August Wilhelm Grube
Geographische Charakterbilder. Erster Teil. Arktis – Europa
August Wilhelm Grube

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V. Bilder aus Westeuropa.

A. Frankreich.

1. Frankreich und die Franzosen. – 2. Paris. – 3. Aus der Vendée. – 4. In den Landes. – 5. Durch die Provence nach Marseille.

 

1. Frankreich und die Franzosen.

Frankreich bildet durch seine eigentümliche geographische Lage zwar keine so vollkommene Halbinsel wie Spanien, aber doch eine Art Halbinsel, indem seine gute Hälfte vom Meere umspült ist. Ratzel nennt seine Lage »isthmisch« – nennt es ein atlantisches, ein Mittelmeer-, ein Nordseeland, zugleich aber auch ein kontinentales. Seine Landgrenzen sind durch Hochgebirge gesichert gegen die Mittelmeermächte. Und gegen Deutschland hat Frankreich nach dem Weltkriege die alte Sperrgrenze im Wasgau vom Belchen bis zum Donon, wie die flachen Ardennen breit überflutet und seine Herrschaft an einigen Brückenköpfen bis über den Rhein ausgedehnt. Der Schweizer Jura ist eine gute Gebirgsgrenze.

Von Süden her empfängt Frankreich die mittelmeerische Wärme, vom Westen her den ausgleichenden Einfluß des Atlantischen Ozeans, im Westen gleicht sein Klima dem südwestdeutsch-festländischen; zum Beispiel in der Franche Comté. Südenglische Landschaften zeigt die Bretagne, italienische die Riviera. Der Gebirgsstock der Auvergne ähnelt der Eifel, ist viel höher, daher trotz seiner südlichen Lage fast so rauh.

Der Franzose ißt Weißbrot – sein Land ist Weizenland, doch erzeugt es nicht genug davon und ist auf die Einfuhr angewiesen. Nur der Südwesten ist Maisland. Der Franzose ist Weintrinker – sein Land bietet ihm trotz der Reblausverheerungen genug davon, und wo die Traube nicht mehr gedeihen will, kommt das Obst fort, aus dem er seinen Cidre bereitet.

Die feinere Lebenshaltung übt auf den Charakter des Volkes ihren Einfluß: Der Franzose ist im ganzen liebenswürdiger, verbindlicher, höflicher als der Deutsche. Und mag auch dabei viel Phrase mit einfließen, er hat doch den Vorzug glücklicher Leichtlebigkeit, gewandter Lebensführung, anmutiger Menschlichkeit und Geselligkeit – ja er geht so weit darin, daß er oft trotz seines Dranges nach Freiheit zum Sklaven der gesellschaftlichen Form wird. Es begreift sich daraus, daß früher die vornehmen Stände sich in Paris den Firnis feiner Sitte holten, es begreift sich daraus die Luxusindustrie und Modeherrschaft, die Frankreich noch immer ausübt – es liegt zum Teil darin das Übergewicht der französischen Sprache im staatsmännischen Verkehre begründet.

»Was dem ruhigen Beobachter französischer Zustände mehr als alles andere auffällt, ist die Fülle der Widersprüche, denen er darin begegnet. Wie die Stimmung der Nation bald ›himmelhoch jauchzend‹, bald ›zum Tode betrübt‹, so ihre Schicksale bald glanzvoll blendend, bald elend bemitleidenswert. Leidenschaftliche Teilnahme am Staatswesen und trostlose Gleichgültigkeit, Begeisterung und Verzweiflung, Nachtreterei und Neuerungssucht, schwungvolle Aufopferung und selbstsüchtige Beschränktheit, Drängen nach Freiheit und Sichbegnügen in der Gewaltherrschaft, folgen sich im öffentlichen Leben rasch und beinahe unvermittelt.

»Aberglaube und Unglaube, Unsittlichkeit und Familiensinn, Wortschwall und nüchternster Geschmack grenzen hart aneinander, begegnen sich, vertragen sich im religiösen, im sittlichen und geistigen Leben. Und noch verblüffender ist der Gegensatz zwischen dem Privatcharakter und dem öffentlichen Charakter des Franzosen. Leichtsinnig, verschwenderisch, nur seinen Trieben gehorchend; wenn sich's um den Staat handelt, ist er vorsichtig, sparsam, stets besonnen in seinen persönlichen Lebensverhältnissen. Trotzdem leistet der Franzose als geselliges Wesen das Höchste und ist sittlich, geistig und künstlerisch den anderen europäischen Kulturvölkern mindestens ebenbürtig.

»Die Lösung des Widerspruchs liegt, irren wir nicht, im unvermittelten Gegensatze der Charakteranlage und der Geistesrichtung.

»Die Verständigkeit, der Rationalismus, ist der Grundzug des französischen Geistes. Er ist im 18. Jahrhundert zu seiner vollsten Entwicklung und zu seinem bestimmtesten Ausdrucke gelangt, hat in der Revolution und dem Kaiserreich die Alleinherrschaft erlangt – und offenbart sich noch heute deutlich in seinem bald heilsamen, bald tödlichen Einfluß auf das öffentliche und das Privatleben. Und diese Geistesrichtung verbindet sich mit dem leidenschaftlich erregbaren Geblüt und der maßlos vordrängenden Eigenliebe des Kelten, dem die vermittelnden Gaben sowohl des germanischen Gemüts als auch des sinnlichen Idealismus des Romanen abgehen.«Nach Hillebrand, Frankreich und die Franzosen. Berlin, R. Oppenheim.

Denn während das Keltentum in den Ostvölkern fast restlos aufgelöst wurde, ist es in Frankreich besonders dadurch, daß seine Hauptstadt im gallischen Kerne emporblühte, zur Herrschaft gelangt. Die Eitelkeit, das Schielen nach dem Beifall der Mitwelt benimmt den Franzosen oft den klaren Verstand und umnebelt die scharf erkannten Ziele.

Das französische Volk hat den Menschenverlust von 1870/71 nicht so rasch verschmerzt und wert gemacht als das deutsche. Es ist eine stehende Klage der französischen Rechner, daß die Bevölkerungsziffer Frankreichs nicht durch den Geburtenüberschuß steigt, sondern fällt – und sich nur durch Zuwanderung auf der Höhe von 38½ Millionen zu erhalten vermag seit Jahrzehnten, trotz schwacher Auswanderung. Der Männermord des Weltkriegs hat Frankreich wiederum am härtesten getroffen; denn während in Deutschland auf 35 Einwohner ein Mann fiel, in Frankreich war es einer schon auf 28 Einwohner. Einen gewissen Ausgleich findet Frankreich darin, daß es große Gebiete Westdeutschlands sich angeeignet hat und dadurch seine Bevölkerungsziffer, nicht aber die Zahl der Franzosen erhöht hat. Auch in Frankreich verschob sich die Bevölkerung zugunsten der Städte; besonders die Industriestädte Lille, Paris, St. Etienne und Marseille übten große Anziehungskraft aus. Solche Städte sind aber nicht Jungbrunnen der Bevölkerung, und so fehlt Frankreich trotz seiner zahlreichen großen Kolonien der Menschenüberfluß, der sie besiedeln und an das Mutterland ketten könnte.

 

2. Paris.

Durch flach ausgegossene Ebene und leichtwelliges Gehügel rollt hinter dem Grenzorte Jeumont der Schnellzug, von Aachen-Köln kommend, nach Frankreich hinein. Überall braune Weizenfelder, auch Weiden mit Knicks wie in Holstein: darauf Rinder, auch Pferde. Gerade Wege, gerade Wassergräben und Kanäle, kerzengerade Pappeln. Die Häuser ärmlich, Rohziegelbau, die Esse am Giebel – Schacht- und Fabrikessen, Plakattafeln längs der Bahngeleise. Endlich Paris! Gare du Nord! Nordbahnhof!

Paris sieht auf dem Plane aus wie ein Schnitt durch einen Baum: Jahresringe und Markstrahlen. Es ist auch ein lebendiges Eigenwesen, das die verschiedensten Aufgaben erfüllen muß. Da draußen sind wir durch die dicke Rinde der Festungsmauern gefahren. Die Stadt ist die größte Festung der Erde. Lange Avenüen, Eisenbahnlinien durchbrechen den festen Gürtel und bringen den Menschen- und Warenstrom herzu – und hinaus. Ebenso die Wasseradern, vor allem die bräunliche Seine, die den Kern der Stadt umfließt, die Isle de Cité. Rings um ihn die Wachstumsringe der Stadt, alte Festungsgürtel, die in Promenaden verwandelt sind, deren Name Boulevards (= Bollwerk) noch ihre alte Bestimmung verrät.

