reitet man hinaus in eine schweigend öde Landschaft, die Campagna, den denkbar schärfsten Gegensatz zu der lebensprühenden Weltstadt. Hier sieht das Auge nur Ruinen von Wasserleitungen, Tempeln und Grabmälern, vermengt mit mittelalterlichen Bauten, die zum Teil noch verfallener als jene alten sind; einsame Osterien (Schenken), deren Aussehen nicht einladender ist als die Miene ihrer zerlumpten Bewohner; Denkmäler römischer Größe, bald zu gebrochenen Burgtürmen und Festen benutzt und mit Zinnen und Außenwerken versehen, bald in formlosen, efeuumrankten Steinklumpen den Unterbau einer Hütte bildend, die zwischen schlanken Zypressen weit über die Gegend hinausschaut bis zu den Bergstädten im Latiner- und Sabinergebirge in der Ferne. Hier ist keine einheimische Bevölkerung ansässig: man begegnet nirgends einem Landmanne, welcher das Feld bebaute, das sein Vater anpflanzte; man findet nicht eine bewohnte oder bewohnbare Ortschaft, nur hier und da einen Gutshof, dort hinter meilenlangen Holzzäunen Herden langschweifiger Pferde oder riesiger weißgrauer, großhörniger Rinder. Nur auf einem sehr kleinen Teile der Ebene wird Feldbau getrieben. Fremde ackern und säen in Eile, andere Fremde (meist Leute aus den Abruzzen) kommen zur Erntezeit und wohnen in Rohrhütten oder schlafen auf dem nackten Boden, den Todeskeim der Fieber in sich aufnehmend für die kärgliche Löhnung. Nur in den kälteren Monaten gewinnt die Steppe der Campagna etwas mehr Leben. Wenn die Herbstregen den dürren Boden etwas erfrischt haben und bald darauf mit dem Brande der Sonnenstrahlen auch die fieberübertragenden Stechmücken verschwunden sind, so schießt innerhalb weniger Tage das üppigste Gras empor in den versengten Niederungen und kürzeres bedeckt die allen Richtungen der Windrose folgenden Höhenzüge. Dann steigt der Hirt herab von den Abruzzen, wo ihn der Schnee vertreibt, vom Hochlande Umbriens und vom Sabinergebirge, und führt seine Schaf- und Ziegenherden in die Ebene. Lange Pfahlreihen bezeichnen die einzelnen Gebiete auf den ausgedehnten Weiden, dem Laufe der Ströme und Bäche, der Richtung der Straße oder der Bewegung des Bodens folgend, oft auch in gerader Linie das Land durchschneidend. Eine trockene Tuffsteinhöhle am Hügelabhange, ein ausgeräumtes, halb unterirdisches Grab, mit Spuren farbenreicher Arabesken auf der nun vom Rauch geschwärzten Wand, oder Reste eines mittelalterlichen Turmes sind die Wohnung des in Felle gekleideten Wanderhirten, dessen ungewohnte Aussprache verrät, daß er von fern her kam, und dessen sämtliches Hausgerät in ein paar Näpfen besteht und einigen Schaf- und Ziegenfellen, die ihm nachts als Lager dienen. Manch einer darunter kann ganze Gesänge Ariosts oder Tassos auswendig; denn in ihrer Einsamkeit lesen sie in alten abgegriffenen Büchern, während ihre großen, meist gelblich-weißen Hunde wachen und lauern und nicht selten der Schrecken des Reiters sind, der in das Gehege gelangt, indem er das Land durchstreift bis an die Ufer des gelbtrüben Tiberstroms.
Das im Jahre 1782 aufgenommene Besitzstandsverzeichnis über die 10 700 qkm, welche die Grundstücke der Campagna einnehmen, ergab, daß etwa zwei Dritteile des Landes in den Händen von nur 113 Eigentümern, das übrige Dritteil im Besitz von Kirchen, Klöstern und frommen Stiftungen war. Pius VI. und VII. konnten trotz des besten Willens, mit dem sie sich der Sache annahmen, doch nicht bewirken, daß mehr als etwa der zehnte Teil dieses fruchtbaren Landes angebaut wurde, und selbst dies geschah nur zwangsweise und schlecht, und der Ertrag befriedigte wenig mehr als die Hälfte des Bedürfnisses der Stadt Rom. Ein Erlaß Pius VII. schildert mit gründlicher Einsicht den Zustand der Campagna (1802) und spricht unverhohlen aus, daß ohne Wiederbevölkerung mit ständigen, durch Besitz und Erbpacht an den Boden gebundenen Bewohnern kein Heil für die Kultur des Landes zu erwarten sei. Dazu sei die Aufteilung der ungeheueren Ländereien (Latifundien) ein notwendiger Schritt, wenn die Entvölkerung und Verödung und damit die Ungesundheit der Campagna nicht immerfort zunehmen solle.
Und sie nahm zu, und die Zahl der Besitzer verminderte sich noch mehr; denn weder Erbpacht, noch selbst Kolonienverhältnisse konnten bisher durchgesetzt werden. Die großen geistlichen und weltlichen Grundbesitzer verpachten ihre Besitzungen an wenige Großpächter, die sogenannten Mercanti di Campagna. Diese Mercanti di Campagna bebauen jetzt durchschnittlich etwa den zwölften Teil des Bodens mit Korn, Mais, Bohnen, Hafer usw. Bestellung und Ernte besorgen Arbeiter aus den heimischen Gebirgen und dem angrenzenden Neapel gegen hohen Lohn, etwa 20 000-30 000 an der Zahl. Aufseher zu Pferde überwachen diese geworbenen Scharen, deren Lagerstätte die fieberschwangere Erde ist, wenn nicht die Nähe Roms einigen die Treppen und Vorhallen der Kirchen oder die Ruinen und Gräber als Zuflucht bietet. Dazu die Gluthitze der römischen Julisonne am Tage und die feuchte Kälte der Nächte, die Stechmücken, welche große Reisigfeuer, im Kreise um die Lagernden angezündet, nur schlecht abwehren, die schlechte Kost, das schlechte Wasser und der erhitzende, oft verdorbene Wein. Daher ergreift denn das Fieber gegen Ende der Erntezeit einen nach dem anderen. Dann füllen sich die römischen Spitäler. Manche werden in wenigen Tagen dahingerafft; andere schleppen sich siech und matt in ihre heimischen Berge zurück.
Vor nicht zu langer Zeit hat auf Anregung des volkstümlichen Generals Garibaldi, der sich vorgenommen hatte, den Tiberfluß einzudämmen, die Campagna urbar zu machen und die Malaria zu bannen, der merkwürdige Landstrich abermals die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Der Boden der römischen Campagna scheint allen Versuchen, ihn zu verbessern, zu spotten. Er ist vulkanischer Natur, die sich sowohl in den tiefen Schluchten, von denen der Erdboden zerrissen ist, kund gibt, als auch in dem sich überall vorfindenden roten Tuff und den Lavabrocken, die man besonders auf der via Appia von dem Grabmal der Cecilia Metella an bis zu den Albanerbergen als Reste eines von dort herabgeflossenen Lavastromes findet; – die Pflasterung der alten Straße ward hauptsächlich aus Lavastücken bewerkstelligt. Die vielen Seen des Ciminischen Waldes und des Albanergebirges sind samt und sonders alte Krater von Vulkanen. Durch den vulkanischen Tuff sickert wie im Kalkgebirge das Wasser leicht hindurch und sammelt sich dann in den Schluchten. Da es in der Steppe an Bäumen fehlt, deren Wurzelgeflecht die Feuchtigkeit der tieferen Erdschichten aufsaugen könnte; denn noch Papst Gregor III. ließ ein Pinienwäldchen vertilgen, damit es den Räubern der Campagna nicht zum Schlupfwinkel dienen möchte – da auch der Anbau der Gegend im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr vernachlässigt wurde, während im Gebirge die Ausrottung des Waldes lustig weiter ging und damit die Überschwemmungen im Frühjahr und Herbst zunahmen, die überall Pfützen und sumpfige Tümpel zurückließen: so mußte die Fiebergefahr in der Campagna sich steigern und der Wiederanbau lahmgelegt werden. Deswegen geht zunächst der Plan der italienischen Regierung und einsichtiger Privatleute besonders dahin, Bäume anzupflanzen. Aber die Bäume gingen meist zugrunde. Den Trappisten der Abtei delle tre Fontane gelang es endlich, den »Fieberheilbaum« zu finden, der in der überfeuchten Erde fortkam: den australischen Gummibaum, Eucalyptus globulus, der jetzt überall in den Maremmen (= ora maritima) den Küstensumpfländern zur Bodenbesserung angepflanzt wird. Er gedeiht vortrefflich, und die Mönche jenes Klosters brauchen nicht mehr die Sommernächte in Rom zuzubringen, sondern bleiben ruhig in ihrem Kloster. Dort haben sie eine Baumschule angelegt und geben gern Setzlinge des wertvollen Baumes an benachbarte Landgüter ab. In 6 Jahren schon erreicht der blaugraue Baum eine Höhe von 20 m. Diese Raschwüchsigkeit schädigt keineswegs sein Holz; denn es ist sehr hart und dauerhaft und kann zu Tischlerarbeiten Verwendung finden.
Quelle: R. Kleinpaul, Neapel und seine Umgebung. Leipzig 1884, Schmidt & Günther. Wer vom Schiffe aus beim Aufgehen des Tagesgestirns Neapel plötzlich vor sich sieht, meint einen Blick in das Paradies zu tun. Weit, offen, unermeßlich erhebt sich vor uns das große Halbrund, das man Neapel nennt, beherrscht von fünf Kastellen, und rechts von uns ragt aus der dem Garten Eden gleichen Ebene der gewaltig breite Kegel des Vesuvs, eine Rauchsäule ausstoßend. Ja, blühend sind die Gelände, an denen sich die Stadt hinzieht; kühle, köstlich duftende Winde küssen ihr das Antlitz, vom Meer herstreichend; sie umnebeln die Sinne und lassen den Berauschten den Titanen vergessen, der tückisch im Hintergrunde auf das entzückende Leben herabsieht. Kein Wunder, daß die Alten hier den Sitz der Sirene Parthenope verehrten, die der Sage nach auch den göttlichen Sänger Virgil gefangen hielt, so daß man sie noch heute mit dem Dichternamen Parthenope nennt. Noch eine andere gütige Fee hatte dem Volksaberglauben nach auf dem herrlichen Stück Erde ihren Sitz, die heilige Lucia, die Schutzpatronin des bekannten Kais von Santa Lucia inmitten der Stadt; sie gilt als der Blinden Trost, spendet die heilende Schwefelquelle und gibt dem Fischer, dem Matrosen und Lazzaroni das nährende »Meerobst«, nämlich Austern, Hummern, Krabben, Seespinnen und See-Igel.
Obwohl der ganze Halbkreis des Golfes eine einzige, zehn Stunden lange Stadt zu sein scheint, hört doch Neapel im engeren Sinne jenseit des Flüßchens Sebeto im Osten auf, während wir als den westlichen Endpunkt den zwar nicht hohen, aber jähen Bergrücken des Posilippo anzusehen haben, welcher die Stadt scharf und bestimmt von den phlegräischen Feldern und dem Busen von Pozzuoli scheidet. Als Nordpunkt ragt auf steilem Kegel der königliche Palast Capodimonte, während die Stadt im Süden durch das Felseninselchen abgeschlossen wird, das durch eine Brücke mit dem Festlande verbunden ist und das Castello dell'Ovo trägt. Ihre Brust kühlt die Stadt in dem blauen, offenen Meere, mit dem Rücken lehnt sie sich an eine Bergkette, welche eine natürliche, durch die Kunst befestigte Mauer bildet. Die Häuser steigen an dieser Umfassungsmauer in die Höhe, daher der amphitheatralische Bau der Stadt, deren oberste Galerien wohl 100 m Höhe haben. Steile, unfahrbare Straßen, Treppen genannt, steigen dort hinauf. – Neapel bedeutet wörtlich Neustadt, und zwar bezeichnet dieser Name den Gegensatz zur Altstadt (Palaeopolis), welche ursprünglich den Westen der jetzigen Stadt bildete, doch heute nur aus Villen und Gärten besteht, da die östliche Neustadt (Neapolis) durch Handel zu rascher Blüte gelangte und den alten Stadtteil verschlang. Vor Rom und Florenz hat Neapel vor allem eins voraus, die unvergleichliche Lage. So wie nach griechischem Glauben niemand aus diesem Leben scheiden sollte, ohne den olympischen Zeus des Phidias gesehen zu haben; so wie kein Mohammedaner zu den Pforten des Paradieses eingeht, ohne an den heiligen Stätten Mekkas gestanden zu haben, so glaubt auch der Neapolitaner, daß der Sterbliche nicht aus dem Erdgarten scheiden sollte, ohne das köstlichste Kleinod desselben geschaut zu haben, Neapel. Daher das Sprichwort: »Vedi Napoli e poi muori!« Selbst die in Neid entbrannten Bewohner von Mailand und Florenz gestehen ihr den Preis der Schönheit zu: »Venedig ist reich, Genua stolz, Florenz anmutig, Rom erhaben und majestätisch, aber Neapel scheint ein Stück des Himmels selbst zu sein; die Aussicht von dem Kloster Camaldoli, dem höchsten Gipfel in der näheren Umgebung, gilt für die herrlichste in ganz Italien, und auf dem sorgenfreien Posilipp, wo ein schmeichelnder West jedweden Kummer auflöst, wo edle Reben bräutlich den Stamm der Pinie umschlingen, die Opuntien üppig wuchernd die heiße Felswand überkleiden und die Agave ihren mächtigen Blütenschaft emportreibt, wo tausend Villen und Lusträume die sehnende Kreatur zum Fest des Lebens laden, scheint eine Welt mit sich selbst zu versöhnen und des Daseins froh zu werden – das hat etwas Berauschendes, man kommt gleichsam von Sinnen, man erhält einen Vorschmack der Seligkeit.«
In erster Linie verdankt Neapel diese Vorzüge der Lage dem prachtvoll schimmernden, wollustatmenden Golfe, dem schneidend klaren Himmel und den mannigfachen, vornehmen Bergformen, welche den Hintergrund bilden. Selbst das härteste Herz, das ohne klassische Erinnerungen diese Schönheiten zum ersten Male genießt, kann nicht, ohne gerührt zu werden, an so viel göttlicher Herrlichkeit vorübergehen.
