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Elftes Capitel.

Das Gespenst.

Hackert lag und horchte wie betäubt. Ergriff ihn schon die begeisterte Einsetzung einer großen Thatsache an sich, hatte sein kühler, verneinender Sinn gehofft, man würde nun widersprechen, alle diese Vorschläge für unmöglich erklären, so beunruhigte ihn noch mehr, daß dies nicht geschah, daß Niemand zweifelte, Niemand widersprach. Schon begann man die nähern praktischen Möglichkeiten dieser Idee zu erwägen, als sich Hackert, der fast träumend, lauschend und stierend dalag, von Schmelzing's Hand berührt fühlte.

Was haben Sie? Wie sehen Sie denn aus? fuhr Hackert erschrocken auf.

Ängstlich, mit halbgeöffnetem Munde, starrte Schmelzing in den dunklen Hintergrund und fragte lauschend:

Haben Sie nichts gehört?

Sie hören Gespenster, die hinter dem Gelbsiegellack da im Korbe stecken! Sie sind überhitzt, trunken, Schmelzing! Scheren Sie sich zum Henker!

Schmelzing zeigte die lange Pergamenttafel, die er vollgeschrieben hatte. Er ließ sie auseinanderfallen, wie Leporello Don Juan's Register.

Sind Ihre Spitzbuben fort? fragte Hackert. Fürchten Sie sich jetzt, daß wir gehen werden?

Indem hörte aber auch Hackert in der Ferne das Knistern eines Fußgängers auf den steinernen Fußböden.

Schmelzing bedeutete ihn zu schweigen.

Kommen Sie! winkte Hackert. Wir wollen sehen, was Das ist.

Um's Himmelswillen nicht, ich bleibe hier, flüsterte Schmelzing.

Indem erlosch blitzartig auch das flammende rechte Kreuz, an dem Schmelzing die Gespräche nachgeschrieben hatte, sodaß jetzt nur noch das mittlere leuchtete. Man sprach unten lebhaft durcheinander und brauchte die Ausdrücke »Geheimbund« und »Bundesglieder« so oft, daß Hackert in Besorgniß gerieth, Schmelzing würde wieder anfangen, an der richtigen Stelle zu lauschen, während er doch jetzt glaubte, auf seinem Pergamente die wichtigsten Geheimnisse dunkelschleichender Intriguen notirt zu haben.

Ich schreie laut auf, sagte Hackert, wenn Sie nicht kommen und mit mir dem Gespenst nachstellen!

Schmelzing legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte:

Gehen Sie! Ich bleibe hier.

Bester Freund, Sie haben die Umtriebe eines Offiziers, eines französischen Emissairs und wie es mir schien, einer dritten hohen Person in der Tasche; nun kommen Sie und machen Sie mir auch eine Unterhaltung. Ich spreche gern mit Geistern. Wir wollen das Gespenst anreden.

Nicht um hundert Thaler, sagte Schmelzing.

Jetzt fiel von einem obern Fenster, das in diese Halle führte, sogar noch ein Lichtschimmer.

Schmelzing zuckte zusammen...

Es steigt hinauf, zeigte Hackert, da! Ich wette, das ist einer von den ruhelosen alten Johannitern, die durch den großen Wildungen'schen Proceß aus dem Grabe getrieben wurden und nicht anders erlöst werden können als durch einen ledigen Junggesellen von vierzig Jahren, der eine weiße Halsbinde tragen muß und eine gelbe Weste mit acht Knöpfen. Erlauben Sie, Schmelzing! Eins, zwei, drei...

Damit zählte Hackert zu Schmelzing's Entsetzen dessen Westenknöpfe.

Schmelzing riß sich von ihm los.

Da! Da! rief Hackert. Eben sah ich das graue Männchen! Da oben an dem Fenster. Es steigt in's Archiv hinauf. Sehen Sie doch, Schmelzing! Es steht still und grüßt Sie! Schmelzing, der alte Ritter kennt Sie! Er hat eine Nachtmütze auf und schwenkt sie ganz ehrerbietig vor Ihnen! Danken Sie doch!