Von dem schlanken, stolzen, eisengenieteten Eiffelturm übersieht man das ungeheuere Stadtbild, aus dessen Häuservierecken hier grüne »Jardins« und »Bois« mit Blumenbeeten und Bildsäulen lebendig hervortreten, dort Fabrikessen, hier Kuppeln, wie die des Invalidendoms mit dem Kaisergrabe, oder gotische Spitzentürme mit Krabbenleitern und durchbrochenen Spitzbögen, wie Notre dame, emporsteigen. Und weiterhin gleitet das Auge an dem Bogen der Seine hinaus auf die von Forts besetzten, mit Villen und Schlössern, mit Dörfern und Vororten übersäten Randhöhen des Pariser Beckens: es ist, als wäre das Menschenleben zu unseren Füßen von diesen Höhen hierher zusammengeflossen – von dem ringförmigen Uferkranze des alten tertiären Seebeckens.

Es ist sehr schwer, das geographische Charakterbild einer modernen Großstadt zu zeichnen; zu vielseitig hat der Mensch das Stück Erde, darauf sie steht, bearbeitet, verwandelt nach seinem Willen; durch Überbauten, durch Hochbauten die Fläche verdoppelt, vervierfacht usw., durch Tiefbauten sie unterwühlt, kanalisiert, dem Verkehr dienstbar gemacht – und die Grundfläche selbst, der alte Erdboden, der doch auch einst Naturboden war, ist längst mit einer dicken Kulturschicht vergangenen Lebens bedeckt, er ist nicht mehr zu sehen; er wird beständig neu verteilt, neu eingerichtet und dienstbar gemacht, hier als Gartenanlage einen Schein von Naturwüchsigkeit wahrend, dort gepflastert, beschient als Verkehrsbahn dienend, hier – und das zumeist – hoch bebaut. Aber wie verschieden wieder die Baufläche belebt ist: hier hat sie religiöse Macht des Mittelalters mit einem Kunstwerk aus Sandsteinen belebt: jeder spiegelt in seiner Form ein Stück Arbeit längst untergegangenen frommen Menschenwillens; hier wieder zeugen die Bauten von reiner, künstlerischer oder nationaler Begeisterung, von stolzer politisch-sozialer Gemeinarbeit, von der kraftvollen Herrennatur prachtliebender Fürsten, von der naturknechtenden Kraft der Technik, von der nüchternen Geldgier reicher Unternehmer – kurz, alle Seiten menschlicher Betätigung kommen hier auf engem Felde räumlich zum Ausdruck – wer wollte sie fassen?

Paris ist für die Ausbildung des modernen europäischen Großstadtbildes mit seiner Erscheinung tonangebend gewesen nach vielen Seiten hin, nicht zum wenigsten für die deutschen Großstädte. Schon die technischen Ausdrücke für unsere breiten Baumstraßen = Alleen, für unsere Hochbauten mit ihren souterrains, parterres, étages, mansardes bezeugen diese Herkunft. Paris vereinigt alles in sich, was eine Stadt groß macht, es ist Festung, es ist Markt, es ist Industrie-, es ist Kunst-, es ist Universitätsstadt, es ist Vergnügungsort und Prunkstadt, es ist ein alter Königssitz, es ist Verwaltungsmittelpunkt – nach all diesen Seiten ist diese Großstadt entwickelt seit alters; denn sie war stets das Haupt und Herz eines großen Landes.

Das geographische Charakterbild muß vor solcher Mannigfaltigkeit zur Skizze werden, und wir greifen aus der Fülle der Erscheinungen das heraus, was für diese Großstadt am fesselndsten und bezeichnendsten ist: den Menschen. Denn Paris ist mit seiner milden Luft schon eine halbsüdliche Stadt, in der das Menschenleben im Freien pulst – die liebenswürdige Rücksicht allem menschlichen Tun gegenüber, sei es gut oder böse, nützlich oder schädlich, die man hier übt, gibt überdies dem Pariser Leben eine reizvolle Vielgestaltigkeit, die es vom Leben in anderen Großstädten Europas durchaus unterscheidet. »Das ist gerade das Einzigartige an Paris, daß es nordisches und südliches Leben in sich vereint; diese Großartigkeit des Geschäftsverkehrs, die mit London wetteifert, und diese Buntheit und Fröhlichkeit des Straßenlebens, die an Italien gemahnen; eine Vielgeschäftigkeit, die den Kopf verwirrt, und ein süßes Bummelleben, das verführerisch lockt.«Von hier ab nach Walther Gensel, Paris. Leipzig 1900, Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung.

Der Mensch tritt in jeder Großstadt zunächst als Massenerscheinung im Landschaftsbilde auf – in bestimmten Bahnen, nach bestimmten Gesetzen flutet der Menschenstrom hier vorwärts, schwillt und ebbt, staut sich, bildet Wirbel, versiegt. Bald rauschend wie eine Brandung, bald summend wie ein Bienenschwarm klingt es aus der Rue Royale herüber, als käme es von dem prächtigen Säulenportikus der Madeleine her, die an der Mündung der volkbelebten Boulevards steht. Nur in den letzten Stunden vor dem Morgengrauen sind sie leer, oft aber faßt das von hohen Häusern eingeschlossene, von breiten, baumbepflanzten Fußsteigen und asphaltierten Fahrdämmen gebildete Verkehrsbette kaum den Strom von Menschen aller Art, von Equipagen, Geschäftswagen, Automobilen, Radfahrern – von Droschken und hochbordigen Omnibussen, von Mailcoachs und Kremsern, die zu den Rennen nach Auteuil fahren oder nach Versailles – von sonderbar und auffällig ausstaffierten Reklamewagen. Auf den Fußsteigen zwischen den Plakatsäulen, Polizeiposten, Zeitungskiosken, Bäumen, Laternen einerseits und den planenbedachten Stuhl- und Tischreihen der Kaffeehäuser, den Zeitungs- und Büchertischen der Buchhandlungen, den zahlreichen bunten Auslagen der Toilettegeschäfte und anderem windet sich der bunte Strom der Fußgänger hindurch: Modedamen in blendenden, rauschenden Seidenkleidern, Lumpensammler in armseligen Fetzen; Müßiggänger in tadellosem Gehrocke und glänzendem Zylinder, Arbeiter in Bluse und Sammethosen; »dort kreuzt ein amerikanischer Dandy mit bunter Leibwäsche und aufgekrempelten Beinkleidern einen deutschen Professor in Brille und Schlapphut; hier trifft eine baedekerbewaffnete Miß mit einer schmucküberladenen Spanierin zusammen. Neugierige Schwarze aus Tunis, Senegambien und Madagaskar betrachten mit blödem Lächeln die Wunder der Stadt, die ja auch ihre Hauptstadt ist. Das altmodische Kleid und das selbst zurechtgestutzte Hütchen der deutschen Lehrerin erregt das Mitleid des kleinen, einen mächtigen Karton tragenden Ladenmädchens, das in ihrem eiligen Vorübertrippeln sonst nur noch Blicke für die Schätze der zahlreichen Juwelierläden hat. Hier begegnen uns Maler vom Montmartre mit wallenden Haaren und merkwürdigen Sammetjoppen, da kommt ein Pärchen aus dem lateinischen Viertel auf uns zu . .  Ein Geistlicher mit seinen Zöglingen, ein greiser Kapuzinerpater, Diener der großen Bankhäuser in Dreimastern und blauen Schoßröcken, Austräger der großen Modehäuser, Briefträger, Telegraphenboten, barmherzige Schwestern, Kommissionäre, Polizisten – Offiziere sind selten, die gehen meist in Zivil aus, doch zeigen Kavallerieoffiziere und afrikanische Offiziere gern ihre hübsche Uniform; auch Turkos und vor allem die Spahis ihre Turbane und weiten Mäntel . .  Sinnverwirrend ist der Lärm: das Knallen der Peitschen, das Fluchen der Kutscher, das Tuten der Omnibusse, das Klingeln der Radfahrer, das Rasseln der Räder, das Schnaufen der Autos und über dem allen schwebend das Schreien der Camelots, der Gelegenheitshändler mit allerlei scherz- und zweifelhaften Kleinigkeiten und das Brüllen der Zeitungsjungen.« Dazu kommt das Fischweib, das mit schrillem Gesang seine blinkende Ware anpreist, der Ziegenhirt und der Eselmilchverkäufer, die Käsefrau, der Glaser, der Kleidertrödler, der Lumpensammler, der Rohrstuhlflicker, der Scherenschleifer, der Käufer alter Zylinderhüte, das Blumenmädchen – bald heisere Männer-, bald schrille Frauenstimmen. Auch der Straßensänger mit der Fiedel und der Leierkastenmann sind hier tätig und haben ihre Zuhörer, selbst der Possenreißer, der Taschenspieler kommt gelegentlich aus den Vorstädten ins Innere und führt sich auf offener Straße vor. – Solche und ähnliche Bilder kann man mit Muße an einem milden Abende vom Marmortische eines Boulevardcafés aus kennen lernen. »Der Menschenstrom ist am stärksten kurz nach dem Diner, das heißt abends zwischen 8 und 10 Uhr. Dann wird es stiller bis kurz vor Mitternacht. Da mit einem Schlage regt sich das Leben von neuem, die Wagen drängen sich wie in den Stunden des regsten Tagesverkehrs, die Trottoirs sind überfüllt. Die Theater sind nämlich zu Ende, und Tausende suchen die Cafés auf, um zu »soupieren« oder wenigstens ein Glas Bier zu trinken. Die meisten Leute, die jetzt noch vorübergehen, haben kein zu Hause; am Tage findet man sie an den Umwallungsmauern oder auf den Bänken in den Anlagen schlafend. Etwa halb zwei Uhr werden die meisten Laternen ausgedreht, die Tische und Stühle hereingenommen, die Kellner erscheinen mit Besen, hier und da rasseln die schweren Rolläden nieder. Die Straße ist einsam geworden, die verdächtigen Gestalten, denen man Müßiggang, Trunksucht und Ausschweifung ansieht, mehren sich. Wir winken einer Droschke.