Wagen wir uns nun hinein in den Strudel des neapolitanischen Volkslebens! Es wird dir gut sein, lieber Leser, die Nerven zu stählen; denn gewaltig sind die Erschütterungen, die einem in dieser Stadt hochwogenden Lebens bevorstehen. Schon wenn zwei auf der Straße ein Gespräch führen, klingt dies wie ein wütender Streit, und die Hausierer, Marktleute und Marktschreier machen die Handbewegungen zu ihren schreienden Verhandlungen mit einer Gelenkigkeit, die wir Nordländer nur am Seiltänzer im Zirkus zu sehen gewöhnt sind. Machen wir uns auf den Weg nach dem Hafen! Vom Gehen scheint leider nicht die Rede sein zu sollen. Denn sobald wir den Fuß aus dem Hause setzen, stürmen von allen Seiten mindestens ein Dutzend Kutscher auf uns ein; wir kommen in Gefahr, von den ansausenden Carrozelles überfahren und von der um uns sich türmenden Wagenburg erdrückt zu werden, wenn wir uns nicht schnell entschließen, ein Gefährt zu mieten. Doch Mut! Sobald wir einmal die Villa Nazionale erreicht, sind wir gerettet; denn dorthin, in die Promenade, darf uns kein zudringlicher Rosselenker folgen.
Die Villa Nazionale ist der Hauptspaziergang Neapels und ein Teil der Chiaja, die sich fast 2 km lang am Meere in westlicher Richtung hinzieht. Der Raum zwischen den Häusern und dem Meere ist in verschiedene Zonen geteilt. Unmittelbar an den vier- und fünfstöckigen Häusern hin zieht sich der breite Fahrweg, wo unzählige Droschken, zweiräderige Corricolos, überlastete Omnibusse und herrschaftliche Zweigespanne in sausender Fahrt durcheinander wirbeln. Abends ist er teilweise für den Korso freigelassen. Dann müssen sich die Wagen nicht selten zu fünf nebeneinander vorwärts bewegen. An den Fahrweg schließt sich meerwärts die Reitbahn, dann folgt der einem langgestreckten Gürtel ähnelnde Garten, Villa genannt, mit seinen in ewiger Jugend prangenden Anlagen und den Denkmälern berühmter Söhne Italiens, Vergils, Tassos und andern. Den letzten, unmittelbar am Meere hinlaufenden Saum der Chiaja bildet der schöne Kai, von dem ein prachtvolles Belvedere ins Meer vorspringt. Und auf dem Meere selbst durchschneiden Hunderte von Gondeln die blaue Flut. Ja, wer in schöner Sommernacht auf dem Belvedere diesem Treiben zusieht: dem Korso, dem Wiegen der Gondeln, der durch die Villa flutenden Menge der Spaziergänger, während die helle Mondscheibe über den Vesuv und den Tempel Vergils magisches Licht ausgießt, und die Töne sanfter Musik vom Rondell durch die mit Wohlgerüchen erfüllte Luft zittern, der steht trunken, überwältigt vor dem Bilde südlichen Lebens.
Alle Augenblicke springen in der Nähe der zoologischen Station (in den siebziger Jahren von Dr. Anton Dohrn mit Unterstützung der deutschen Reichsregierung gegründet zu dem Zwecke, das Tier- und Pflanzenleben des Mittelmeeres zu erforschen) jugendliche Taucher ins Meer hinab, um die kleinen Geldstücke heraufzuholen, die müßige Zuschauer hinabwerfen. Sie erinnern uns bereits an die Lazzaroni, die wir beispielsweise am Largo della Vittoria vor der Bude des Wassermanns antreffen. Ein neapolitanischer Wassermann in seinem bekränzten, hell erleuchteten und sinnig ausgemalten Häuschen gleicht dem Moses der Wüste, nur daß er fast an allen Straßenecken zu finden ist. Zwei Holzkübel schwenkt er ohne Aufhören hin und her, und dabei läßt er sie zugleich um ihre Achse sich drehen. Beide enthalten Wasser und Schnee zur Kühlung. Schnee vom Monat Sant' Angelo oder vom Ätna vertritt hier die Stelle des Eises. Dem gekühlten Wasser wird durch Zusätze von Anis, Kirschsaft, Mandelmilch, Zitronat, Sirup oder Tamarinde der üble Beigeschmack genommen. Man begegnet auch Wasserhändlern, die, ihre Kübel und Liköre durch die Straßen tragend, Wasser feilbieten. Hoch und niedrig sprechen bei dem Aquajulo (Wasserhändler) vor. Außerdem hat Neapel einen Gesund- und Mineralbrunnen, die Acqua Solforosa, das Schwefelwasser, am Santa-Lucia-Kai. Es wird in der ganzen Stadt wie in der Umgebung in irdenen Krügen (Mommare) ausgeschenkt und wirkt abführend. Wer zu der Quelle am Kai selbst hinabsteigt, dem wird sogleich durch eine reizende Neapolitanerin das Schwefelwasser gereicht. In Neapel, wo die glühende Sonne den Menschen nötigt, nach Erfrischungen auszublicken, spielt auch die Wassermelone eine große Rolle, jene kürbisartige, grünschalige Frucht mit hochrotem Fleisch. Sie wird in Scheiben geschnitten, auf Eis gelegt und schmeckt süß und erfrischend. Ja, das Volk behauptet, man könne sie essen, trinken und mit ihr (das ist mit dem Gewebe unter der Schale) sich das Gesicht waschen. In der Hafenstraße, Strada di Porto, der Küche der Lazzaroni, haust rechts und links in Zelten eine halbnackte, schreiende, sich raufende Menge. Gassenjungen stecken den Kopf ins Innere einer ausgehöhlten Melone. In zwei Buden wird diese Götterfrucht ausgeboten und unter Grimassen und Übertreibungen angepriesen: »Castellamare, ei, ei, welch ein Wunder! Sie sind von Castellamare. – Sie sind gewachsen unter Schnee und brennen (wegen des roten Fleisches) wie Feuer! (Nach dem Zerschneiden:) Herr Gott, was für eine Pracht! Nein, so eine Herrlichkeit! Die Sonne geht auf! (Indem der Händler in jeder Hand eine der beiden Hälften hochhält:) Hier ist die Sonne, das andere ist der Mond! Acht Solidi für die Sonne, vier Solidi für die halbe Sonne, drei Solidi, wenn man sie gleich aufißt! (Er legt einem Knaben eine neue Melone auf den Kopf, zerlegt sie und ruft mit Anspielung auf die rote Farbe:) Ha, das achte Wunder der Welt! Feuer, Feuer! (Der Händler auf der anderen Straßenseite, ihn übertrumpfend:) Der Vesuv! Der Vesuv! (Der erste wie wahnsinnig:) Ätna und Monte Gibello!« Und während des Wettkampfes der beiden Nebenbuhler sitzt der zuschauende Lazzarone wie im Theater, lacht, zischt, klatscht Beifall, ißt, trinkt und wäscht sich. Am Frühmorgen kommen die Kühe auf den Fußbahnen hereingeschlendert und werden gleich vor den Haustüren gemolken. Die Ziegen aber klettern sogar die vier oder fünf Stockwerke der Häuser hinauf, um dort vor den Stubentüren ebenfalls von den neapolitanischen Hausfrauen gemolken zu werden. Dann zieht das Tiergewimmel durchs Menschengewühl hindurch wieder aus der Stadt.
Ein behäbiger Maccaronaro bietet seine berühmten Nudeln (Makkaroni) feil. Mit dem wohllautenden Rufe: »Hier gibt's frische Nudeln,« greift er mit dem Löffel oder auch mit seinen dicken Fingern in den brodelnden Kessel und zieht geschickt einen Knäuel jener langen, röhrenförmigen, schlüpfrigen Makkaroni heraus; er breitet sie auf Teller, übergießt sie mit Butter und Paradiesäpfelsauce und bestreut sie mit Stutenkäse, während die sorgliche Gattin den Kessel beobachtet, damit die Nudeln nur gebrüht, aber nicht weich gekocht werden. Der Lazzarone bedarf keines Tellers und Löffels, um sein Mittagsmahl zu halten; er läßt sich die Nudeln in Hut oder Mütze schütten und verzehrt sie mit den Fingern. Er hebt einen Teil in die Höhe, biegt den Kopf zurück, hält sie senkrecht über die Mundöffnung, ein Göttergenuß, wenn die tröpfelnde Butter auf die Zunge fällt! und verschlingt sie mit einem Male. Ein Lazzarone »genießt« auf diese Weise in drei Minuten 1 kg Nudeln und, wenn es sein könnte, noch mehr. »Doch nur der König ißt so viel Makkaroni, als er will.« Es ist merkwürdig, mit welcher Begeisterung der gemeine Mann in Neapel von diesem Gericht aus Weizen-, Maismehl und Wasser spricht.
Ein schöner Zug gerade dieser niedrigsten Volksklasse ist der Ernst, mit dem man die jugendliche Liebe ansieht. Da spaziert ein sechzehnjähriger Jüngling vor einem Fenster, an dem ein junges Mädchen von vierzehn Jahren lehnt. Sie betrachtet den Burschen, er lächelt ihr zu, sie ihm; sie sprechen kein Wort, und der Bund fürs Leben ist geschlossen. Wenn man sie fragt, ob sie einen Bräutigam habe, so antwortet sie in der verschwiegenen, verblümten Art ihres Volkes: »Bin ich etwa so häßlich und widerwärtig?« Und wenn man weiter forscht, ob jener Bursche dort auf der Straße ihr Liebling sei, so entgegnet sie wiederum ausweichend: »Halten Sie mich etwa für herzlos?« Haben sich zwei auf diese Weise verlobt, so halten sie Treue, bis es dem Bräutigam gelingt, sich einen Hausstand zu gründen, und das dauert oft zehn, fünfzehn Jahre. Beobachten muß man sie ferner, wenn die des Lesens und Schreibens Unkundigen zu dem »Sekretär« des Volkes eilen, der am Molo oder unter den Bogengängen des Teatro San Carlo sein Tischchen mit dem Tintenfaß von Holz aufgestellt hat, sein Ohr jedem Mädchenherzen öffnet, die Geheimnisse des Briefes ihr verdolmetscht und ihre Gedanken dem Briefpapier anvertraut. Sehen muß man sie, wenn sie bei einem Fest im Wirtshaus oder im Tempel des Merkur zu Bajä oder auf dem Dache eines Fischers zu Sorrent den einheimischen Tanz, die Tarantella, tanzen. Sie wird nur von einem Paare ausgeführt; eine dritte Person, ein Mädchen, schlägt dazu das Tamburin und singt. Die Tänzer begleiten ihre rhythmischen Bewegungen mit dem Geklapper der Kastagnetten oder dem Geknister der Finger. Der Tanz ist wesentlich Gebärdentanz, drückt eine ganze Liebesgeschichte mit all ihrem Sehnen, Hoffen, Fliehen, Versöhnen, ihrer Lust und Pein aus. Doch nicht bloß dem Liebhaber blühendster Natur, frischesten Volkslebens ist Neapel ein Elysium, es ist's auch dem Kunstsinnigen, da es in seinem Nationalmuseum unermeßliche Schätze der Stein- und Erzplastik, der Kunstindustrie, der antiken und modernen Malerei beherbergt.
In 50 Minuten trägt uns die Eisenbahn von Neapel nach Pompeji, das an jedem Sonntagnachmittag ohne Eintrittsgeld und Führer dem Reisenden zugänglich ist. Wir fahren am Meere dahin und haben Zeit, die Geschichte der verschwundenen und wiedererstandenen Stadt zu überdenken. Da, wo der Fluß Sarnus in den Golf von Neapel fällt, lag zwischen Herkulanum und Stabiä die alte kampanische Niederlassung Pompeji, der Sage nach von Herkules gegründet. Im Jahre 272 v. Chr. fiel sie in römische Hände und war damals bereits wegen ihrer Lage an der Sarnusmündung, als Hafen für die fruchtbare Ebene von Nola eine blühende Stadt. Seit dem Jahre 89 v. Chr., also seit der Einnahme der aufständischen Stadt durch Sulla, zierte ein Kranz stolzer Villen, den römischen Edlen gehörig, das Meeresufer und die Umgegend von Pompeji. Auch Cicero zählte sein Landhaus Pompejanum zu seinen schönsten Besitzungen. Die Stadt mochte zur Zeit ihrer besten Entfaltung 20-30 000 Einwohner zählen und besaß zwei Theater und ein Amphitheater.
Im Jahre 63 n. Chr. erschütterte ein Erdbeben die Stadt. Es war das erste Lebenszeichen, das der seit 1000 Jahren schlafende Vulkan gab. Ein großer Teil der Stadt wurde schon bei diesem Vorspiel zerstört, was sich aus den Ausgrabungen ergibt. Sie war im Wiederaufbau und Umbau begriffen und sollte schöner wiedererstehen.
Doch das Schicksal hatte anders über die unglückliche Stadt bestimmt. Am 24. August des Jahres 79. n. Chr. regneten zuerst Bimssteinstücke und Trümmer zerstäubter Lavamassen (Lapilli) herab, eine 2 m hohe Decke über die Stadt ausbreitend. Dann sendeten die Schleusen des Himmels mit Regen vermischte Asche, die eine kaum weniger mächtige Schlammschicht bildete. So war der größte Teil der Stadt verschüttet, begraben, wenn auch nicht zerstört. Viele Bewohner befanden sich beim Beginn des Ausbruches gerade im Amphitheater, als der Schreckensruf lähmend in ihre Ohren gellte: »Vesuvius ardet« (Der Vesuv brennt). Die Fechterspiele waren im Nu zu Ende, nur die sterbenden und in den Zellen für weitere Kämpfe aufgesparten Gladiatoren blieben zurück, sowie am Ausgange der wachthabende Soldat. Alles andere stürzte hinaus, Rettung in Läden, Kellern, Arkaden suchend. Bald stieg ihnen die schlammige Asche bis über die Brust, der Fuß war festgebannt und ein schrecklicher Erstickungstod endete Tausende von blühenden Leben. Einige versuchten, mit zusammengerafften Kleinodien und Geldsäcken in der Hand das Freie zu gewinnen; doch das Schicksal hatte Adlerflügel; zusammengesunken fand man sie nach 1700 Jahren, und die in ihrer Nähe verstreuten Schätze legen noch Zeugnis ab von ihrem Vorhaben. Neue Ausbrüche mögen die Decke des Todes über Pompeji noch verstärkt haben. Es ist wohl zweifellos, daß unmittelbar nach dem Unglück gerettete Bewohner nach der Stadt zurückkehrten und Nachgrabungen veranstalteten. Wir werden in dieser Vermutung bestärkt, weil man bei den Ausgrabungen nur 4-600 Skelette und von Gold und Silber sehr wenig fand, um so mehr, als man in späteren Jahrhunderten die Reste der Stadt als Steinbrüche benutzte. Doch bereits seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts blieb sie unerwähnt; der Ackersmann zog seine Furchen über dem ehemaligen Forum: Weinpflanzungen und Gebüsch wucherten über den einstigen Theatern. Bald war sogar die Stätte, wo sie gestanden, vergessen.
Als 1592 der Architekt und Ingenieur Domenico Fontana eine unterirdische Wasserleitung von den Quellen des Sarno am Fuße des Vesuv vorbei nach Torre Annunziata führte mitten durch die Ruinen des alten Pompeji, wurden diese nicht als solche erkannt und beachtet, und es darf uns nicht zu sehr wundern; war doch an der Küste neues Land entstanden (gleichzeitig mit dem Ausbruch im Jahre 79), so daß die Seestadt Pompeji nun 2 km landeinwärts lag, und hatte doch der Sarno sein Bett nach Osten verlegt. Im Jahre 1748 war es, als Winzer beim Umgraben ihres Weingartens Bildsäulen und Bronzen in einem bemalten unterirdischen Haus fanden, und dieser Fund fand seine richtige und volle Würdigung. König Karl III. gestattete dem Genie-Obersten Alcubierre, mit zwölf Sträflingen jene merkwürdige Entdeckung weiter zu verfolgen. Doch immer noch glaubte die gebildete Welt, daß die Funde von Stabiä herrührten, bis um 1755 nach Auffindung des Amphitheaters und der beiden kleinen Theater jeder Zweifel zerstört wurde. Weil jedoch diese ersten Ausgrabungen nicht aus kulturgeschichtlichen oder archäologischen, sondern nur aus rein geschäftlichen Absichten, um Schätze zu erbeuten, veranstaltet wurden, betrieb man die Sache nicht planmäßig und schüttete die Schächte wieder zu, zumal man nicht das ursprüngliche, unberührte, sondern nur ein teilweise von Schatzgräbern durchwühltes Pompeji vorfand. Wesentlich gefördert wurden die Arbeiten unter Murats Regierung, der den gesamten Grund und Boden von Staats wegen ankaufte und 1813 gegen 500 Leute mit der planmäßigen Ausgrabung beschäftigte. Markt, Stadtmauern, Bürgerhäuser wurden bloßgelegt. Mit der Rückkehr der Bourbonen endigten auch diese verdienstlichen Arbeiten. Der Boden ging stückweise in Privathände über, das alte Ausbeutungswesen begann wieder, die von Murat ausgeworfenen 25 000 Lire für Ausgrabungen (im Jahr) wurden auf 10 000 herabgesetzt und endlich verweigert. Nur in Gegenwart allerhöchster Herrschaften wurde dann und wann das Schauspiel der Ausgrabungen wieder vorgenommen, doch so, daß man kurz vorher alle die Gegenstände, die man dem Erdenschoße zu entreißen wünschte, hineinlegte und mit Bimsstein und vulkanischer Asche bedeckte.
Mit dem Erstehen des Königreichs Italien sollte auch Pompeji die endgültige Auferstehung feiern, indem Viktor Emmanuel in dem Altertumsforscher Fiorelli aus Neapel den rechten Leiter jener wichtigen Arbeiten gefunden hatte. Die Stadt wurde nun planmäßig, Haus für Haus, ein Häuserviertel nach dem anderen bloßgelegt. Der Schutt wurde durch weibliche Arbeiter in Körben nach Eisenbahnwagen befördert, welche durch Maultiere auf langsam ansteigenden Gleisen an die Erdoberfläche gezogen wurden. Noch immer wird gegraben, aber es dürften noch Jahre vergehen, ehe die Sonne die ganze, auferstandene Stadt wieder bescheint.
Vom Bahnhof Pompeji aus gelangen wir am Hotel Diomède vorüber an die Porta Marina, das Seetor, und betreten den klassischen Boden. In Gestalt eines Ovals breitet sich Pompeji von Ost nach West aus und ist von 10-12 m hohen Mauern umgeben, deren Gesamtumfang 2600 m beträgt. Auf der Seeseite fehlen sie. Sie sind aus festen, großen Tuff- und Kalksteinquadern gebaut, vielfach mit Lavastücken und Gußwerk geflickt. Acht Tore durchbrechen die Stadtmauern, darunter das Herkulaner mit drei Bogen als das großartigste. Davor lag eine den Namen des Augustus tragende Vorstadt mit den Villen des Cicero und Arrius Diomedes. Gerade Straßen – nur die Konsularstraße ist eng und krumm – mit höchstens 6-8 m Breite durchschneiden die Stadt. Die Breite, bei welcher auch die Fußbahnen eingerechnet sind, erklärt sich aus der Spurweite der Wagen (1¼ m). Die Straßen sind mit Blöcken von basaltischer Lava gepflastert. Durch dies Netz gerader Straßen zerfällt Pompeji in neun Viertel, von denen glücklicherweise die wichtigsten ausgegraben sind. Auf dem Forum äußerte sich das pompejanische Leben am stärksten. Nur klein ist der freie Raum (157 m Länge und 33 m Breite), der auf drei Seiten von einem Säulengange dorisch-jonischen Gepräges umgeben ist. Treppen führen zu dieser bedeckten Anlage hinauf. Ein Triumphbogen, der jetzt freilich von allem Schmuck entblößt ist, bildete den Haupteingang zu dem mit Marmorfliesen gepflasterten Forum. Von den Gebäuden, welche die Einfassung des Marktes bilden, sind nicht alle genau nach ihrer früheren Bestimmung zu bezeichnen: schon in dem Jupitertempel, der auf einem 3 m hohen Unterbau ruht und einen Portikus von sechs mächtigen korinthischen Säulen besitzt, wollen einige das Rathaus erblicken; ähnlich schwankt die Forschung bezüglich der gegenüberliegenden Markthallen, in denen einst Fischer, Fleischer und Lebensmittelhändler ihre Stände besaßen; andere Gebäude an dem Außenrande des Forums sind die Kurie (wo die Dekurionen oder Senatoren ihre Sitzungen abhielten), die drei ganz gleichen Räume der Gerichtshäuser (Tribunalien) und die Basilika, das größte Gebäude Pompejis (67 m lang und 25,4 m breit). Das Forum war mit den Bildsäulen verdienter Bürger geschmückt, von denen leider nur die Fußgestelle erhalten sind.
Wenden wir unsere Schritte vom Forum den drei Theatern zu. Das erste war der eigentlichen Schauspielkunst, das zweite kleine, das Odeum, dem Gesang und der Instrumentalmusik, das Amphitheater den Gladiatoren-, Wett- und Tierkämpfen gewidmet. Das erste ist nach dem Muster eines römischen, nicht griechischen Schauspielhauses gebaut, war ursprünglich ganz mit Marmor verkleidet, hat hufeisenförmige Gestalt, 68 m Durchmesser, 29 Sitzreihen, welche durch Galerien in drei Ränge zerfielen, so daß 5000 Zuschauer Raum fanden. Das Parkett (Orchestra) war für die Senatoren und Edlen bestimmt, die Bühne war lang und schmal und wies an der Rückwand drei Türen für die drei Hauptschauspieler auf. Um den Besuchern Schutz zu gewähren gegen die glühenden Sonnenstrahlen, konnte ein Segel über dem unbedachten Raume aufgespannt werden, das durch Mastbäume, die an der Umfassungsmauer in steinernen Ösen saßen, gehalten wurde. Das zweite, kleinere Theater war bedacht; das elliptische Amphitheater (große Achse 135 m, kleine 104 m) hatte 34 konzentrische Sitzreihen, 20 000 radiale Sitzplätze und 97 Ausgänge. Prächtig erhalten sind die städtischen Bäder oder Thermen, welche eine ganze Insula, eine von vier Straßen eingeschlossene Gruppe von Gebäuden, einnehmen. Man kann da die Einrichtung antiker Bäder aufs beste kennen lernen; sie enthalten ein Auskleidezimmer oder Apodyterium, ein Kaltbad oder Frigidarium, zum Baden in lauem Wasser ein Trepidarium, das auch zur Vorbereitung auf die höhere Temperatur des Caldariums für Schwitz- und warme Bäder eingerichtet war. Der Fußboden ruhte hier auf Pfeilern, und darunter lag der Heizraum; damit die heiße Luft sich überall verbreiten konnte, waren Dielen und Wände hohl. In amphitheatralischer Ordnung zogen sich Bänke an den Wänden entlang; je höher, desto größer war die Hitze für den Schwitzenden. Mitten im Caldarium lag ein großes Steinbecken mit kaltem Wasser, womit diejenigen, die die Schwitzkur beendet hatten, Gesicht und Hände kühlten.
Am besten erhalten in der wiedererstandenen Stadt sind die Bürgerhäuser, die jedoch weder als Muster echt römischen, noch echt griechischen Hausbaues gelten können, da in Pompeji beide Kulturen einander begegneten. Die Häuser waren selten über zwei Stock hoch; das oberste Stockwerk war meist den Sklaven zu Schlafstätten bestimmt; es war meist aus Holz gebaut. Diese Wohnhäuser hatten keinen baulichen Schmuck, keinen Portikus. Die Straßenseite zeigte nackte Wände mit winzigen Fenstern oder aber ganze Reihen von Läden, die sich nur nach der Straße öffneten; sie legen Zeugnis ab für die Lebhaftigkeit des Kleinverkehrs in Pompeji. Die Konsularstraße bestand aus Gasthöfen, die Stabianer Straße enthielt die Niederlagen der Holzhändler, die Merkurstraße die Läden der Obsthändler und die große Tuchwalkerei, die Forumstraße die Geschäftsräume und Speicher der Getreidehändler. Das schöne Haus des Oberrichters Pansa nahm – wie eine echt römische Wohnung – eine ganze Insula ein, mit seinen Läden, Wohnräumen, seinem Vor- und Hinterhof. Doch in der Regel teilen sich mehrere Häuser in den Raum einer Insula, und ganz kleine, bescheidene Häuschen mit nur einem Stock ohne Fenster, nur durch die offene Tür erleuchtet, und mit nur zwei Zimmern fehlen keineswegs. Ihre innere Ausstattung straft jedoch die äußere Armut Lügen; sie sind mit geflochtenen Rohrstühlen und buntlackierten, vergoldeten Kommoden ausgestattet. In allen besseren Häusern sind die Wände farbenprächtig ausgemalt. Vor- und Hinterhof mit Säulengängen umstellt; die Säulen sind freilich nicht von Marmor, sondern von Ziegeln aufgemauert und mit Stuck überzogen. Die Fußböden zeigen meist kunstfertige Mosaikarbeit, in vornehmen Häusern mit prachtvollen Kanten ringsum und dem Salve auf der Schwelle. Sehenswert ist entschieden auch die Gräberstraße vor dem Herkulanertor, mit zahlreichen Denkmälern; darunter befindet sich zuweilen ein Kolumbarium, die Kammer für die Aschenkrüge.