Außer den Droschken gibt es zahlreiche Omnibuslinien, die langsam, aber sicher durch das Straßengewühl befördern. An den Kreuzungspunkten sind Wartestuben, die das Einsteigen durch Nummerausgabe regeln. In den äußeren Stadtteilen sind die gemütlichen Omnibusse durch Pferdebahnen ersetzt worden; für den Vorortsverkehr gibt es Dampfstraßenbahnen und elektrische Bahnen. Seit der letzten Weltausstellung hat auch Paris eine Untergrundbahn, die Metropolitain, die ein gut Teil des Verkehrs im Stadtinnern unter den Straßentrakt verlegt. Selbstverständlich wird auch die lange, vielfach gewundene Wasserstraße der Seine ausgenutzt. Fliegen (mouches) und Schwalben (hirondelles) nennt der Pariser die kleinen Dampfer, die ihn rasch durch die Mitte der Stadt oder auch hinaus nach Meudon oder Saint-Cloud tragen.

Die beliebtesten Erholungs- und Raststätten der Pariser liegen innerhalb der Stadt. Der Tuileriengarten am rechten Seineufer ist der große Kinderspiel- und -tummelplatz, und um den Springbrunnen sammelt sich Jungparis, um Schiffchen schwimmen zu lassen. Trotz der Lage mitten in der Stadt scheint er entfernt vom Staub und Lärm, ein ruhiges Eiland im Strudel des Verkehrs. Lustige Kinder trifft man auch auf den Champs-Elysées, wo sie dem Kasperle, er heißt hier Guignol, zuschauen und zuhören. Selbst im Winter sind die Bänkchen vor seinem Zelt dicht besetzt. Am liebsten aber suchen Mutter und Ammen den Luxemburggarten auf, dort vergnügen sich auch die Pensionäre und Rentner, dort erholt sich der Student im Tennisspiel usw. Des Sonntags tummelt sich das Volk draußen auf den Rasenplätzen und unter den efeuumrankten Bäumen des Boulogner Wäldchens; man hält ein »déjeuner sur l'herbe« in Hemdsärmeln, schläft, spielt und schaut dem Korsofahren der vornehmen Welt und Halbwelt zu, den Reitern und Radlern, den Automobilisten.

Das ist das skizzenhafte Bild des Pariser Lebens in dem Herzen der Dreimillionenstadt. Von allen Seiten müssen die Eisenbahnen Nahrungsmittel für diese Menschenmenge herantragen: die »Hallen«, der »ventre de Paris«, wie sie Zola nennt, zeigen, wie Tag und Nacht die Zufuhr und die Abnahme anhält: Riesenmengen von Fleisch, Wildbret und Geflügel, Fische aus der Seine und vom Meere, dazu Hummern, Austern, Südfrüchte aus der Provence, aus Spanien, Gemüse, besonders Brunnenkresse und Artischocken aus den Vororten, im Winter aus den Gärten des algerischen Tellatlas usw. Weithin zieht also Paris als Abnehmer seine Kreise – weiter reichte einst sein Einfluß als Stadt der feinen Sitte, des Luxus und des Geschmacks, der Kunst und des Kunstgewerbes: er besteht noch, aber der Bannkreis ist immer enger geworden. Wir Deutsche stehen seit 1870 nicht mehr darin – und doch besuchte der reiselustigere Deutsche Paris viel mehr als der Franzose unsere deutschen Großstädte.

 

3. Aus der Vendée.

Quelle: F. v. Hellwald. Frankreich in Wort und Bild. Bd. II. Leipzig 1886, Schmidt & Günther. Wer ein Stück eigentümlichen, unverdorbenen französischen Landlebens kennen lernen will, der folge uns nach der Vendée, jener Landschaft an der französischen Westküste, die im Norden fast bis zur Loiremündung, im Osten fast bis zu den Hauteurs de la Gatine reicht, während sie im Süden durch das Küstenflüßchen Sèvre begrenzt wird. Man unterscheidet von der Küste aus drei, ihrem Gepräge nach verschiedene Gebiete, das Sumpfland (Marais), die Ebene (Plaine) und das Busch- und Heckenland (Bocage).

Im Küstensaume, dem Sumpflande, hat man deutliche Zeugnisse dafür, daß im Schutze der steinernen Brustwehr der Bretagne das Land auf Kosten des Meeres wächst. Einige zwanzig Hügel sind ehemals Inseln gewesen. An der Südgrenze, im Gebiete der Sèvre sind gegen 200 qkm vom Meere frei geworden, sie bilden heute sehr fruchtbare Äcker. Im allgemeinen ist das Marais teils sandig, teils mit großen Sümpfen bedeckt, welche Dünste entsenden, die die Luft verpesten. Mit dem Bienenfleiße des Holländers hat der Vendéer die Moräste mit Kanälen durchzogen und die entwässerten urbar gemacht. Der so gewonnene Kulturboden liefert vortrefflichen Hanf, Getreide, Gemüse, während auf den Weiden ein kräftiger Schlag von Pferden, Rindern und Hammeln gezüchtet wird. Mit besonderem Erfolg werden Maultiere gezogen, die wegen ihrer Güte erstaunliche Preise selbst auf spanischen Märkten erzielen, während die Stiere, unter dem Namen »Chollet« bekannt, auf den Schlachthöfen von Paris Staat machen. Hohe Bäume nur an den Rändern des Sumpflandes, sonst nur Wassergräben, Weiden, Viehherden und Meierhöfe, die von Eichen, Nuß- und Kastanienbäumen umschattet sind. Es ist lustig anzusehen, wenn am Sonntagmorgen eine Unmenge kleiner Kähne daraus hervorsticht, um den Weg zur Kirche zu nehmen. Freilich sitzen nur weibliche Personen in den Fahrzeugen; die jungen Burschen eilen quer durch die Sümpfe dem Kirchturme zu, in der Hand den 3 m langen Springstock, mit dessen Hilfe sie sich über die oft 7 m breiten Gräben hinwegschwingen.

Schön ist der Menschenschlag, der dies Sumpfland bewohnt. Hoch ist sein Wuchs, frisch die Gesichtsfarbe, natürlich sein ganzes Gebaren; wohl stehen dem jungen Mann der an der einen Seite aufgeschlagene, mit hellfarbigen Schnuren umwundene Hut, die Weste von weißem Flanell, die weiten Beinkleider und der grellbunte baumwollene Gürtel. Eigentümlich ist den blondhaarigen Sumpfbewohnern auch ein entschiedener Haß gegen die Nachbarn aus dem Buschland, obwohl man sonst Übereinstimmung findet in den religiösen und politischen Meinungen, und obwohl man 1793-1796 zur Zeit des »großen Krieges« tapfer und erfolgreich zusammenhielt gegen die Heere der städtischen Empörer.

Die Bewohner des Marais pflegen die Nachbarn aus dem Bocage mit dem Schimpfnamen Dannions zu belegen, das soviel als »verdammte Menschen« bezeichnen soll. Und ein Buschbewohner, der sich ins Innere des Sumpflandes wagt, ist bald von einer Kinderschar umringt, die ihm höhnend zuruft: »Ah Dannion, Dannion saraillon!« Das letzte Wort bedeutet soviel als eingeschnürt, da er engere Hosen trägt als sein Nachbar. Unser Maraichin ist lebhaften Geblütes, zum Zorn geneigt, schwer lenkbar, gegen Fremde zurückhaltend, während er gegen erprobte Freunde die größte Zutraulichkeit und Gastfreundlichkeit beweist. Seine Wohnung, freilich oft nur aus Lehmmauern und Rohrdach bestehend, zeigt im Innern peinliche Sauberkeit. Nur der reichere Maraichin ist imstande, dem einkehrenden Besucher ein Glas Wein vorzusetzen; aber dankbar wird auch der ärmste sein, wenn du dich mit ihm niedersetzest auf eine der Lehmbänke, die den Herd umgeben, worauf ein Feuer von Ochsenmist lodert, und wenn du dann den Tabaksbeutel öffnest und ihm eine Handvoll des Inhalts anbietest. Dann geht ihm das Herz auf. Das Rauchen ist eine so eingefleischte Sitte, daß ihr sogar der Knabe huldigt, und daß man sofort, wenn man den heiligen Raum des Gotteshauses hinter sich hat, aus dem Gürtel das rote Tonpfeifchen zieht, in Gruppen zusammentritt und sich gleich dem Volke Israel im Lande Sinai durch eine Wolke einhüllt.

Die Frauen des Sumpflandes zeigen in Haltung und Bewegung Ungezwungenheit, rasch und keck ist ihr Gang. Am Sonntagabend versammeln sich beide Geschlechter vor einem der zahlreichen Wirtshäuser. Die jungen Mädchen sind leidenschaftliche Tänzerinnen, und ihr Anzug zeugt von großer Sorgfalt. Um die Reinheit und Weiße der Haut zu wahren, bringen sie vorn an der Haube ein Stück Papier als Schirm an, das Gesicht vor den bräunenden Sonnenstrahlen zu sichern. Das ungemein üppige Haar dreht man zu einem Knoten zusammen, den die Bewohnerin des Sumpflandes auf dem Hinterkopf befestigt und im Sommer mit einer Haube, im Winter mit einer Kapuze bedeckt.

Zwischen Marais und Bocage breitet sich die Plaine, die Ebene der Vendée, aus, die zwar an der Südgrenze dürres Land mit Kalkboden, sonst aber fruchtbare Flächen mit Getreide und Weingärten besitzt. Sie bildet den Übergang zum Bocage, dem eigentlichen Herzen der Vendée. Hier finden wir auch die Hauptstadt der ganzen Landschaft, die 1804 in Form des Schachbretts angelegt und dem Kaiser zuliebe Napoléon-Vendée genannt wurde; bei der Rückkehr der Bourbonen 1814 wurde daraus ein Bourbon-Vendée, während sie gegenwärtig unter dem Namen Roche-sur-Yon auf den Karten selten zu finden ist; sie ist ein unbedeutendes Landstädtchen.

Das Bocage, das Buschland ist gekennzeichnet durch den Holzreichtum, der der rodenden Tätigkeit immer mehr weicht; neben diesen reich bewässerten Gebieten liegen sonnige, sandige Heiden, Weingelände, sattgrüne Wiesen und auf dem gewellten Gelände wohlangebaute Felder, welche durch die geschichtlich berühmten hohen Hecken voneinander getrennt werden. Tiefe Hohlwege, beschattet von den Alleebäumen zu beiden Seiten, führen nach den Dörfern, deren stattliche Höfe von Wohlhabenheit zeugen. Auffällig sind die zahlreichen Kreuze, die uns an jedem Kreuzweg aufstoßen, und die von den Verwandten eines Verstorbenen dort aufgepflanzt wurden, als man seine sterbliche Hülle vorüberführte. In ihrem abergläubischen Sinn meinten sie auf diese Weise der Seele des Verstorbenen die Ruhe zu sichern, die sonst durch die besonders an Kreuzwegen sich umhertreibenden Hexen, Kobolde und andere Unholde leicht gestört werden könnte.

Die Vendée ist ein Sitz fröhlichen Landlebens, das sich sowohl in den Liedern wie in den volkstümlichen Tänzen kundgibt.

Die Volksdichtung schuf und schafft hier Lieder für den täglichen Gebrauch in allen Lebenslagen, Rund- und Tischgesänge, Weg- oder Wanderlieder, ja sie verstieg sich sogar zu einem Ochsentreibergesang, welcher in einer Reihenfolge von außerordentlich lange ausgehaltenen Tönen besteht und den trägen Schritt des Ochsengespanns die Taktteile bezeichnen läßt. Diese Gedichte, zum Teil Augenblickserzeugnisse, sind weniger fesselnd durch die sehr selten poetische Sprache, als vielmehr durch die wehmütig klagenden, ergreifenden Melodien, welche mit dem Anblick der düsteren Wälder zusammenzustimmen scheinen. Ein solches Augenblickserzeugnis ist der »Kuchentanz«. Vor den Neuvermählten steht ein mit Dornenzweigen ringsum besteckter Kuchen, kleinere vor den übrigen Hochzeitsgästen. Auf ein gegebenes Zeichen erhebt sich einer der jungen Burschen, ergreift den zunächst stehenden Kuchen, hält ihn hoch über den Kopf und tanzt damit nach der Mitte des Speisesaals. Drei oder vier andere Burschen folgen ihm, mit Tellern und Gabeln bewaffnet, die sie taktmäßig aneinanderschlagen; singend umkreisen sie den ersten und suchen mit den Gabeln ein Stück seines Kuchens zu erhaschen. Der Kampf endet mit einem tapferen Zechen, wobei der Kuchen verteilt wird. Was aber dem Fest der Vendéer seine eigentliche Würze verleiht, das ist das Knallen und der Pulverdampf. Der Besitzer einer alten Pistole ist der Held des Festes. Man schmeichelt und liebkost ihn, nur um die Gnade zu erlangen, etwas Pulver verpuffen zu dürfen. Und wenn die Tänzer erlahmen und die Geiger ermüden, dann werft einen Sprengschuß unter die Menge, und springend und jauchzend wirft sie sich der Freude wild in die Arme. Bei ernsteren Festen, wie am Johannistage und bei Rundreisen des Bischofs im Sprengel, müssen Freudenfeuer das Schießen ersetzen, und lange streiten sich dann die Hofbesitzer des Kirchspiels, wer dem Hochwürdigen – wenn die Wege für Pferdegeschirre »glücklicherweise« zu schlecht sind – die nötigen Stiere zum Vorspann liefere. In ihrer Fröhlichkeit, in ihrer Frömmigkeit, in ihrer gesunden Kraft des Leibes und der Seele, in ihrer zähen, am Alten hängenden, treuen Art gleichen die Vendéer unsern Tiroler Bauern.

 

4. In den Landes.

Quelle: F. v. Hellwald, Frankreich in Wort und Bild. Bd. II. Leipzig 1886, Schmidt & Günther. Die Küste Frankreichs zwischen der Gironde und dem Adour ist durch eine ziemlich hohe Dünenkette vor der zerstörenden Tätigkeit des Ozeans geschützt; nur ein einziges Mal zeigt sie einen bedeutenden Einbruch an der Stelle, wo sich die Bucht von Arcachon gebildet hat. Nicht mit heftiger Brandung schlägt die Welle an diesen Uferrand; denn schon lange, ehe sie ihn erreicht, ist ihre Kraft gebrochen durch die Sandbänke, vor welchen zahlreiche Leuchttürme den Schiffer warnen wollen, und doch ragen gleich den Gerippen gefallener und vom Sande halbverwehter Kamele die Wracks gestrandeter Schiffe zahlreich aus dem Wasser zur Zeit der Ebbe hervor. Hinter diesen Dünen liegt die öde Heidelandschaft der Landes, in früherer Zeit Vasconien, jetzt Gascogne genannt. Auf einer undurchlässigen Ortsteinschicht (»Alios« genannt) ruht eine Sandlage, die – durchglüht im Sommer und durchfroren im Winter – nur dürftige Heideflora zeitigt: Farne, Binsen, Ginster usw., und die früher nur wenigen dürren Schafen dürftige Weide bot. Dazu kam, daß durch unverantwortlichen Leichtsinn in der Forstverwaltung zur Zeit Ludwigs XIV. die Dünen entwaldet wurden, so daß der Sand durch den Westwind ins Innere getrieben wurde und alles unter seinem feinen Staube begrub. Endlich kam man auf den rettenden Gedanken, die Dünen zu bepflanzen mit Sandgras, Rohrbinsen, Ginster, Waldrebe, Meerstrandskiefer usw., deren Wurzelgeflecht die Sandkörner festbannte. An einigen Stellen wandte man auch ein ganz besonderes Verfahren an, um die Dünen festzulegen, »Clayonnage« genannt; man errichtete nämlich auf dem Scheitel der Dünen kleine Beete, die man mit 30-45 cm hohen Lehmwänden umgab, und in diese Beete säte man den Grassamen, der nun vom Winde nicht weitergeführt werden konnte.