Ein Hauptreiz liegt für den Besucher Pompejis in den Inschriften, den oft von Narrenhänden hingeworfenen Malereien und Kritzeleien, die sich zahlreich an den Stuckwänden der Häuser vorfinden. Manche sind noch in oskischer Sprache abgefaßt, das heißt in alter kampanischer Mundart. Man wandelt, wenn man außer dem Latein der Bücher auch das Idiom des alten Kampaniens versteht, nicht wie in einer Stadt der Toten, sondern mitten im sprudelnden Leben mit seinen vielfältigen großen und kleinen Zwecken, seinen Leiden und Freuden. An dem einen Hause winkt ein Wirtshausschild: zwei Männer, welche einen Krug an der Stange tragen; am anderen das einer Milchhandlung: ein Kind, das eine Kuh milkt; hier bemerken wir eine Trinkstube, wo Soldaten Wein und Kaltschale verzehrten; vor allem wichtig sind aber die zahllosen weißen, an die Mauern geklebten Tontäfelchen (Albums), die mit Anzeigen und Anpreisungen bedeckt sind. Hier veröffentlicht der Oberpriester den Kalender; hier ist eine Amphora Wein gestohlen worden, und dem Wiederbringer wird eine Belohnung zugesichert. An diesem Täfelchen bestellt Holconius die Mamia vor die Basilika, auf jenem ersuchen die städtischen Zimmerer und Wagner den Gerichtsvorsteher (Ädilen) um Übertragung der öffentlichen Arbeiten an sie; auf dem nächsten heißt es: »Wähler, wählt Pansa, er ist ein Ehrenmann und hat sich um Pompeji sehr verdient gemacht«; auf dem folgenden meldet der Ädil Lucius Libella, daß am 1. Juni seine Gladiatorentruppe in Pompeji kämpfen wird; weiter kündigt ein Gastwirt an: »Fremdling, wenn du um die Ecke biegst, so findest du das Gasthaus des Sarinus«; eine Frau Julia Felix, geborene Spuria, vermietet ein Haus mit Garten an anständige Leute auf fünf Jahre, und in der Strada del Lupanare sehen wir an einer Hauswand zwei hochaufgerichtete Schlangen, zwischen ihnen einen Altar und darunter einen Hexameter, der der Verunreinigung jenes Ortes zu steuern bestimmt war; er lautet zu deutsch: »Mache, daß du fortkommst, du Bummler! Hier ist kein Platz für Müßiggänger.«
a) Sonnenland und Weinparadies.
Quelle: A. Schneegans. Sizilien. Bilder aus Natur, Geschichte und Leben. Leipzig 1887, F. A. Brockhaus. An der Nordküste Siziliens, unweit des altgeschichtlichen Mylä, wo Duilius den ersten Seesieg mittels der Enterbrücken davontrug, liegt Milazzo im Sonnenlande und Weinparadies. Es scheint, als ob drei der hellenischen Götter hier noch immer eine gemeinsame Herrschaft führten: Helios, der die glühenden Sonnenpfeile herabschießt, Dionysos, der die traubenschwere Rebe liebt, und Poseidon, der das All umschlingt, während im Hintergrunde die Rauchesse des Hephästos, der Ätna, mit dem schneeweißen Essenkopfe emporragt. Man könnte auch diese Gegend eine conca d'oro, eine goldene Muschel nennen wie die herrliche Bucht von Palermo; denn die Früchte schimmern hier köstlich und üppig aus dem grünen Laube hervor wie dort: Limonen, Pfirsiche und Kirschen, Granaten und Feigen und allen voran die schwer herabhängende Traube. Es ist ein unvergleichlicher Anblick, wenn man von Messina kommt, den Gebirgspaß San-Rizzo überschreitet und zu Füßen die Gegend von Milazzo überschaut. Da blinkt das Meer mit den äolischen Inseln und dem nimmermüden Vulkan von Stromboli, dort Reggio mit dem in der Nähe gelegenen Riff der Scylla, dort Messina mit seinem Sichelhafen, seinen Kirchen und der aus Palästen gebildeten Uferstraße. Und nun geht's fröhlich abwärts an den sonnenverbrannten, spärlich begrasten Bergen, vorbei an einer einsamen Locanda (Wirtshaus), immer in Windungen zwischen Kaktushecken, Agavenzäunen und knorrigen Olivenwäldchen talwärts. Je weiter nach der Meeresebene herunter, um so reicher das Grün der Gefilde; jetzt donnert das Gefährt über eine lange Steinbrücke, die eines jener kiesgefüllten, wasserleeren Flußbetten (Fiumaren) überspannt, in welchen nur im Frühjahr und Herbst die Bergwasser herabschäumen,
. . . jene gewaltigen Wetterbäche,
aus des Hagels unendlichen Schlossen,
aus den Wolkenbrüchen zusammengeflossen,
kommen finster gerauscht und geschossen,
reißen die Brücke und reißen die Dämme
donnernd mit fort im Wogengeschwemme,
nichts ist, das die Gewaltigen hemme.
Doch nur der Augenblick hat sie geboren,
ihres Laufes furchtbare Spur
geht verrinnend im Sande verloren,
die Zerstörung verkündigt sie nur.
(Schiller, Braut von Messina.) und nun wird das Gelände eben, die Pferde gehen im Schritt, den tiefen Staub aufwirbelnd, welcher das Sonnenland von Milazzo bedeckt.
Wir überholen eine Wasserträgerin, die mit gestrecktem Arme über dem Kopf den vollen, gehenkelten Krug auf der Schulter trägt und in ihrer Haltung an die griechischen Neophoren erinnert; an der anderen Seite der Fahrstraße steht – schwarzäugig, die kalabresische Mütze auf dem Kopf, mit dem über die Schultern geworfenen Tuche, den langen Stab in der Hand – ein Hirtenknabe, der Hüter hochgehörnter Ziegen, die zwischen den Agavenstauden weiden; auch er gemahnt an seine griechischen Vorfahren, von denen er selbst nichts weiß; reicher, waldartig treten die Orangen- und Zitronenbäume zusammen; Wassertürme erheben sich hier und da aus dem Laube; Ochsengespanne bewegen sich träge im enggezogenen Kreise um sie herum, das Wasser aus der Tiefe hebend, das in Rinnen in alle Teile dieses großen, einzigen Gartens geleitet wird: ein Zeichen der sarazenischen Herrschaft auf der Insel. Wir sind erst im Juni, und doch zittert die glühende Luft überall über der Ebene. Da fällt es keinem Menschen ein, zur Mittagszeit sich anzustrengen; Mensch und Tier halten Siesta; in dem Dörfchen, durch welches wir fahren, sind alle Läden geschlossen; quer vor der Ladentür liegt ein Junge im Halbschlaf, der den mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertrauten Käufer bescheidet mit den Worten: »Bis 3 Uhr ist alles geschlossen, der Herr schläft.« Unser Wagen rasselt die lange Straße zwischen den weißgetünchten Häusern weiter, bis wir endlich in das hochgewölbte Tor unserer Herberge (Albergo) einfahren; wir halten in einem großen, dunkeln, gewölbten Raume; an den Wänden hängen Wirtschaftsgeräte, da sind Krippen, ein Trog, Herd, Weinfässer, und in den Ecken wie in den Krippen halten schnarchende Schläfer ihre Siesta. Vergebens suchen wir nach einem Fenster. Wir tasten uns die Treppe hinauf, die Hand bleibt fast kleben an dem schmutzigen Geländer. Wir sind im ersten Stock, überall öffnen sich Kammern, keine hat Schloß oder Riegel; zwei Böcke mit aufgelegtem Brett, darüber eine Matratze und Decke: das ist unser Bett und einziger Komfort. Jede Kammer enthält so viele Betten, als hineingehen, und glaube nur ja kein mit seiner Frau Reisender, daß er eine solche Kammer für sein gutes Geld für sich allein in Anspruch nehmen könne; es würde ihm genau so gehen, wie jenem in Sizilien reisenden deutschen Landsmanne, der in sein bezahltes »Zimmer« plötzlich einen bestaubten Sizilianer eintreten sah. Mit einem »Scusi, Signor« (Entschuldigen Sie!) entledigte der sich ohne weiteres seiner Kleider und nahm anstandslos eins der Betten in Anspruch; bald folgte ihm ein zweiter und dritter. Als unser braver Landsmann den Wirt aufforderte, die Fremden aus seinem Zimmer zu weisen, wurde ihm die Antwort: »Entfernen? Weshalb? Exzellenza haben wohl das Zimmer, nicht aber alle Betten gemietet. Die Ankömmlinge sind keine Briganten und werden nur bis morgens 1 Uhr in der Herberge bleiben.« Das muß man in einem Örtchen von der Beschaffenheit unseres Spadafora (das ist: Degen heraus!) genannten Fleckens in Kauf nehmen.
Milazzo selbst liegt auf einer Landzunge, die wie ein Speer ins Meer hinausspringt, erst schmal, dann immer mehr sich verbreiternd; der neue Stadtteil macht einen modernen Eindruck mit dem schönen Hafen, dem Hafendamme und Leuchtturm, und in nicht zu ferner Zeit wird sich das Verkehrsleben wieder jener Blütezeit nähern, die Milazzo bereits einmal unter der griechischen Herrschaft erlebte. Wohl ist die Erinnerung an jene griechische Zeit Milazzos noch lebendig: hier weideten nach der Meinung der Bürger Helios' Herden; hier lag die Grotte, wo Odysseus den einäugigen Zyklopen aufsuchte; hier vernichtete Duilius die karthagische Flotte. Stolz ist der Bewohner Milazzos und jeder Sizilianer auf alle Großtaten, die hier geschehen, gleichviel, ob er selbst oder Fremde sie vollbracht, sowie er stolz ist, daß der Ätna auf seiner Insel liegt, daß auf Siziliens Boden die köstlichsten Orangen und die feurigsten Weine gedeihen, daß Garibaldi zu den Volksgenossen der Insel zählt.
Der Reisende wird an die Küche unserer Herberge in Spadafora, einem kleinen Flecken in der Nähe Milazzos, nachdem er die Einrichtung der Zimmer kennen lernte, keine weitgehenden Ansprüche stellen; sie liefert trockenes, hartes Brot und Käse, einen Kessel, Wasser und Kohlen, während man sich Makkaroni und Fische im Dorfe zusammenkauft, um dann die Kochgeschäfte selbst zu besorgen. Aber an einem ist hier wie in jeder Locanda (Dorfwirtshaus) Überfluß: an Wein. Freilich nur der Kenner, der die ersten, ganz bestimmt schlechten Flaschen scherzend zurückweist, erhält Einblick in die Schätze des Kellers. Die Leute wollen eben anders behandelt sein, als es der Reisende in unseren Gegenden gewöhnt ist. So sind sie auch nicht zu bewegen, eine Rechnung aufzusetzen oder die Schuldigkeit des Gastes zu nennen: »Comme volete (Wie Sie wollen!)« erhalten wir stets zur Antwort auf unsere Frage. Noch einer anderen, weniger angenehmen Seltsamkeit wollen wir gedenken: es ist das bettelnde Gesindel, das den abfahrenden Reisenden in kaum glaublicher Weise belästigt; es belagert die Türe, die Treppe, den Kutschenschlag, legt sich unter die Räder und die Pferde, alle seine Gebresten in ekelhafter Weise zur Schau tragend; hier kann man sich nur durchhauen mit Soldi und Stockschlägen; der Kutscher treibt die Pferde an, man steht Himmelangst aus, daß ein oder das andere Glied dieser edlen Zunft zertreten oder überfahren werden könnte, doch sie sind zu gut geschult, und lachend rufen sie ihr »Buon viaggio (Gute Reise!)« nach.
Wer am Meeresgestade dahinfährt von Milazzo nach Barcellona, der sieht die Ebene, die Hügel, den Hang der Berge nach Süden zu überkleidet mit Reben und Orangen; stundenweit, in nie geschauter Üppigkeit dehnen sich diese Fruchtwälder aus, ohne daß der Mensch kaum ein anderes Verdienst daran hat, als daß er die gütige Natur ungestört walten läßt. Hier ist der Weingarten Europas, hier gab Bacchus jenen schwarzen, schweren, duftenden Wein, der den leicht schlürfenden Nordländer heimtückisch, urplötzlich packt, wie Feuer in seinem Blute rollt und den Fremdling zu Boden schleudert; ja dieser Faro und Moscato ist kein Rheinwein oder Champagner. Während wir gewöhnt sind, unter jeder Aufschrift einen bestimmten Wein hinsichtlich der Farbe, Blume und des Geschmacks zu finden, gibt es in Sizilien keine festen Marken. Derselbe Wein, der dies Jahr ein süßer, hellgoldener Moscato war, ist im folgenden herb, rot, dunkel; die Pflege des Stocks, das Keltern der Trauben, die Aufbereitung ist eben jeder Kunst bar. Man wirft die abgeschnittenen Trauben mit Stielen und zuweilen auch mit Blättern in die Kufe, wo sie von Menschen oder auch von Ochsen gestampft werden. In einer zweiten Kufe läßt man den Saft gären, und dann erfolgt das Füllen der Fässer, meist für die Stadt Cette in Südfrankreich; dort erst wird der sizilische Wein veredelt, vermischt mit leichten französischen Sorten, und in Flaschen mit goldenem Aufdruck tritt er seinen Weg als Bordeaux und Burgunder in die Welt an.
Italienische Nacht.
Das Dach wird kühl, die Tramontana weht,
Steineulen rufen in die Nacht Signale.
Ein Flötenlied fängt sich im Kesseltale.
Dann rauscht der Zug, der nach Messina geht.
Die Luft durchtastet den Olivenhain,
Wird schwer und bettet sich. Das Lied verendet,
Und Glut und Glück des Tages sind verschwendet.
Verwitterung tönt im alternden Gestein.
Friedrich Otto.Velhagen & Klasings Monatshefte 1907, 2. S. 207.
b) Nach dem Ätna.
Die Städte Syrakus und Catania sind rechte Gegensätze; dort lauter klassische Erinnerungen an Hieron, Dionys, Marcellus, hier nur eine Ruine aus der griechischen Zeit: das durch einen Lavastrom 1669 verschüttete und teilweise wieder bloßgelegte griechische Theater, in welchem einst Alcibiades zum versammelten Volke sprach. Sonst ist Catania, die an den Fuß des Ätna geschmiegte, oft von dem Riesen geschüttelte und mißhandelte Tochter, eine neuzeitliche Stadt. Ihr gehört die Zukunft unter den Städten der Insel. Wie einst Syrakus blühte durch die Griechen, Palermo durch Sarazenen, Normannen und Staufen, Messina durch seine Lage an der Welthandelsstraße nach dem Morgenland: so hebt sich Catania durch die heutigen Verkehrsmittel. Das Eisenbahnnetz macht es zum Sammelplatz, der neue Hafen zum Ausfuhrort aller Erzeugnisse des Innern. Die Catanier haben die Zeichen der Zeit verstanden, überall erheben sich Werkstätten, Niederlagen, Faktoreien, Fabriken; die Straßen sind breit und nachts blendend hell erleuchtet; viele Häuser sind palastartig; inmitten herrlicher Gärten liegen fürstliche Landhäuser; freie Plätze mit Brunnen, Standbildern und Prachtgebäuden, das neue großartige Theater: alles deutet die emporstrebende Großstadt an. Und doch hat sich im geselligen Leben noch so mancher Zug besonders der sarazenischen Vorzeit erhalten: die Frau setzt nie ohne Begleitung ihres Mannes oder Verwandten den Fuß über die Schwelle; sie verschwindet, sobald Besuch bei ihrem Gatten erscheint; in Gesellschaft gibt es nie »bunte Reihe«, sondern eine Männer- und eine Frauenseite; bei Tanzgesellschaften wird das Abendessen erst von den Damen allein, dann von den Herren eingenommen; die nicht speisende Partei langweilt sich unterdes im Tanzsaale; es würde sehr unvorsichtig sein, wollte der Fremde wünschen, den Damen des Hauses vorgestellt zu werden. »Warum wünschen Sie den Damen vorgestellt zu werden? Wollen Sie etwa eine von meinen Töchtern heiraten?«, diese Abweisung müßte er sich gefallen lassen. Alle zarten Verhältnisse knüpfen sich unter diesem morgenländischen Zwange nicht im Hause oder in der Gesellschaft, sondern von der Straße zum Balkon hinauf an. Der junge Mann, dem ein Mädchen gefällt, geht dreimal unter dem Balkon der Angebeteten vorüber, jedesmal mit der Hand oder dem Taschentuch über die Lippen streichend; antwortet sie ihm durch dasselbe Zeichen, so ist die Verlobung erfolgt; doch ist's bis zum Altar noch ein weiter Weg, und die väterliche Einwilligung zum Bunde fürs Leben wird in sehr vielen Fällen durch die Entführung des Mädchens (im Einverständnis mit der Mutter) erzwungen.
Wenn nun auch Catania hinter den oben genannten Städten mit großer geschichtlicher Vergangenheit in einer Beziehung zurücksteht, so hat es doch auch seine Geschichte, eine Geschichte ganz besonderer Art, welche der Riese in seiner Nähe in das Buch der Stadt eingetragen. Lavagestein bildet den Grund der Häuser; verwitterte Lava den Mutterboden, auf welchem in üppigster Fülle vom Meeresufer an den Hängen des Ätna hinauf die Wein- und Agavengärten prangen; wie Brandmale ziehen sich die gehärteten Lavaströme durch das Weichbild der Stadt. Wie sanft die Seiten des Berges ansteigen bis zu der von blendendem Schnee eingehüllten Spitze3304 m, während die Schneegrenze in 3000 m Höhe liegt. des riesigen flachen Kegels! Wie Maulwurfshügel nehmen sich die Nebenkrater in diesem ruhigen Umriß aus. Um den Fuß des Feuerberges schmiegen sich die immergrünen Gärten mit Reben, Mandelbäumen, edlen Kastanien und dem schwarzbelaubten Johannisbrotbaum wie ein Saum von Sammet; an den Wegen, in den Gräben leuchtet eine Blumenpracht ohnegleichen: da roter Mohn, dort Malven in allen Farben, gelbe Wolfsmilchgewächse und violette Disteln zwischen den grauen duftenden Kräutern aus der Familie der Labiaten, die für das Mittelmeergebiet ebenso bezeichnend sind wie für unsere Heimat nördlich der Alpen die Kompositen. Weiter hinauf wird das Pflanzenkleid dünner und schlichter; doch lassen die Ginsterbäume, Pinien und Eichen den kahlen Fels in diesem Waldsaume nur hie und da durchschimmern; bloß das Haupt des Riesen ragt steil, von Wolken und Rauch eingehüllt, mit beschneitem Scheitel empor, und hier oben wechselt mit jedem Ausbruch die Form wie das Mienenspiel auf einem Antlitz.
Der Aufstieg ist am bequemsten von Süden und Südosten her zu unternehmen, von Aderno und Catania her; hier gibt es keine Zerklüftung, kein wildes Lavageröll wie im Nordwesten, wo in trauriger Einöde die Städtchen Bronte, Randuzzo und Linguaglossa liegen, sondern nur ein ruhiges, sanftes Anschwellen und lachende Gartenlandschaften, in deren Mitte die Dörfchen und Landhäuser sich erheben. Und doch entwickelt sich die neuere Tätigkeit des Vulkans gerade nach dieser Seite hin; dort oben, wo hinter der Casa del Bosco (Waldhaus) der Ätnakegel in etwas steilerer Kurve sich emporrichtet, da liegt die Feuerzone; hier entstehen neue Nebenkrater, die der Volksmund als »Kinder des Ätna« bezeichnet, von hier ergießen sich die Lavaströme in die blühenden Landschaften. Dieser Teil des Ätna – die Hochebene von Nicolosi – erscheint wie von Blasen übersät; diese bilden sich unter der leicht berstenden Rinde des Berges über Nacht, und die Namen Monte-Grosso, Monte-Nero, Monte-Serra-Pizzuta und andere bezeichnen solche blasenförmige Nebenkrater.
In lebhaftester Erinnerung steht in ganz Catania der Ausbruch des Vulkans vom Jahre 1669; in der Nähe des Städtchens Nicolosi öffnete sich der Berg, und der zähflüssige, glühende Lavastrom nahm seinen Weg auf Catania zu; in wenig Stunden waren jene Gottesgärten zwischen Nicolosi, Belpasso, Mascalucia, Misterbianco überflutet; die schweren Feuerwogen wälzten sich schon über die ersten Häuser, durch die Straßen Catanias bis vor das feste Benediktinerkloster. Nur ein Wunder konnte noch helfen, – und es geschah. Im Dome ruhte seit dem zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in silbernem Sarge die fromme Märtyrerin, die heilige Agatha; ihren Überresten, besonders ihrem Schleier, schrieb der Volksaberglaube eine besondere Wunderkraft zu; ihn holte die Volksmenge in frommem Vertrauen beim Herannahen des Lavastromes; am Benediktinerkloster entfaltete ihn der Erzbischof vor den feurigen Massen – und der Strom nahm einen seitlichen Weg. In den Hafen ergossen sich die glühenden Gesteinswogen; entsetzt, zischend, dampfend wich das Meer zurück, der Lavastrom aber hielt an tagelang, ja wochenlang. Die Stadt war gerettet, aber der Hafen für ewige Zeiten verloren, und mit ungeheuren Geldopfern hat man in unserem Jahrhundert die neue Hafenanlage geschaffen. Übrigens hat ein furchtbares Erdbeben 1693 die Arbeit getan, die der Schleier der heiligen Agatha damals von der Stadt abgewehrt; die ganze Stadt sank in Trümmer. Heute nun sind die Häuser besser, tiefer gegründet, und die Baumeister gewähren den Balken, welche die oberen Stockwerke tragen, einen gewissen Spielraum da, wo sie auf den Grundmauern aufliegen; »erzuckt die Erde, so brechen sich ihre Schwingungen in dem den Bewegungen des Bodens leicht folgenden elastischen Hin- und Hergleiten der Balken.« Ob diese Neuerung die Probe besteht, das muß die Zeit lehren.
In der Regel arbeitet der alte Gigant in Zwischenräumen von je 6-8 Jahren; ziemlich unerwartet trat daher der große Ausbruch vom Mai 1886 ein; war doch diejenige von 1883 noch keineswegs ausgelöscht im Gedächtnis. Als unser Gewährsmann am 18. Mai 1886 einen Ausflug in die Pelorischen Berge bei Messina machte und deutschen Marineoffizieren die köstliche Rundsicht erklärte, entstieg dem Ätna plötzlich dickqualmend eine Rauchsäule; kerzengerad in die Höhe nahm sie ihren Weg, um sich endlich wie eine gewaltige Pinie über der Landschaft zu lagern. »Das ist der Ausbruch!« rang es sich wie auf Befehl von allen Lippen. Gerade als die Bergsteiger das in der Ferne gewahrten, hatte sich der Hauptkrater mit Donnerkrachen gespalten, und Rauch, Asche und glühende Steine oder Lapilli flogen in die Luft; der ganze Berg schien innen zu zerreißen. Bald deckte der Pinienschirm der Ausbruchswolke auch Catania; doch ebenso plötzlich, wie er begonnen, stellte der alte Riese mit Einbruch der Nacht das Qualmen ein. Schwüle lagerte über der Landschaft wie auf allen Gemütern; die Kirchen füllten sich in der Nacht mit Betern; die Betten der Kranken schaffte man auf die Straße; die Hunde winselten, die Pferde und Maultiere blieben schnaubend auf dem Platze stehen, den ihnen der Führer angewiesen. Da, kurz vor 11 Uhr nachts – ein knatterndes Geräusch, und der Boden schien sich unter den Füßen wegzuziehen; fast anderthalb Minuten dauerte der Stoß. Gleichzeitig flammte auf der Hochebene von Nicolosi der blutrote Schein auf: das war die Lava! In ihrer Angst, die durch das nächtliche Dunkel eine furchtbare Steigerung erfuhr, stürzten die Bewohner von Nicolosi, Pedara und Belpasso weinend, schreiend, kopflos den Berg hinunter. Als sie beim Morgengrauen zurückzukehren wagten, hatten sich auf einer großen Spalte in der Flanke des Berges sieben Ausbruchsstellen, sieben Nebenkrater aufgetan; mit Lavahülle umgeben, flogen die zu großen Bomben zusammengeschmolzenen Brocken empor, indem sie wie Minen den aus alter Lava gebildeten Erdboden in Stücke zerrissen und in die Höhe schleuderten. Einige mutige Männer wagten sich zur Untersuchung der Sache bis auf den die Krater überragenden Monte Grosso und sahen, wie sich auf der ganzen Spalte durch alle sieben Krater unter dem schrecklichsten unterirdischen Geknatter Flammen, Asche, glühende Steine und flüssige Laven empordrängten; doch bald wurde anstatt der getrennt arbeitenden kleinen Schlünde eine einzige Feuerlinie bemerkbar. Um diesen Höllenschlund schütteten sich Laven und Steine zu einem neuen Berge auf, der in vier Tagen bereits 150 m Höhe erreichte mit einem Umfang von 1 km. Der Boden in der Nähe schaukelte ununterbrochen und bekam Risse, aus denen Flammen emporschlugen.
Am 5. Tage war Catania fingerdick mit Asche bedeckt, eine graue Wolke lagerte über der Stadt, die Sonne erschien wie ein rötlicher Ball. Wagen über Wagen rollten den Berg hinauf nach der Ausbruchsstelle; die Insassen wollten die Lavamasse in der Nähe sehen, die sich gegen Nicolosi und Belpasso wälzte. Immer noch grollt der unterirdische Donner. In allen Kirchen liegen Beter vor dem mit Kerzen umstellten Altar; es ist Abend; die Leute stehen in Festtagskleidern vor den Türen; denn sie erwarten den Erzbischof von Catania, der mit dem Schleier der heiligen Agatha der Lava Einhalt tun soll. Plötzlich hält unser Kutscher und entblößt sein Haupt; denn dort biegt mit Lichtern und Fackeln eine ungeheure Menge Volks in unseren Weg ein, singend, jammernd. »Es sind die Heiligen,« flüstert der Kutscher, und auch ein verhärtetes Gemüt würde mit Rührung erfüllt werden bei dem Anblick, der sich nun bietet. Von Priestern und Chorknaben eingeschlossen, tragen die Männer die Bilder ihrer Schutzheiligen um ihre Mark; mit entblößten Häuptern folgt ihnen die Menge, und während der rote Feuerschein sich auf den angsterfüllten Gesichtern malt, rufen sie: »Heiliger Antonio, dich rufen wir an, nur du kannst helfen! Du weißt ja, daß wir dich von jeher verehrten als den besonderen Schutzpatron unserer Stadt!« Dann eine andere Stimme: »Du guter heiliger Erzengel Michael, auch du wirst helfen, auch zu dir beten wir; denn du hast es von jeher gut gemeint mit deinen Kindern. Hilf, Erzengel Michael, daß wir nicht zugrunde gehen unter dem grausigen Feuer!«
Dann folgt der von zwei weißen Rossen gezogene Wagen des Erzbischofs, darinnen drei Priester mit dem heiligen Schleier; alles sinkt in die Knie, bis die heilige Reliquie vorbei ist. Wie mit einem Zauberschlage kehrt der Mut den Jammernden zurück. »Wir sind gerettet, wir sind erlöst!« jauchzen sie aufspringend.