Sobald die Festlegung der Dünen geglückt war, waren die Versuche, die Landes ertragsfähig zu machen, nicht umsonst; man legte Gebüsche an, forstete mit Fichten und Strandkiefern auf und entwässerte versumpfte Stellen, indem man crastes, Gräben, durch die Aliosschichten schlug. Man braucht nicht gar weit südwärts von Bordeaux zu wandern, und schon sieht man sich in der trostlosen Einöde, welche nur hie und da durch eine Hütte, die inmitten einiger Mais- und Hirsefelder steht, oder durch einen Ochsenkarren unterbrochen wird. Die zahlreichen Moose und Flechten geben dem Sandboden doch wenigstens ein buntes Aussehen, wenn sie auch seine Unfruchtbarkeit nicht ändern, und übrigens steht neben der üppig wuchernden Besenheide, neben Binsen, Ginster, Farn, auch so manche Heideblume mit lieblicher Blüte, so die Erica ciliaris, die Meerzwiebel, das Veilchen, wilder Flachs und anderes. Die Bewohner der Landes nähren sich da am besten, wo die Fichtenbestände ausreichend sind, um eine lohnende Ernte aus dem Terpentin zu erzielen, das man durch Anzapfen der Bäume ungefähr 3½ m über dem Boden gewinnt. Einen schönen Gewinn werfen auch jene freilich dünn gesäten Strecken ab, wo man die Korkeiche anbaut; vom 50. Jahre kann man diesen nützlichen Baum alle 7-8 Jahre abschälen, und erst im Alter von 200 Jahren ist er abgenutzt. Der Kork dieser Landstriche genießt einen ausgezeichneten Ruf im Weinlande Frankreichs, weil er sehr biegsam und ohne große Blasenräume ist. Außerdem bilden auch die Eicheln ein vortreffliches Mastfutter für Schweine und Schafe.

Die Einwohner der Landes sind gascognischen Geblütes, klein von Gestalt, schwächlich, abgemagert, ihre Gesichtsfarbe ist gelblich wie bei Leberleidenden, aber glänzend schwarzes Haar wallt ihnen oft bis auf die Schultern herab. Den Grund des krankhaften Aussehens möchte man ebensowohl in den Sumpffiebern als auch in der Neigung zum Trinken erblicken. Ihre Tätigkeit erstreckt sich auf Viehzucht, Kork- und Harzsammeln, Korkschneiden, Kohlenbrennen, Fischfang, und im Süden, wo der Boden fruchtbarer wird, auch auf Land-, Obst- und Weinbau. Die Bevölkerung, gewöhnlich »Lanusquets« genannt, gliedert sich in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht in drei Stände, Eigentümer, selbständige Ansiedler und Pächter. Der Eigentümer ist ein braver Mensch, gastfrei, ein guter Ehegatte und Vater, verwaltet die Gemeindeämter, nimmt besonders das Geschäft des Handels für sich in Anspruch. Ungefähr die gleichen Eigenschaften entwickelt der Ansiedler, nur daß ihm zufolge seiner geringeren Bildung der feinere Schliff abgeht. Der Pächter oder Meier ist tot für alles, was nicht mit seiner Arbeit unmittelbar zusammenhängt; er fügt sich teilnahmlos in die Abhängigkeit von seinem Eigentümer, ja auch in seinen Familienverhältnissen ordnet er sich wie in der Patriarchenzeit dem Urteile des Familienältesten und der Hausfrau unter. Die Nahrung des Heidebauern besteht in Geflügel, den Schweinen und Schafen der eigenen Herden, aus Kohl und Rüben, die er selbst im Garten zieht, aus Brot von grobgeschrotenem Korn und einem eigentümlichen Landesgericht, »Cruchade« genannt, das aus Kügelchen von Mehl und Salz bereitet wird, die man in Wasser kocht.

Der größte Teil der Lanusquets, besonders die Schaf- und Ochsenhirten, sowie die Harzsammler führen ein Wanderleben. Eigentümlich war die Art und Weise der Fortbewegung in jenen Gegenden, wo Heidekraut und Ginster hohe, fast undurchdringliche Dickichte bilden, wo Sümpfe unter dem Fußtritt weichen und fiebererzeugende Aushauchungen entsenden, wo zahlreiche gefährliche Tiere, besonders Wölfe, den arglos Hinschreitenden gefährden: man bewegte sich nämlich, ja man brachte einen großen Teil des Lebens auf 2 m hohen Stelzen zu. Die Lanusquets übten sich von frühester Jugend auf diesen verlängerten Beinen und erlangten in ihrem Gebrauch eine solche Gewandtheit, daß sie damit gemessen über Schilf und Ginster hinwegstiegen, sich in scharfen Trab setzten, ja darauf tanzten und walzten nach den Klängen des Dudelsacks. Ein langer Stock diente ihnen als Schwebestange beim Gehen, als Stütze, wenn sie ausruhten und während dieser Muße der Kunst des Strümpfestrickens oblagen. In den Steppen von Médoc bedienten sich nicht nur Hirten, sondern auch Kinder und Frauen der Stelzen. Die Schäfer bewachten auf ihren Stelzen stehend die Herden und hielten sie trabend und Dornen, Flugsand und Sümpfe unverletzt überfliegend zusammen. Seitdem Eisenbahnen und Landstraßen die Landes durchziehen, die Sümpfe entwässert, die Dünen festgelegt sind, sind die malerischen Gestalten der Heideschäfer auf ihren hohen Stelzen größtenteils verschwunden.

Ein gleich einsames und unstetes Leben führt der Ochsenhirt, der in einem zweirädrigen Karren alle seine Lebensbedürfnisse und auch die Häute der getöteten Stiere mit sich führt. In oder unter dem Wagen ist sein Nachtlager. Er verwächst vollständig mit seinen Tieren; erst müssen sie gefüttert sein, ehe er an sich denkt; erst müssen sie schlafen, ehe er sein Lager sucht. Die Tiere zeigen sich dafür erkenntlich, sofern sie nur aus seiner Hand das Futter annehmen. Die großen Karren, »Cros« genannt, haben ein altertümliches Aussehen, an einem Doppeljoch, das mit Schaffell ausgekleidet ist, ziehen die Ochsen die schweren Fahrzeuge. Die Stiere sind zum Schutze gegen plagendes Ungeziefer mit Decken von weißem Linnen überzogen und machen in diesen weißen Hemden einen merkwürdigen Eindruck.

In den Dörfern an der Küste leben die Fischer und Harzsammler. Die Fischer sind heiteren Gemüts, wohlgestaltet, von frischer Gesichtsfarbe, sanges- und lebenslustig. In den Dünen haben sie Hütten, die sie nur in der eigentlichen Fangzeit, von Fastnacht bis Ostern bewohnen, wenn sie anstatt auf den heimischen Küstenseen (den Étangs) im offenen Meere ihrer Beute nachgehen. Einen rechten Gegensatz zu ihnen bilden die Harzsammler; sie sind hager, hohlwangig, düster-schweigsam wie ihre Heimat, der Föhrenwald. Auch der Harzer eilte auf Stelzen einher, die sich von denen der Hirten nur durch die größere Höhe unterschieden. Stets führte er eine Leiter bei sich, welche aus einem einzigen Stück Holz besteht, in das eine Art Treppenstufen eingehauen sind. Mit der linken Hand stellte er diese an die anzuzapfende Fichte, schwang sich hinauf und schlug mit der Axt die Einschnitte, aus denen der zähe Saft quillt. Nachdem er ein Sammelgefäß befestigt, war er mit einem Satz wieder auf dem Boden, sprang auf die Stelzen und eilte durch den Waldesschatten zum nächsten Stamme.

Der Hauptort der Landes ist das aufblühende Arcachon, das wegen seines prächtigen Seestrandes, seiner harzduftenden Wälder und der kräftigen Salzluft der Biscaya viel von Erholungsbedürftigen aufgesucht wird, die auch die Austern, die in der Haffbucht gezüchtet werden, zu würdigen wissen.