Der Wagenzug, die Maultiertreiber und die Fußreisenden drängen nun wieder bergwärts, geführt von den Mitgliedern des italienischen Alpenklubs mit der Binde am Arm; es ist eine wahre Völkerwanderung, die hinauf- und hinabflutet in dieser Nacht über die rauhen Lavapfade; überall tauchen die Fackeln auf. Jetzt ein paar Schritte noch, und die Böschung ist erreicht, und vor unseren Augen liegt in seiner ganzen Ausdehnung, in seiner ganzen furchtbaren Pracht das Ausbruchsfeld. Wie aus flüssigem Golde gebaut ragt der neue Kegel in den schwarzen Nachthimmel hinauf, fast durchsichtig, möchte man glauben, mit roten Adern durchwebt. Aus dem Krater steigt eine Feuersäule auf, die ungeheuere Felsmassen emporschleudert, bald gerade in die Höhe, bald sie in Garben rings umherstreuend. Von Minute zu Minute hört man im Innern des Kegels ein ungeheures Getöse, ein Heulen, Dröhnen, Zischen, als sollte der ganze Berg auseinanderbersten, und aus dem Krater schießt es goldblitzend hervor von riesigen glühenden Felsblöcken; sie fahren hinauf, als wären sie vom Blitze geschleudert, höher, immer höher; dann scheint es, als blieben sie oben unbeweglich hängen, und langsam schweben sie wieder herunter. Zuweilen ist es, als platze der Berg von oben bis unten, und knatternde Raketen schießen rings in die Luft. Nun quillt es über den Rand des Kegels, die rote Lava überschäumt den Krater und schießt wie ein Strom von lauter Diamanten und Rubinen an den steilen Wänden herab. Der ganze Berg scheint lebendig zu werden; es rinnt und rieselt und strömt und prasselt und schimmert und leuchtet. Und dann – in weiter Ausdehnung das riesige, 2 km breite Lavafeld, schwarz, mit blutroten Feueradern durchstreift, schiebt es sich langsam und ruhig vorwärts, ein vor Augen liegendes Bild der unerbittlichen, stetig ihren vorgezeichneten Weg verfolgenden Urkraft der Natur. Nichts Unheimlicheres als diese Lavawand, die haushoch mit einem leisen Knistern oder Rieseln wie von übereinander sich schiebenden Schiefer- oder Kohlengeröll vorrückt und alles Lebende ruhig erstickt und erdrückt. Nach Berechnungen des Professors Silvestri, Direktors des Ätna-Observatoriums in Catania, beträgt das Vorrücken des unmittelbar aus dem Krater kommenden Lavastromes 40 bis 50 m in der Minute, vom zweiten Tage ab – da er rasch erkaltet, nach allen Seiten Schlacken ablagert und eine von roten Adern durchzogene Kruste bildet – nur noch 40-50 m in der Stunde.
Wohl wanderte ein Zug jammernder Weiber am Rande des vordringenden Lavafeldes hin, sie stellten die Heiligenbilder und mit Weihwasser besprengte Stäbe in der Nähe eines Baumes auf, damit sie dem Strome Halt geböten; doch immer näher rückte er Nicolosi; in der Nacht zum 31. Mai ertönten die Hornstöße der Karabinieri zum Zeichen, daß die Stadt geräumt werden müsse; den landesüblichen Reichtum, den Wein, hatte man bereits in den benachbarten Orten untergebracht, nun belud man sich jammernden Herzens mit Möbeln, Türen, Fenstern, Brettern, Ziegeln; ja einige gruben die Särge ihrer Toten aus, um ihnen eine freundlichere Grabstätte zu suchen; da erklangen – vielleicht zum letzten Male – die Glocken von Nicolosi; der Erzbischof mit seiner Umgebung erschien vor der Kirche und forderte, selbst betend, das Volk auf zum Niederknien; schluchzend werfen sie sich nieder, die Hände ringend über das unbarmherzige Schicksal, das sie ins Elend treibt. Priester nehmen Kruzifix, Leuchter, den Schrein mit dem Schleier der heiligen Agatha vom Altar, und in langem Zuge geht es betend nach Pedara zu. Doch Gott hatte Erbarmen. In derselben Nacht wurden die Erdstöße seltener, der Mund der Erde quoll langsamer über, schwer und zäher wurde der Lavastrom und stand endlich still. Nicolosi war gerettet. Am 2. Juni stieg nur noch weißer Dampf wie gewöhnlich aus dem Krater der Ätna.
c) Nach den Schwefelbergwerken nördlich von Girgenti.
Von Catania führt eine Eisenbahn ins Innere des Landes, die uns auch nach Grotte, dem Mittelpunkte der Schwefelbergwerke, bringt. Von unserem Wagenfenster aus machen wir anziehende Beobachtungen: Orangen und Zitronen verschwinden; weite, mit Hügeln besäte Flächen dehnen sich überall aus, auf denen in prächtigen Breiten der grüne Weizen wie Meereswogen sich bewegt. Hier begreift man, wie Sizilien als die Kornkammer Roms bezeichnet werden konnte. Mit dem Weizen wechseln Anpflanzungen von Mandel-, Johannisbrot- und Ölbäumen, die wie bei uns die Nadelbäume in strengen Reihen an unserem Blick vorüberziehen. Wir glauben es dem eingeborenen Mitreisenden gern, daß ein Boden mit größerer Zeugungskraft in der Welt nicht vorhanden ist, und doch hatte es einst die römische Aussaugerei unter den Prokonsuln so weit gebracht, daß dieses Paradies von den griechischen Kaisern als Verbannungsort benutzt wurde. Auch die Bewirtschaftung der Insel durch die Sklaven der Bischöfe von Rom, Mailand und Ravenna im frühen Mittelalter war mehr eine Art Ausbeutung. Erst den Sarazenen- und Normannenfürsten ist die Herbeiführung einer glücklicheren Zeit wieder gelungen: waren sie es doch, welche Zitronen, Orangen, Seide, Baumwolle, Zuckerrohr, Pistazien, Reis, Melonen nach der verödeten Insel verpflanzten und der Pflege des Ölbaums besondere Sorgfalt zuwendeten, so daß er noch heute in manchen Gegenden der Sarazenenbaum heißt. Zu ihrer Zeit zählte Palermo 300 000 Einwohner, die Insel außerdem 18 größere Städte, 320 Kastelle und 900 Dörfer, wovon heute noch 352 übrig sind. Doch sollte dieser Blüte ein neuer Rückgang folgen, der dadurch herbeigeführt wurde, daß Grund und Boden den französischen Eroberern zufiel, die ihn in Kron-, Kirchen- und Lehngut teilten und der gewissenlosesten Ausbeutung und Verwilderung überlieferten; die Wälder im Innern, welche den Humus an den Berghängen festhielten und die Feuchtigkeit für die Quellenbildung darboten, wurden niedergeschlagen, die Quellen versiegten, die Oliven- und Rebenpflanzen verschwanden inmitten der Insel und beschränkten sich auf die Küste; die Felder sahen zum Erbarmen aus trotz der metertiefen Humusschicht; aber die Wasserarmut seit dem Verwüsten der Wälder und die Unbrauchbarkeit des alten römischen Pflugs, der kaum 5-10 cm die Ackerkrume aufreißt, erklären das in ausreichender Weise. Erst seit 1838, seit Aufhebung des Lehnsverbandes, hebt sich Sizilien wieder; die Eisenbahn trägt das ihrige dazu bei, sofern sie den Erntereichtum für geringes Entgelt nach den Häfen führt, was früher nur durch Maultiere und Esel geschehen konnte. Doch müssen vor allem die Wälder wieder aufgeforstet werden, damit der Wassermangel aufhört; liegen doch an den Bahnhöfen die Frachtgüter oft nur deswegen so lange, weil für die Lokomotiven nicht ausreichend Wasser zu beschaffen ist. Zum Beispiel bemerkte unser Gewährsmann auf fast allen Haltestellen von Catania bis Girgenti die aufgeschichteten Würfel des Schwefels; er war längst verkauft nach der Küste, die Käufer warteten, schrieben Mahnbrief auf Mahnbrief, aber die Beförderung verzögerte sich, weil die Lokomotiven nicht genügend Wasser fassen konnten. Hinter Castrogiovanni mehrten sich die öden Flächen und kahlen Höhen in erschreckender Weise; hier liegen die Folgen der Großgüterwirtschaft und der Waldverwüstung offen zutage. Bald gewahrte der Reisende auf den Hügeln weiße große Blasen, von denen ein leichter Rauch aufstieg, und schwarze Öffnungen in den blasenförmigen Auftreibungen. »Jene Erhöhungen,« erklärte ein Landeseingeborener, »sind die Calcaroni, in welchen das Schwefelgestein gesammelt und gebrannt wird; die schwarzen Öffnungen sind die Eingänge zu den Schwefelminen.« In Grotte, dem Mittelpunkt des Schwefelgebietes, einem früher verrufenen Räubernest, befindet sich eine kleine deutsche Ansiedlung, deren Haupt im Jahre 1886 Bergdirektor Höfer war. Er ermöglichte unserm Gewährsmann den Besuch der Schwefelbergwerke.
Zu Pferde, mit Flinten und Pistolen bewaffnet, zogen sie aus Grotte hinauf nach den Minen; überall rauchten die Calcaroni; den Namen Grotte trug der Ort mit Recht; denn es gibt in der ganzen Umgebung keinen Felsen ohne Höhle. Der Boden ist eigentlich fetter Lehmboden, im Sommer aber zementartig ausgedörrt. Im Winter freilich ist hier an ein Fortkommen zu Fuß nicht zu denken; dem Pferde und Reiter wollen dann die in der Mitte des Weges liegenden Steine die Richtung andeuten, und zur Regenzeit brechen unter dieser tennenharten Decke Eidechsen und Schlangen hervor in einer Größe, wie sie sonst nur die Tropen besitzen. Plötzlich nehmen die vorderen Reiter ihr Gewehr vom Rücken und legen es quer über den Sattel. Ihr Blick richtet sich auf einen Felsblock vor einem Minenloch, in welchem zwei Gestalten verschwinden. Zwei Minenarbeiter in der Nähe geben den beruhigenden Aufschluß, daß es nicht Briganten, sondern »Latitanten« von Racolmuto seien, die neulich bei einer Unruhe in der Stadt auf die Karabinieri geschossen und nun hier sich der Obrigkeit zu entziehen suchten; sie können sicher sein, daß kein Mensch der Polizei ihren Versteck meldet; denn alles hält hier zusammen gegen die Vertreter des Gesetzes, und den Verräter würde man bald mit zerschlagenem Schädel hinter einer Mauer finden.
Die Reiter waren bei den Minen angelangt; leichter Schwefelgeruch machte sich bemerkbar; halbnackte Männer und Knaben bewegten sich um die weißen blasenförmigen Hügel; triefend von Schweiß und keuchend warfen sie die Schwefelsteine vom Rücken nieder zur Erde. Andere reihten die Stücke in große Haufen und bereiteten die Calcaroni. Nachdem die Kleider gewechselt und alle Goldsachen abgelegt worden waren – da sie von Schwefeldunst geschwärzt werden –, traten die Reisenden in eine der schwarzen Minenöffnungen ein. Der Schacht ging fast senkrecht in die Tiefe; für die Erwachsenen gab es hohe Doppelstufen, für die Knaben zur Linken einen kleineren, bequemeren Ansatz. Bald schwand das Tageslicht; die rotflackernden Grubenlichter beschienen die Felsgewölbe; die Bergarbeiter mußten in der Dunkelheit den Ortsunkundigen zuweilen den absteigenden Fuß auf die rechte Stelle setzen. Da bewegen sich plötzlich von unten herauf Lichter, sie kommen näher; sie gehören Knaben, die die schwere Steinlast auf dem Rücken tragen und ihre braunen Arme unter der Last gekreuzt halten; wir hören, wie schwer die Brust atmet, wir sehen, wie jeder Muskel angespannt ist und der Schweiß aus allen Poren dringt. So ziehen sie vorbei in taktmäßigem Schritt, schweigend, die Bedauernswerten. Warum man nicht der Maschine diese Arbeiten überträgt? Diese Frage richtete man an den Minendirektor. »Weil die Eltern dieser Kinder die ersten sein würden, die mit Messern und Steinwürfen den wohlmeinenden Neuerer anfallen würden. Das Elend dieser Kinder ist das Brot der Eltern!«
Immer tiefer ging es hinab, bis sich nach links und rechts die Stollen abzweigten; eine Röhre an der Seite förderte das Wasser hinauf; die Stollen wurden weiter, dorther schallten die Schläge, wo die Bergleute das Gestein von den Wänden losarbeiteten. Der Bergwerksdirektor fuhr mit seinem Licht an der Wand hinauf und zeigte die Schichten von glänzendem Gips, schwarzem Tuffstein und vulkanischem Schwefel in ihrer Lagerung. Die Schwefelkristalle an der Decke glitzerten, während die nicht zu Kristall gewordenen Wände aus Schwefelgestein matt und tot erschienen. Stundenlang könnte man in diesen unterirdischen Gängen wandern, und immer werden neue mit Pulver und Dynamit geöffnet. Wer diese Irrgänge gesehen, der glaubt gern, daß die Karabinieri einen durch Briganten hierher Geschleppten nicht befreien können; aber er ist ebenso überzeugt von der Unermeßlichkeit der Schwefelvorräte. Wurden im Jahre 1853 aus dem südlichen Sizilien 102 093 400 kg ausgeführt, so 1880 bereits 285 103 490 kg, ja die Ausfuhr würde das Doppelte betragen, wenn nicht durch das unvorteilhafte Schmelzverfahren in den Calcaroni 50% des Rohschwefels zum Schmelzen der anderen Hälfte Verwendung fänden und somit für die Ausfuhr verloren wären. Die meilerartig aufgeschichteten Schwefelsteine werden in einem trichterförmigen Loche von unten abgebrannt, der Schwefel entzündet sich, der flüssig gewordene Teil sinkt zu Boden und wird durch eine eiserne Röhre in hölzerne, viereckige Gefäße geleitet; hier erstarrt er und bildet nun die Würfel, die jedem Reisenden an den Stationen der Bahn von Catania ins Innere auffallen.
Nach A. Winterberg, Malta. Wien 1879, A. Hartleben. Auf der Grenze des östlichen und westlichen Beckens des Mittelmeers liegt die Doppelinsel Malta, und dieser Lage in der Mitte des Seeverkehrsweges verdankt sie seit dem Altertum ihre Bedeutung. Die Phönizier kannten sie unter dem Namen Ogygia, und Hannibal, der vielgehaßte Punier, fand hier Wiege und Grab. Die Malteserritter besetzten die Inseln im Mittelalter, nachdem sie 1530 Rhodos dem Sultan Soliman II. hatten überlassen müssen. Erst 1798 erlagen sie Napoleon, der die Inseln für seine Weltreichpläne brauchte, als er Englands Macht im Mittelmeere brechen wollte und gegen Ägypten zog. 20 Monate lang blockierte Nelson das meerbeherrschende Bollwerk. Seit 1800 ist England im Besitze dieses wichtigen Stützpunktes auf dem Wege Gibraltar-Suezkanal-Aden-Bombay.
Seiner natürlichen Lage nach, nur 100 km von der Südspitze Siziliens entfernt, müßte es ebenso wie Pantellaria, Linosa, Lampedusa zum Königreiche Italien gehören, wie Gibraltar eigentlich zu Spanien. Malta und Gozzo, dazwischen das Inselchen Comino, haben wie alle kleineren Inseln ein durchaus mildes Seeklima. Doch sind die Stürme der Syrten, die den Brigantinen der Korsaren wie den Galeeren der Malteser oft gefährlich wurden, auch auf Malta im Winter gefürchtet. Der Gregale, ein Nordost, staut in den Hafenbecken von La Valetta die Flutwasser hoch auf und richtet an der Küste allerhand Schaden an. Und der Schirokko, der heiß von Süden weht, trocknet den Kalkboden der Inseln aus und verbreitet eine drückende Schwüle (32-35°C). Sie erscheint den Insulanern noch höher als sie ist, ebenso wie die Hygrometer (Feuchtigkeitsmesser) aller menschlichen Empfindung zum Trotz eine Steigerung des Dampfgehaltes der Luft anzeigen. Drei Tage hält dieser Glutwind gewöhnlich an. Während dieser Zeit kann kein Wein geklärt, kein Fleisch eingesalzen werden, Kleider und Papier werden fleckig und stockig, Bretter bersten. Kein Mensch ist imstande, den Geist in irgendwelcher Weise anzustrengen.
Für die Gesundung haben die Malteser durch Austrocknung der Sümpfe viel getan: die Malaria ist dadurch fast verschwunden. Nur die blendende Weiße des Kalkbodens erzeugt Augenkrankheiten. Schnee kennt die Insel nicht, nur tropische Regengüsse sind vom Dezember bis März häufig. Sie lassen nach während des April und Mai, von Juni bis September ist wolkenloser blauer Himmel, und Oktober und November gehören wegen der angenehmen Kühle zu den angenehmsten Monaten. Der Winter ist durchschnittlich 2,5° wärmer als der Algeriens.
Der Boden ist sehr unfruchtbar, am günstigsten ist Gozzo gestellt im Verhältnis von Kulturboden und Ödland. Da die Feldbeete zum Schutze gegen Tiere und Stoßwinde mit Steinkränzen umhegt sind, da nirgends fast ein Baum oder eine Baumgruppe das ermüdende Weiß des Kalksteins unterbricht, hat der flüchtige Betrachter den Eindruck, als habe eine mißmutige Gottheit Gerölle und Felsblöcke ins Meer geschleudert.
Die Felskruste ist nur unter großen Mühen in Ackerkrume zu verwandeln. Man säubert das Gelände von Gräsern und Büschen, scharrt den vorhandenen Humus zusammen auf Haufen und bearbeitet dann den Felsboden, indem man mit Hacken 8-10 cm breite und tiefe Längs- und Querfurchen zieht, bis das »Feld« ein schachbrettartiges Aussehen hat. Die Vierecke werden dann ausgebrochen und entweder als Baumaterial zu der Umfassungsmauer verwendet oder zertrümmert und zerstäubt und sodann zur Aufbereitung des Bodens verwendet. Auf den nackten Felsen streut man nämlich zuerst ein wenig gute Erde, dann folgt eine Schicht Steinpulver, das mit Erdreich versetzt ist, hierauf wieder eine Lage guten Erdreichs und so weiter, bis man eine Decke von ½ m Höhe hergestellt hat. Das so aufbereitete künstliche Feld wird mit ungeheueren Wassermassen überschwemmt, und nun überläßt man es auf die Dauer eines Jahres den zersetzenden Wirkungen der Sonne, des Sauerstoffs und Regens. Dann erst erfolgt die Düngung und Bestellung.
Das wichtigste Erzeugnis des maltesischen Landbaues ist Baumwolle, während Korn und Gerste erst in zweiter Linie kommen; mit höchst einfachen, seichtgehenden Pflügen, von einem Esel gezogen, wird der Boden zubereitet, und auf einem besonders zurecht gemachten Stück Erdbodens wird die Ernte von Pferden, Maultieren, Ochsen und Kühen ausgetreten. Auch erbaut man viel Gemüse: Kopfsalat, Endivien, Radieschen in vielen Arten, ebenso verschiedene Sorten Kohl, Gurken, Kürbisse, Sellerie, Blumenkohl, Artischocken, Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, Spinat, grüne Erbsen, Bohnen, gelbe, rote und weiße Rüben, von Gewürzen Kümmel, spanischen Pfeffer usw. Der Obstbau liefert verschiedene Arten von Feigen, ferner Pfirsiche, Pflaumen, Aprikosen, Mandeln, Melonen, Wein, Zitronen und Orangen.
Was die Tierwelt der Insel anlangt, so sind giftige Schlangen und Insekten auf Malta unbekannt; nur die Stechmücken bilden im Sommer geradezu eine Geißel, nicht sowohl durch giftigen, schmerzhaften Stich, als vielmehr durch das den Schlaf störende Gesumme. Doch hat gegenwärtig ein Venetianer in den »fidibus insectifughi« eine Art Räucherkerzchen hergestellt, welche jene Menschenquäler trunken und unschädlich machen. Von Haustieren züchtet man auf der Insel Pferde, Maultiere, Esel, Rinder, verschiedene Ziegenarten, Schweine, Schafe und viele Arten von Federvieh. Hochwild gibt es auf der nackten Insel nicht; der Nimrod kann sein Glück nur an Hasen, Kaninchen, wilden Tauben und verschiedenen Arten von Hühnern erproben. Nicht unbedeutend ist dagegen die Seidenraupen- und Bienenzucht.
Das Gewerbe verarbeitet auch die erbaute Baumwolle; die Frau spinnt, der Mann webt, und zwar Segeltuche, Leinwand (à Damiers) zu Matratzen, Nanking, Decken und Kleiderstoffe; mit Ausnahme der Mütze bedient sich der Malteser nur inländischer Bekleidungsstoffe. Auch die Spitzen-, Pomeranzenwasser- und Zigarrenerzeugung liefern ganz Vorzügliches. Schiffszwieback, vorzüglicher Schaf- und Ziegenkäse, Schmucksachen aus Korallen und weißem, alabasterartigem Kalkstein gesellen sich jenen Gütern zu. Die Industrie arbeitet meist noch ohne die mächtigen neuzeitlichen Hilfsmittel. Was Maltas Bedeutung auf dem Weltmarkte anlangt, so ist es ein großes englisches Lagerhaus, von wo aus die Erzeugnisse Englands und seiner Kolonien nach allen Märkten der Mittelmeerländer sich verbreiten.
An der Spitze der Inselregierung stehen ein Militär- und Zivilgouverneur: dem ersten untersteht die Besatzung; der Zivilgouverneur hat in Gemeinschaft mit einem Staatsrate, der auch einige Malteser zu seinen Mitgliedern zählt, die gesetzgebende und – unter Voraussetzung der königlichen Bestätigung – die ausübende Gewalt. Eigentümlich berührt der Umstand, daß von Preßfreiheit auf der Insel selbst nichts zu finden ist, während man allen ausländischen Preßerzeugnissen ohne Einschränkung Eingang gestattet; erstaunt ist man aber, daß dieses Eiländchen eine Universität besitzt mit vier Fakultäten, einigen achtzehn Lehrstühlen und einem Lyzeum, und daß jedes Dorf und jede Stadt eine von der Regierung eingerichtete Normalschule hat. Daß die Insel, welche 300 Jahre einem Orden gehörte, der sein gesamtes Wirken in den Dienst christlicher Wohltätigkeit stellte, reich ist an Wohltätigkeitsanstalten, nimmt uns weniger wunder, wohl aber, daß diese Spitäler, das Leihhaus, das Industriegebäude, wo Arbeitsuchenden Arbeitsgelegenheit geboten wird, und die Sparkasse in solch prächtigen öffentlichen Gebäuden untergebracht sind.
Der eingeborene Malteser entstammt einer Mischbevölkerung, in welcher nordafrikanisches Berbernblut vorwiegt. Er ist klein, aber muskulös, hat schwarzes Kraushaar, platte Nase, aufgeworfene Lippen, entwickelt viel Mut, Tätigkeit und Gewandtheit. Mäßigkeit, Liebe zum heimatlichen Boden – sie nennen ihr Ländchen »die Blume des Weltalls« –, ernste Frömmigkeit, unbedingte Unterwürfigkeit unter die Regierung – schon die Ankunft eines einfachen, nicht einmal uniformierten Schutzmannes genügt, zwei Streitende augenblicklich zu besänftigen –, aber auch glühende, blinde und taube Leidenschaftlichkeit sind die Licht- und Schattenseiten seines Wesens. Die Sprache der Malteser ist eine verunstaltete, arabische Mundart, die an phönizischen Worten, wie aus der Geschichte der Insel erklärlich, nicht arm ist. Übrigens ist sie nur bei der Landbevölkerung in beständigem Gebrauch, während sich die städtische, außer in vertraulichem Kreise, der italienischen Sprache bedient.
Den deutschen Ordensmeistern ist die großartige Befestigung aller drei Inseln, besonders Maltas, zu danken. Die Hauptstadt, zugleich das Hauptbollwerk, La Valetta, ist auf einer Halbinsel der Nordostküste erbaut, welche die beiden Hafeneingänge trennt. Von hohem Berge aus beherrscht es beide Hafeneinfahrten. Auf drei Seiten ist es von Wasser umgeben, auf der vierten, der Landseite im Südwesten, ist es durch doppelte Fronten, Doppelgräben und Außenwerke geschützt, von denen ein unterirdischer Gang nach Fort Florian führt, das ebenfalls die Deckung der Landseite bezweckt. Die Spitze der ins Meer vorragenden Halbinsel, auf welcher die Hauptstadt liegt, bildet das mächtige Kastell St. Elmo, einst von den Türken erobert und zerstört, dann erneuert und mit mächtigen Basteien umgeben, auf denen gewaltige Reihen schwerster Geschütze ihre Schlünde ins Meer hinausrichten. Diesen Befestigungen laufen zwei Reihen anderer Forts jenseit der beiden Hafeneinfahrten parallel, so daß man sich stets der Wichtigkeit der Lage Maltas bewußt wird und daraus die Riesenarbeit dieser Befestigungen begreift. Denn Malta ist für England nicht bloß ein Schlüssel zum Ostbecken des Mittelmeeres, sondern auch zum Indischen Ozean.
Viktor Hehn, dem wir das klassische Werk Italien verdanken, rühmt am Mittelmeer vor allem die Farbenpracht, wenn er schreibt: »Mit reinerem Glanze als die Ost- oder Nordsee leuchtet das Meer, nach Farbe und Ansehen unendlich mannigfaltig, bald rötlich angehaucht, mit silbernen Rändern, bald wie ein starrer glühender Metallspiegel, bald wallend wie schwerer Seidenstoff; in Höhlen oder im Schatten der Uferfelsen wie flüssiger Ultramarin oder Smaragd und unter den Ruderschlägen in funkelnden Tropfen blitzend. Bekannt sind die Grotten von Capri, die blaue, weiße, grüne usw., aber die ganze Gebirgsküste von Italien und Hellas ist reich an ähnlichen, oft schwer zugänglichen Höhlungen voll Lichtzauber, wie zum Beispiel die wenig besuchte Grotte von Polignano in Apulien, deren Grund das Meer bildet, oder die Tropfsteinhöhle am Kap Caccia bei Alghero auf der Insel Sardinien.«
Ein ReisenderAlfred Meißner, Durch Sardinien. S. 210. schildert uns einen Besuch dieser Grotte etwa folgendermaßen: »Am Nachmittag ging ich an der sardischen Küste eine weite Strecke entlang. Die Wogen brachen sich mit regelrechtem Donnerfall, sonst war nah und fern in der Düneneinsamkeit kein Ton zu vernehmen. Endlich kam ich an das alte Gemäuer eines Wachturms, der von einer Klippe ins weite Meer schaut. Wilde Feigenbäume umklammerten ihn mit ihrem Geäst, Felsentauben nisteten in seinen Löchern. Solcher Türme gibt es viele rings um die Insel; sie wurden von spanischen Vizekönigen errichtet, um die Küste gegen die Korsaren aus der Berberei zu schirmen. Die Wächter erstiegen die runden dicken Türme auf einer Leiter; denn das Erdgeschoß hatte keine Tür, die Leiter wurde danach aufgezogen. Feuerzeichen verständigten die Bewohner von drohender Gefahr, und die Botschaft lief so als Lauffeuer von Turm zu Turm um die Insel.
Auf dem ultramarinblauen Meere an der Klippe unter mir kam eine kleine Feluke, eins jener Küstenfahrzeuge des Mittelmeers mit ihren zwei etwas nach vorn geneigten Pfahlmasten mit dreieckigen lateinischen Segeln, und warf ihre Netze nach Korallen aus. Alghero hatte in alter Zeit den Ruf, die besten Korallen des Mittelmeers zu liefern. Ein Lattenkreuz, das in der Mitte mit einem Kieselstein beschwert und seiner Länge und Breite nach lose mit Hanf umwunden ist, trägt vier beutelartige Netze und hängt an zwei Seilen, die am Schnabel und Heck festgeknüpft sind. Diese Vorrichtung wird ins Meer versenkt und an den Felsvorsprüngen, wo die Korallentiere bauen, vorbeigeführt, die spröden Ästchen brechen ab, wenn sie sich im Hanf fangen und fallen zum Teil in die Netzbeutel. Diese Fischerei kann von Ende April bis Ende September betrieben werden.