 

5. Durch die Provence nach Marseille.

Quelle: Dr. W. Kobelt, Reiseerinnerungen aus Algerien und Tunis. Frankfurt a. M. 1885, Moritz Diesterweg. Der Schirokko blies heftig aus Südost und verwandelte die Luft in ein Staubmeer, als unser Reisender in Lyon den Bahnzug bestieg; die Zypressenbäumchen in den Anlagen am Bahnhof bogen sich fast bis zur Erde, und in der Abfahrtshalle mußte an den stillstehenden Wagen die Bremse angezogen werden, damit sie nicht, durch den Sturm getrieben, den Weg nach Norden antraten. Es war im März 1884. Südlich von Lyon standen die Mandelbäume in voller Blüte, der Pfirsich ließ sich die Blütenaugen von der Sonne wachküssen, die Wintersaat wogte bereits in der Erntefarbe auf und nieder. Regenmangel hatte sich im verflossenen Jahre sehr fühlbar gemacht, und obwohl Regenwolken den Himmel einhüllten, kam es doch über einen Sprühregen nicht hinaus. Merkwürdig öde nahm sich die Rhone aus, keine Flagge, kein Segel deutete Verkehrsleben an, während auf den Bahngleisen ein Zug dem anderen folgte. Bei Lamanon, wo ein Felsriegel ins Rhonetal vorspringt, gewahrte man die ersten Oliven, die von da ab zu den Charakterpflanzen des unteren Rhonetals gehören. In Avignon löste der Mistral, der kühl ins Rhonetal herabblies, den Schirokko auf kurze Zeit ab, um dem Afrikaner die Herrschaft sehr bald wieder zu überlassen. In Arles hat man Gelegenheit, einen merkwürdigen, in natürlichen Verhältnissen begründeten Wechsel im Städtecharakter zu beobachten. Aus dem ehemaligen Hafenplatze ist eine stille Landstadt mit 22 000 Seelen geworden. Früher lag sie an einer Stelle der Rhone, wo diese noch größeren Fahrzeugen zugänglich war. Doch größer und größer wurde die Sumpfebene ihres Deltas, die »Camargue«, die sie aus den Trümmern der Alpenberge aufschüttete, sumpfiger aber auch die beiden Mündungsarme, die einen Teil ihrer schwebenden Bestandteile im eigenen Bett absetzten. Die Camargue mag heute 850 qkm umfassen, über welche 3-400 Pachthöfe und nur 9 eigentliche Ortschaften verstreut liegen. Der feuchte Untergrund bedingt ein entschiedenes Überwiegen der Viehwirtschaft, der vier Fünftel des Bodens gewidmet sind; zahlreiche Pferdchen einer kleinen, flinken Rasse, besonders aber Schafherden bevölkern die öde Landschaft.

Wie schon gesagt, beginnt bei Arles die Gabelung der Rhone; wie groß die Versandung der Ausflüsse war, geht am besten daraus hervor, daß man 1864 einen 60 m breiten, 7-9 m tiefen Kanal nach dem südöstlich von Arles am Meere gelegenen Bouc ausschachtete, und doch dient dies kostspielige Bauwerk nur dem Binnenverkehr; den Großhandel hat die ehemalige Hauptstadt des arelatischen Königreichs an Marseille abtreten müssen. Diesem Kanal entlang führt die Bahn von Arles aus weiter, zuerst noch in jener herrlichen Pflanzenpracht, die den vom Norden kommenden Reisenden mit eigentümlichem Zauber umfängt. Plötzlich ist sie verschwunden, und der Zug braust durch eine Steinwüste, die Crau (vom keltischen Craï = Stein), die französische Sahara. Kiesel bedecken den Boden, zwischen denen selbst im Frühjahr nur dürftiges Grün sich hindurchwindet.

Schon den ersten Ansiedlern, den Phokiern griechischen Geblüts, die um 550 v. Chr. Marseille gründeten, fiel dieser wie ein erratischer Block in den Rhonegarten geschleuderte Erdfleck auf, und die Mythe mußte erklären, was dem Verstande zu schwere Rätsel zumutete. Als Herkules, so meinten die griechischen Kolonisten, mit den Rindern Geryons aus Spanien heimwärts zog, traten ihm hier die Eingeborenen feindlich entgegen. Da er seine Pfeile im Kampfe gegen sie sehr bald verbraucht hatte, ließ sein himmlischer Erzeuger plötzlich Steine regnen, die ihm als Wurfgeschosse dienen mußten. Die physische Erdkunde hat jetzt nachgewiesen, daß die Crau der Durance ihre Entstehung verdankt. Diese mündete früher gleich ins Meer und zwar östlich von der Rhone. Sie rollte massige Schuttmengen zum Golfe du Lion, die weicheren wurden zerrieben; nur die Quarzite und andere feste Gesteine blieben unversehrt. Durch Anhäufung dieser Geschiebemengen versperrte sie sich schließlich die eigene Mündung und brach sich westlich durch zur Rhone, ihr früheres Mündungsgebiet als Steinfeld zurücklassend.

Die Crau war früher nur im Winter von Schafherden besucht, die sich während der Sommerglut gleich denen der Camargue auf die Alpenweiden flüchteten. Da kam um 1550 Ingenieur Craponne auf den Gedanken, seiner traurigen Heimat dadurch ein besseres Schicksal zu bereiten, daß er die Wasser der Durance durch einen Kanal wieder in die Steinwüste leiten und durch deren schlammige Ablagerungen, die man auf 18 Millionen Tonnen jährlich berechnet, diese Steinfelder nach und nach mit einer Schlammschicht bedecken wollte. Und nun rückt auch hier die Kultur langsam vor, indem man ein Stück nach dem anderen dem Anbau gewinnt, so daß Cousons oder Landhäuser inmitten der zugehörigen Äcker die Einöde zu beleben anfangen. Freilich hat man noch mit klimatischen Beschwerden zu kämpfen; die eine ist die Sommerglut, die andere der eisige Mistral, der selbst die salzigen Wasser der Strandseen zum Gefrieren bringen kann. Gegen ihn pflanzt man – und zwar mit Erfolg – als Schutzwehr dichte Reihen von Zypressen an als Hecken um Cousons und Felder; der Mistral kann sie zwar biegen, aber nicht entwurzeln. Auch die Bahn ist nach Nordost durch eine Zypressenhecke geschützt; aber die Neigung der Bäume nach Süd und die reichere Entwicklung der Äste nach dieser Seite redet deutlich von dem harten Strauß, den sie gegen den eisigen Gesellen, der aus Norden bläst, zu bestehen haben. Hie und da sind auch Steinhäuser für die Mutterschafe und Lämmer errichtet. Drähte hindern die Tiere am Betreten der Bahngleise; wo diese aber überschritten werden müssen, sind Tore angebracht, doch hat man die Wege lieber unter dem Bahnkörper weggeführt. Diese Löcher im Damme sind dann aber so niedrig, daß der Schäfer auf allen Vieren durchkriechen muß. Gegen 200 000 Stück Wollträger mögen gegenwärtig hier ihre Winterweiden finden.

Die Bahn läuft sodann 25 km am Strandsee oder Étang von Berre hin, der einen herrlichen Hafen abgeben würde, wenn nicht Marseille so nahe läge. Landhäuser der reichen Marseiller Kaufleute, ein ganzer Park von Fischer- und Vergnügungsbooten geben dem See ein freundliches Aussehen; die Fischer versorgen den Fischmarkt von Marseille; der Sardinenfang steht mit in erster Linie. Endlich gelangen wir nach der ersten Hafenstadt Frankreichs.

Vom Zimmer des Hotels erblickte der Reisende am nächsten Morgen den Innenhafen, der jetzt nur dem Orts- und Bootsverkehr dient, und links oben ragte auf einem Hügel das vergoldete Standbild der Notre dame de la Garde (»unserer lieben Schutzherrin«) empor. Ihr galt der erste Besuch, die bei allen Seefahrern des Mittelmeeres von jeher sich hohen Ansehens erfreute. Durch hübsche breite Straßen, in deren Rinnsteinen das Wasser der Durance rieselt, stieg man aufwärts; bald war die Promenade de Pierre Puget erreicht; zwischen Strandkiefern ging man im Schatten dahin. Teppichbeete, Becken und Springbrunnen verliehen diesem Spazierwege ein ungemein freundliches Aussehen. Je höher man stieg, um so deutlicher erblickte man die Stadt mit ihrem Hafen und den davorliegenden Inseln unter sich. Wir treten in eine enge Gasse, die sich zu dem Kreidefelsen hinaufwindet, der die Kapelle der Heiligen trägt. Von jeher hat hier oben eine Schutzgöttin der Seefahrer gestanden, erst eine heidnische, dann eine christliche, und auch heute sticht kaum ein Matrose katholischen Glaubens in See, ohne hier eine Messe gehört und das Bild der Göttlichen gekauft zu haben; am Maste befestigt, bildet es einen Talisman für das Schiff. Die jetzige prunkvolle Kapelle verdankt der französischen Kaiserzeit ihre Entstehung. Nur die kostbarsten Steine sind dazu verwendet, das Innere ist mit karrarischem Marmor ganz ausgekleidet, mit Wandmalereien und Mosaiken aufs beste geziert, und hoch auf dem Turme ragt die hehre Gottesmutter, den göttlichen Sohn im Arme, dem scheidenden Schiffer Trost, dem ankommenden Freude spendend. In vornehmen Wagen erschienen auch zahlreiche junge Damen, die hier ihr Herz ausschütten wollten. Ein schöner Fahrweg führte die Wagen herauf an den großen Steinbrüchen vorüber, denen die Stadt ihre Bau- und Pflastersteine entnimmt. Jene Fahrstraße endigt bei einer Marmortreppe, die vollends zur Kapelle hinaufleitet. Prächtig war der Ausblick von oben auf die an den halbkreisförmigen Hügelreihen aufsteigende Stadt mit dem Hafenbecken davor.

Ein anderer Ausflug galt dem Stolze der Marseiller, der Rue Cannebière mit ihren Prachthäusern, Schaufenstern, ihrem Verkehrstreiben. Von einem Kaffeehause aus ließ sich das großstädtische Leben am bequemsten beobachten; Mauren, Türken, Araber, Griechen, Albanesen in heimischer Tracht, alle Völker des Mittelmeers in einzelnen Vertretern konnte man hier an sich vorüberziehen sehen. Dazwischen rollten die vornehmen Zweispänner und die Droschken, die mit den kleinen zierlichen Pferden aus Korsika und der Camargue bespannt sind; doch auch zwei- und vierrädrige Lastwagen rasselten daher, von vier bis sechs Pferden oder Mauleseln mühsam dahingeschleppt, die sämtlich sehr gut gehalten waren. Die Rue Cannebière ist zwar eine breite schöne Straße, doch ein Boulevard, wie Paris oder nur Toulouse deren aufweist, ist sie nicht. Wir schlendern die Straße entlang und gehen über den Blumenmarkt nach der Rue de Longchamp, wo das herrliche Museum unsere Aufmerksamkeit fesselt.

Es ist gerade über dem Sammelbecken der Wasserleitung errichtet, die zu den bedeutendsten Bauwerken dieser Art zählt und sich getrost mit der Wiener, ja auch mit einer altrömischen Wasserleitung messen kann. Sie führt das Wasser der Durance hoch oben aus den Alpen 84 km weit herbei, durchbricht in einem 4 km langen Tunnel eine Bergkette und überschreitet bei Roquefavour auf einer 400 m langen dreistöckigen Überführung ein Flußtal. Obwohl ihr Wasser durch viele Bewässerungskanäle abgeleitet wird, reicht es doch vollkommen aus, die 400 öffentlichen Brunnen zu speisen und die Straßen zu spülen. Und diesem Umstande hat es Marseille zu danken, daß es aus einer verrufenen Stadt des Schmutzes eine gesunde und saubere Stadt geworden. Über dem Sammelbecken dieser Wasserleitung also ragt, in einem prächtigen Garten gelegen, das Museum empor, aus zwei Flügeln bestehend, die durch eine Säulenhalle verbunden sind. Der rechte Flügel beherbergt die Kunstschätze, der linke die zoologischen Sammlungen. Großartig sind die ausgestopften, gemalten und skelettierten Tiere im Innern. Schon in der Vorhalle fallen uns die Knochen eines riesigen Wales auf, der 1871 bei Ciotat, südöstlich von Marseille, strandete. Dasselbe gilt von einem zweiten Seesäugetiere, dessen mächtige Unterkiefer ebenfalls in der Vorhalle ausgestellt sind, dem Orca, der größten Delphinart (gegen 10 m lang und 180 Zentner schwer), die wohl dem schmalen Ruderschiff der Alten gefährlich werden konnte. Auch er ist jetzt sehr selten geworden im Mittelmeer. In zwei großen und vier kleinen Sälen sind nun die zahlreichen, wertvollen Nummern untergebracht, und zwar so, daß die ausgestorbenen Tiere am oberen Teile der den Fenstern gegenüberliegenden Wände in trefflichen Bildern zu sehen sind. Merkwürdig im höchsten Grade ist die in einem der kleinen Säle untergebrachte Sammlung aus der Provence und dem Golf du Lion, deren Muschelabteilung Seltenheiten hohen Wertes aufweist, während an den Wänden die Charakterbäume des Landes abgebildet sind. Hinter dem Museum befindet sich der 1854 begründete zoologische Garten, in welchem einzelne Dattelpalmen, Zwergpalmen, Schirmpalmen und andere Kinder des Südens ein kümmerliches Dasein fristen; die Pflanzenwelt in der Umgebung von Marseille ist wegen des Mistral nicht zu vergleichen mit der der Riviera.

Am 15. März hatte der Nordwind die Schwingen eingezogen, es war schön warm und still, einladend zu einer Gondelfahrt im Hafen. Zahlreiche Vergnügungsboote lagen angekettet an den Kais, die den jetzt ziemlich bedeutungslosen Innenhafen einschließen; die zuverlässigen, geschickten Bootsführer standen in der Nähe. An dem Kai liegt ein Verkaufsladen am andern. Türken und Griechen bieten hier die kostbaren Stoffe des Ostens feil, reiche Teppiche, prächtige Kleiderstoffe, echt türkische Schals in den glänzendsten Farben mit grellen, wunderlichen Blumen, Palmen und Streifen. Rosenduft strömt von weitem aus anderen, mit den köstlichsten Essenzen angefüllten Läden. Aus einem daneben schauen Papageien, Kakadus und andere Vögel südlicher Zonen in der bunten Farbenpracht ihrer Federn gar fremd in die Welt hinein, während possierliche Affen den Vorbeigehenden Gesichter schneiden. Alles ist hier zu haben, Juwelen und Perlen, Uhren und Heiligenbilder, Landkarten und Kupferstiche, die herrlichsten Früchte des Südens, Orangen, Granatäpfel, Kokosnüsse, fast frische Datteln, in langen Trauben noch aneinander hängend, und die köstlichsten Blumen in Sträußen und Blumentöpfen; wie hier am Kai, so natürlich auch in den großartigen Läden der Cannebièrestraße. Aus dem Innenhafen fuhr man zwischen den Forts St. Nikolas und St. Jean in den Außenhafen. Auch dem flüchtigen Beschauer drängt sich die Gewißheit auf, daß Marseille das große Tor ist, durch welches Frankreich und das Morgenland miteinander verkehren. Dieser Hafen ist einer der schönsten der Welt. Bunte Flaggen und Wimpel der verschiedensten Länder flattern hier lustig gegen den dunkelblauen Äther auf. Kleine, sonderbar gestaltete Schiffe von der Küste des Mittelländischen Meeres, beladen mit Orangen, Kastanien, sogar mit Blumen, ankern neben den gewaltigen Kauffahrteischiffen und Postdampfern, sowie neben den fremdartig aussehenden Fahrzeugen der levantischen Küsten. Viele hundert Boote, Schaluppen, Fischernachen kreuzen lustig dazwischen herum, auch recht zierliche Gondeln, deren Insassen sich an dem geschäftigen Treiben, sowie an der smaragdnen Flut ergötzen.

Zur Linken erblickt man auf dem hohen Meeresufer das liebliche Schlößchen, das einst die Stadt Marseille der Kaiserin Eugenie in Anerkennung der Verdienste ihres kaiserlichen Gemahls um den Ort zum Geschenk machte. Zwar verlangte sie es nach 1870 von der unglücklichen Frau zurück, doch wurde ihr Anspruch als unbegründet seitens der Gerichte abgewiesen; dies konnte die Marseiller freilich nicht hindern, das ihnen freiwillig zurückgestellte Geschenk »ohne jeden Anstand« zurückzunehmen. Von dem Schlößchen aus muß der Ausblick auf den vortrefflich eingerichteten Hafen entzückend sein.

Um den Leuchtturm herumsteuernd, gelangt man zur Außenreede, die durch die Inselgruppe du Frioul vor dem Schirokko Schutz findet, und hinter den durch einen Damm verbundenen Hauptinseln Pomègues und Ratonneau liegen die Schiffe auch vor anderen Stürmen sicher. Hier befinden sich die Gebäude der Seuchensperre, und immer liegen daselbst einige Fahrzeuge, die aus den Tropen heimkehren, vor Anker; sehnsüchtig spähen die Wartenden, die gewöhnlich den Aufenthalt auf dem Schiffe demjenigen in den Zellen des Beobachtungsgebäudes vorziehen, nach dem nahen Lande. Diese beiden Inseln sind nur gegen Erlaubnisschein zu betreten; anders ist dies bei der dritten, einem kahlen, sonnenverbrannten Felsen, der auf seinem Scheitel das früher berüchtigte Staatsgefängnis Chateau d'If trägt, wo in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts auch der Herzog Orléans Egalité büßte oder wenigstens büßen sollte.