Bei ruhiger See mietete ich ein Schiff; denn nur dann war in die Höhle hinein zu gelangen möglich. Mitternacht war eben vorüber, als wir, eine kleine Reisegesellschaft, in das Segelboot stiegen, das uns an das Kap Caccia bringen sollte. Mit silberner Klarheit blickten die Sterne herab, und einer der Gefährten sang zur Gitarre spanische Lieder von sterngleichen Augen und kalten tyrannischen Herzen. Ich schlief ein und erwachte erst, als der Tag sich durch die bleigraue Dämmerung schlug und bald darauf die Sonne wie mit einem Sprunge aus dem Wasser tauchte, die Wogen wie von purem Golde heranrollten, das Meer sein großes Morgenlied sang.
Unser alter Schiffer lenkte nun gegen die Kluft in den Felsen des Vorgebirges. Sie war etwa 30 m hoch und 40 m breit. Eine Vorhalle von wunderbarer Pracht: weiße TropfsteinzapfenStalaktiten. hingen von der Decke herab und erglänzten im Dämmerlichte mit einem wundervoll grünlich-azurnen Scheine. Viele freilich lagen schon zerstückelt da, die Unverstand und Barbarei zerstört hatten. Vom Boden erhebt sich ein TropfsteinhügelStalagmit. mit einer großen alabasterhellen Schale, in der sich das klare Wasser, das von einem riesigen Stalaktiten abträuft, sammelt. Seevögel, die ringsum in den Nischen nisten, kommen und nehmen darin ein Bad. Das Wasser ist eiskalt; der Tau, der von der Säule niedertröpfelt, füllt in der Stunde ein kleines Trinkglas.
Indes wir in der Vorhalle warteten, waren die Schiffsleute in die Höhle vorgedrungen, um sie mit Talgkerzen zu beleuchten. Das erforderte halsbrecherische Felsenkletterei. Aber welch ein Schauspiel beleuchtet dann dies bißchen Talg! Unser Kahn wurde über Sand und Kies des Vorsaals emporgezogen und jenseits in einen kleinen Salzwassersee von geringer Tiefe gebracht. Die dunklen Gänge, die Stille, die Kühle, der Takt der Ruderschläge im nachtdunklen Wasser versetzen das Gemüt in einen fremdartigen Traum, es wird einem so ernst und feierlich zumute, als führe man mit Dante in die Unterwelt ein. Eine hohe Halle öffnet sich. Das Auge haftet an diesen Säulengängen, an den scheinbar leichten, durchscheinenden Behängen aus Stein, an den tausendgestaltigen Bildwerken der Natur. Eine Riesensäule fast in der Mitte beherrscht die Halle. Wie alt mag sie sein? Langsam wächst solch ein Gebilde aus Wassertropfen herab! Allmählich gleitet der Kahn in eine große Halle, la Rotonda genannt. Wände und Decke blitzen hier wie von Milliarden von Diamanten. Aber die Kerzen schmolzen nieder, und bei Fackelschein traten wir die Rückfahrt an. Wie weit die Höhle von Alghero geht, weiß niemand, sie hat nach allen Seiten hin auslaufende Gänge, dunkel wie die Schlünde des Erebus.«
Berühmter, bekannter und vielbesucht ist dagegen die blaue Grotte von Capri.Wissenschaftl. Beilage der Leipziger Zeitung 1888, Nr. 32. Auch hier folgen wir einer Reisegesellschaft, die soeben durch Weingärten, Agaven- und Opuntiendickichte zur Küste niedersteigt, von wo sie der Nachen zur Grotta Azzurra an die Nordseite des Eilands bringen soll: »Dem Kahne zieht ein buntes Heer von Quallen nach, die mit den Sonnenflecken auf dem Wasser zu spielen scheinen. Kahle hohe Kalkfelsen lassen wir hinter uns zurück. Wir kommen an der Hundsgrotte vorüber, einer niedrigen Felsenhöhle, aus der es hervorheulte, kläffte, gurgelte, knurrte, als läge der dreiköpfige Höllenhund da drinnen an der Kette. Wenn der Wogenschwall in das Loch hineinstürzte, war der Lärm am tollsten, wenn er zurückkehrte mäßiger, als habe sich das unterirdische Ungeheuer müde gebrüllt. Diese Grotta del cane ist zu unterscheiden von jener zwischen Neapel und Pozzuoli, die Plinius schon wegen ihrer Kohlensäurequellen beschrieb.
Die See ging an den steilen Felswänden, unter denen die blaue Grotte sich barg, so hoch, daß wir den Eingang nicht sahen. Der Bootsmann hieß uns auf den Rücken legen, er wollte den Augenblick erhaschen, wo eine heranrollende Woge das Fahrzeug in die Grotte schleudern würde und hatte sich mit aller Kraft wider das Felsentor zu stemmen, damit unsere Nußschale nicht am Gesteine zerschelle. Ein Wagnis, das nur der Kühnheit und Gewandtheit der seetüchtigen Eingeborenen gelingen kann.
So schnellten wir denn nach einigem Hin- und Herschaukeln vor der Hadesöffnung plötzlich in Plutos Wundergemach hinein. Anfangs erschien alles ringsum finster, bis sich allmählich das Auge an das Wunder des lasurblauen Dämmerlichts angepaßt hatte. Ringsum blau angehauchte Tropfsteingebilde, die von der Höhlendecke und den Wänden herabhingen, stellenweise fast so blau wie die Flut selbst, in der die bunten Quallen auf- und abhuschten. Die weißlichen Kalkformen erschienen wie von einem blauen Florgewebe überspannt, auf welchem mattgoldene Lichter gleich riesigen Maschen hin- und herzuckten, um weiter im Hintergrunde der Höhle zu verschwinden. Dort wurde es ganz dunkelblau, aber ich vermochte nicht, die Fahrt in die Labyrinthgänge der Grotte mitzumachen. Das wilde Tanzen der eingefangenen Wogen im Felsenraume, das Heulen und Klatschen, wenn sie sich an den Wänden brachen, dazu das Hüpfen des niedlichen Nachens, der von manchem Wellenstoß in allen Fugen krachte, erzeugte mir Schwindel. Ich ließ mich auf einem kleinen Felsenvorsprunge, welcher bühnengleich aus dem Hintergrunde hervortrat, absetzen und verzichtete auf die weitere Wasserfahrt durch die Grottengänge. Diese wurde mit Fackeln vollendet, und es bot einen geisterhaften Anblick, als das Fahrzeug mit den zwei roten Glutaugen aus der bläulichen Nacht wie ein schwimmendes Fabeltier hervorschimmerte und endlich hinter einem säulenartigen Pfeiler mit vielen Tropfsteinzieraten verschwand. Matter tönten Ruderschläge und Stimmen, die des Echos schallende Antwort im Höhlenraume weckten aus der Ferne des Hintergrundes hervor – endlich war alles verklungen, was an Menschennähe erinnerte, und ich allein mit den gurgelnden, tanzenden Wogen, die zu meiner Bühne blauweißen Schaum emporspritzten, als wollten sie mich am Gewand erhaschen und in den Abgrund hinabziehen.
Wenn einmal recht übermütige Wellen durch die schmale Türöffnung in den Höhlenpalast hereinstürzten, schütteten sie ganze Füllhörner Schaumperlen aus und brachten vorübergehend einen Tagesstrahl, ein flüchtiges Leuchten in die geisterhafte Bläue. Dann kehrte schnell die farbige Nacht zurück und die eintönige Musik der gemäßigter tanzenden Wogen, die nur von Zeit zu Zeit, wenn sie mit den Schaumhäuptern recht hart an die Felsenbrüstung stießen, einen heulenden Laut des Unwillens vernehmen ließen. Aber je länger ich mich so grabeseinsam und todverlassen sah, je öfter die wallenden blauen Gewande Undinens den unerforschten Abgrund zu meinen Füßen öffneten, desto unheimlichere Empfindungen kehrten zurück. Das Herz sehnte sich aus dem unheimlichen Nachtblau hinaus in das Reich des Helios, hinaus aus dem Vorort der Unterwelt in die sonnige Lebensluft der Oberwelt!
Da plätscherte Ruderschlag hinter den blauen Schleiern, hinter den Tempelsäulen aus Tropfstein und ausgewaschenem Urkalk; es blitzte rot durch die blaue Nacht, und unter den tiefen Wölbungen des Grottenhintergrundes tauchte unser Schifflein wieder auf. Der Bootführer hatte versprochen, die durchsichtige Klarheit des Höhlenwassers an seinem eigenen Körper zu zeigen. Eins, zwei, drei, seine Kleider waren abgeworfen, und er bewegte sich schwung- und mutvoll in der silberklaren Flüssigkeit, die, wo der rudernde Menschenkörper sie teilte, kaum noch die Hälfte ihres blauen Schimmers besaß und prächtig silbern leuchtete.
Der Austritt aus der Grotte ist leichter als der Eintritt, so versicherte der Marinar, den ich mir, als er das Hinausschnellen des Nachens glücklich vollbracht hatte, etwas näher ansah. Ein hochgewachsener, schöner Bursche, der das Marinarihütchen mit flatternden Bändern keck auf dem rabenschwarzen Haar trug. Dies Haar war um den sehnigen bronzebraunen Nacken kurz abgeschnitten, der Kopf sehr schmal, griechische Bildung, die Nase fein gebogen, die schwarzen Augen stechend, aber nicht freundlich blickend, eher finster. Auf der Oberlippe trug er ein kleines schwarzes Bärtchen, das ihm sehr wohl stand. Im Sprechen zeigte der Mund schöne kleine Zähne, er wurde beim Sprechen etwas hochmütig aufgeworfen. Das Gesicht erinnerte an maurische, an Beduinengesichter, andere Züge deuteten auf griechische Abstammung hin.
Die Grotta Azzurra von Capri stand wahrscheinlich mit der Prunkvilla Damecuta des Kaisers Tiberius in Verbindung; denn es finden sich noch Reste einer alten Treppe. Auch die Insel Busi in der Adria, die zu den dalmatinischen Inseln gehört und bei der größeren Insel Lissa liegt, hat eine blaue Grotte.
Diese Wundergrotten sind einerseits begründet in der Karstnatur der Mittelmeergestade. Binnenwasser und Seewasser greifen die löslichen Kalke an und schaffen Höhlen, Klüfte, Gänge. Auf der ionischen Insel Kephalonia vor dem Golfe von Patras strömt jährlich an 200 Millionen cbm Meerwasser in Küstenhöhlungen ein, so stark, daß ein Engländer Stevens, als jene Insel noch britisch war, in einen solchen Meereinfluß eine Mühle baute, die in 9-10 Sekunden eine Umdrehung machte. Diese »Meermühlen« auf der Halbinsel Argostoli sind lange Zeit ein Rätsel gewesen. Wo fließen die Unmengen Meerwasser hin, ohne daß der Meeresspiegel auch nur im geringsten sinkt? Man dachte daran, daß es nach unterirdischen Vulkanherden abfließe, dort dampfförmig werde und jene gewaltigen Wasserdampfentladungen im Mittelmeergebiete verursache – oder man suchte den Grund darin, daß die sehr starke Verdunstung den Grundwasserspiegel der Insel stets tiefer erhalte, als der Meeresspiegel liegt, so daß ein immerwährender Zufluß stattfinden könne. Erst den Gebrüdern Wiebel gelang 1873 eine glaubhafte Lösung der Frage. Sie fanden, daß die Insel reich ist an Brackwasserquellen, kein Brunnen hat dort ungesalzenes Wasser. Das eindringende Meerwasser wird auf den unzähligen Spalten des Karstkalkes wieder emporgesaugt, mischt sich mit dem Süßwasser der vom Regen gespeisten Quellen und fließt mit ihnen dem Meere wieder zu.
Die Ursache der FarbenwirkungVgl. hierzu Strasburger, Streifzüge in der Riviera, 2. Aufl., S. 309 ff. Jena 1904, G. Fischer. der Grotten liegt aber in der wunderbaren Blaufarbe des Mittelmeers, die es auch unter trübem Himmel bewahrt, die also Eigenfarbe und nicht Himmelsspiegelung ist. Denn chemisch-reines Wasser ist in durchfallendem Lichte in genügender Menge an sich blau; das Mittelmeerwasser ist sehr klar; denn im warmen, salzreichen Wasser sinken die trübenden Stoffe rasch zu Boden. Aber wir sehen das Mittelmeer ja in zurückprallendem Lichte blau; es müssen deshalb trotz der Klarheit trübende Stoffe darin enthalten sein, die das Licht nicht ganz durchlassen, sondern nachdem die langwelligen roten und gelben Strahlen des weißen Sonnen- oder Tageslichtes verschluckt sind, die kurzwelligen blauen durchfallenden aufhalten und unserem Auge zuwerfen. Die Erscheinung der Grotta Azzurra kann ein Versuch wiederholen. Wird ein hinreichend langes, innen geschwärztes Rohr, dessen untere Öffnung ein Spiegel ziemlich deckt, senkrecht ins Mittelmeer getaucht, so leuchtet das Wasser im Rohre wie der edelste Saphir. Durch das Grottentor dringt ins Innere der blauen Grotte und ihr kristallklares Wasser genügend Licht, wird darin in der beschriebenen Weise verändert und von dem 15 m tief gelegenen weißen Kalkboden (als Spiegel) zurückgeworfen und auf die grauweißen Tropfsteine der Grottenwände übergestrahlt. Größere Trübung des Wassers bedingt teilweise Rückprall gelber Strahlen, so daß sich grüne Töne dort einstellen. Das geschieht besonders in der Nähe der Küsten, wahrscheinlich erklärt es auch die Farbenwirkung der Grotta verde an der Südküste von Capri.