In kurzer Zeit trug ein frischer Südost die Barke zur Stadt zurück. Mit einem Omnibus suchte der Reisende die hinter der Stadt im Halbkreise ansteigenden Hügel zu erreichen; doch nach dem Aussteigen aus dem Gefährt am Eingange eines Tales irrte er zwei Stunden lang in tiefem Staub und bei drückender Hitze zwischen hohen Gartenmauern hin, ohne sich herauszufinden. Er war in die Bastiden, die Landhäuser der reichen Marseiller, geraten. Nicht bloß die Obstgärten, sondern auch die Waldanpflanzungen lagen zwischen hohen Mauern; denn sie waren Privateigentum. Schöne Strandkiefern, immergrüne Eichen, vor allem aber unsere Obstbäume schufen schattendes Grün, nach welchem das Auge in jener nackten, heißen Gegend dürstet.

Alle Einwohner von Marseille, reiche und minder wohlhabende, fühlen das Bedürfnis, den Sommer auf dem Lande zuzubringen, oder doch wenigstens vom Sonnabende bis zum Montage sich im Freien von der Arbeit der anderen Tage zu erholen und frische Luft zu atmen. Daher die Menge der in geringer Entfernung von der Stadt liegenden Landhäuser, eben jene Bastiden,J. Schopenhauer, Reise von Paris durch das südliche Frankreich bis Chamonix. welche die Gegend umher beleben und ihr einen ganz eigentümlichen Reiz gewähren.

Man gab uns die Zahl auf mehr als 10 000 an; sie schien uns zuerst unglaublich; wenn man aber von irgendeiner etwas beträchtlichen Anhöhe umher schaut und rings, soweit das Auge reicht, alle die großen und kleinen blendend weißen Häuser zwischen Myrten, Granaten und Pinien hervorschimmern sieht, auf allen Höhen, in allen Tälern, zwischen Felsen und Klüften, von der Vista an bis hinab an das Gestade des Meeres: so fängt man an, die große Zahl wenigstens wahrscheinlich zu finden. Sie sind freilich an Größe und Schönheit sehr voneinander verschieden, nur in der weißen Farbe stimmen alle überein; doch darf man auch bei den bedeutendsten nicht an die schönen Landhäuser bei Hamburg, Amsterdam und anderen großen deutschen und holländischen Städten denken, noch weniger an England, wo die Reichen nur in ihren stolzen Landhäusern Raum finden, ihre Pracht zu zeigen. Im Süden ist das anders; da braucht man im Sommer nur die frische Seeluft, kühlen Schatten und höchstens eine Quelle; die Wohnung ist das letzte, woran man denkt; denn man bedarf ihrer nur zum Schlafen und zum Schutz gegen den sengenden Mittagsstrahl, nicht gegen Nässe und Kälte, die in unserem Norden uns auch mitten im Sommer ein bequemes, schönes Haus unentbehrlich machen, aus dessen Fenstern man wenigstens ins Grüne blicken kann, wenn es draußen unfreundlich regnet und stürmt. Der größte Teil der Bastiden ist daher sehr klein und enthält höchstens eine Küche und ein paar Wohnzimmer. Jede hat ihren eigenen Garten, der aber nie von bedeutendem Umfange, noch weniger mit künstlichen Anlagen geschmückt ist. Man baut Gemüse und Obst und begnügt sich mit dem so unendlich reichen Schmucke, welchen die Natur über Felder und Wiesen verbreitet. Die edelsten Bäume, die köstlichsten Pflanzen wachsen ja beinahe wild; da bedarf es nicht der Kunst des Gärtners, um sie mühsam zu pflegen, wie bei uns. Blendend weiße lange Mauern trennen die Gärten von den Landstraßen und geben diesen ein langweiliges Ansehen, wie die Weinbergsmauern in der Gegend von Meißen; aber viele dieser Gärten stoßen im Innern aneinander, ohne merkbare Begrenzung jedes einzelnen Eigentums. Die ganze Nachbarschaft benutzt sie als Spaziergang, ohne allen Zwang, und nur der Genuß des Ertrags bleibt dem Eigner, alles übrige ist gemeinschaftliches Gut der in der Nähe Wohnenden.

Einige auf Abhängen erbaute Bastiden gewähren eine ausgebreitete herrliche Aussicht auf Land und Meer; bei vielen scheint man einzig auf diesen Genuß bedacht gewesen zu sein, da man sie auf steilen, unwirtbaren Felsen errichtete, in deren Spalten nur Lavendel und andere stark duftende Kräuter wachsen, die fast keiner Nahrung bedürfen. Andere in Tälern erbaute erfreuen sich des Schattens der Felsen in dieser von Bäumen entblößten Gegend, wo nur Obstbäume, Reben, Maulbeerbäume gedeihen, die wenig Schatten geben. Unzählige würzige Kräuter, herrlich blühende Blumen und Sträucher erfüllen die Luft mit einem Balsamdufte, der abends, wenn der Tau fällt, oft betäubend wird; aber die Buchen, die Eichen, die weithin schattenden Linden unseres Vaterlandes können hier nicht fortkommen, weil der sengende Mittagsstrahl sie schon im Keime zu Staub brennt.

Die provençalische Sonne ist anders als die unsrige. Hoch steht sie am dunkelblauen Himmel, und kein Nebel, kein Wölkchen hält ihren alles versengenden Strahl zurück. Im Sommer regnet es fast nie, und das Pflanzenleben erliegt der glühenden Hitze, bis der Abendtau es wieder einigermaßen erfrischt. In der Mitte des Sommers ist kein grüner Grashalm mehr zu erblicken, und das Laub an den Bäumen verdorrt. Schon am Ende des Monats April fanden wir es in Marseille fast so heiß, als bei uns in den wärmsten Sommertagen, aber die Hitze ist weniger drückend, weil die Luft ganz frei von Dünsten bleibt. Im Mai begann man schon die Fußpfade um den Hafen, den Kurs und die besuchtesten Straßen mit Dächern von Leinwand zu bedecken. Die Strahlen der Mittagssonne sind hier im Sommer sehr gefährlich, oft tödlich. Man versicherte uns auch, daß selbst in Neapel die Mittagsstunden des Sommers nicht heißer sind als hier, wo alsdann jede Regung des Lebens erschlafft und alles entnervt und ermattet niedersinkt. Zwar erhebt sich alle Tage ein sanfter Seewind, der regelmäßig von 10 Uhr morgens bis gegen Abend anhält, aber in der Stadt wird man seinen erfrischenden Hauch kaum gewahr, darum flüchten die Marseiller zu ihren Bastiden, wo die Luft sie freier umweht, wenngleich sie auch dort wenig erquickenden Schatten finden. Die Herrlichkeit der Sommernächte ist dagegen unbeschreiblich, besonders wenn der Vollmond vom reinen, beinahe schwarzblauen Himmel herniederstrahlt, mit einer Pracht, von der nur unsere kältesten Winternächte eine Vorstellung geben können. Auch eilt dann alles hinaus, und selbst angesehene Familien sieht man in den Straßen vor den Haustüren sitzen, um der trefflichen Kühlung der wunderschönen Nacht zu genießen.

So wie der Abend des Tages, so ist auch der Abend des Jahres, der Herbst, die schöne Jahreszeit. Mild und segensreich herrscht er vom Oktober an bis spät in den Dezember; oft braucht man erst im Februar Kaminfeuer anzuzünden. Die kalte Regenzeit, die hierzulande Winter heißt, dauert etwa drei Wochen. Auch dann bleibt die Luft mild, und selten merkt man morgens früh ein wenig Reif oder dünnes Eis; ein paar Stunden Schnee sind die größte Seltenheit. Der wunderschöne Frühling schließt sich so eng an den Winter, daß man kaum seinen Anfang, wohl aber sein Fortschreiten bemerkt; er wäre der herrlichste in der Welt, wenn nicht der schneidend kalte, alles austrocknende Fallwind, der Mistral, gerade in dieser Zeit am heftigsten wehte.

Die hohe malerische Schönheit des Landes um Marseille entzückte uns jeden Tag aufs neue. Obgleich es der Gegend ganz an ländlichem Reize frischer Wiesen und schattender, großer Bäume fehlt, so wurden wir es doch nicht müde, uns der prächtigen Felsen, des Meeres, der wunderbaren Pflanzenwelt zu erfreuen; die Marseiller hingegen konnten gar nicht begreifen, was uns an dem nackten Gestein entzückte. Ihr Ideal von Schönheit der Natur ist gerade das, was ihnen als das Seltenste erscheint. Wo sie nur ein frisches, grünes Plätzchen, von ein paar großen Platanen oder Ulmen beschattet, und eine kühle Quelle wissen, da wallfahrten sie hin, betrachten es als ein Wunder, freuen sich darüber ohne Ende und lachten über uns, die wir in der Begeisterung für ihre große Natur uns fast zu Asche verbrennen ließen.


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