Schmelzing wußte nicht, wie ihm geschah. Er sah nichts mehr. Selbst der Lichtschimmer in der Ferne war verschwunden. In demselben Augenblicke erlosch im Nu neben ihnen die dritte Flamme. Die Gesellschaft unten schien sich gleichfalls entfernt zu haben. Es schlug ein Viertel auf zwölf Uhr vom Rathhause. Alles war dunkel und gespenstisch still um sie her.

Unwillkürlich faßte Schmelzing Hackert's Hand und flüsterte winselnd:

Nun wird's schön! Alles finster! Wo haben Sie die Laterne?

Kommen Sie nur! Wir haben ja Streichzündhölzer!

Was machen wir, daß wir davonkommen? Wir müssen hier übernachten.

Nein! Hier ist die Laterne!

Hackert zog Schmelzingen, als wollte er die Laterne ihm in die Hand geben. In Wahrheit aber führte er ihn nur an die Treppe, die sie herabgestiegen waren.

Wo sind Sie? Sie lassen mich ja allein, Hackert!

Gerade aus!

Ich falle.

Es ist die Treppe! Steigen Sie doch!

Die Laterne!

Hier! Hier!

Hackert besaß auch in der Sehkraft etwas von Katzennatur. Er konnte sich im Dunkeln orientiren. Es war ihm ein Leichtes, den Weg zurück zu finden, während Schmelzing taumelte, überall anstieß und nur von Hackert's leitender Hand zurechtgeführt werden konnte.

Oben auf der Treppe sagte Hackert:

Ich steige jetzt höher, Schmelzing! Folgen Sie?

Nicht um funfzig Thaler!

Sie lassen sich ja schon handeln! Vorhin nicht um hundert? Kommen Sie!

Nimmermehr. Ich beschwöre Sie, Hackert! Hackertchen, führen Sie mich an die Thür.

Wenn Sie zärtlich sein können, Schmelzing, bin ich jedes Opfers für Sie fähig. Hier geht der Weg! Da! Den Fuß ausgestreckt! So! Die Stufen abwärts! Finden Sie sich zurecht?

Ja, Hackert!

Hier ist ja die Vorhalle. Bei Licht waren Sie so muthig. Sie müssen schreckliche Sachen aufgeschrieben haben.

Das hab' ich!

Pax wird sich freuen –

Und wie!

Halt!

Was ist?

Hörten Sie nicht oben knarren?

Eine Thür...

Das ist ein Ritter, der einmal gefänglich eingeschlossen war, weil er eine Nonne liebte, die blond war. Diese geistlichen Ritter durften keine Nonnen lieben, die blond waren.

Kommen Sie! Ich höre Eisen...

Wenn es zwölf schlägt, hört man den Ritter an der Kette klirren und die blonde Nonne ächzen, weil die auch noch nicht erlöst ist. Sie wartet auf einen Jüngling, der durch Zufall dreimal: Kommen Sie! sagt! Wenn er zum dritten male hier über dem Rathskeller sagt: Kommen Sie! dann geschieht etwas.

Der unglückliche Schmelzing mußte nun, er wollte oder wollte nicht, verstummen. Selbst sein wiederholtes: Kommen Sie! konnte ja nur Unheil bringen. Er zerrte Hackerten, der ihn völlig verwirrte, mit Gewalt vorwärts.

Sie werden noch in das Grab der Nonne fallen, die hier enthauptet worden ist, flüsterte Hackert. Hier sind alle Leichensteine jetzt aufgedeckt. Nehmen Sie sich in Acht.

Schmelzing fürchtete sich aber nicht mehr. Er sah die offenstehende Thür, die über die kleine Holztreppe in den Hof führte. Daß er sie, als er den Oberkommissair begleitet hatte, selbst verschlossen und nun offen fand, entsetzte ihn freilich, allein er fühlte die Nachtluft, sah den Himmel wieder und war schon im Begriff, die Holztreppe hinabzusteigen.

Jetzt, sagte Hackert, irren Sie sich, Schmelzing, wenn Sie glauben, daß ich eine nächtliche Visitation dieser Registraturen irgend einem Geiste oder Menschen gestatte! Im Hause ist Jemand. Der Lichtschimmer konnte Täuschung sein, das Knistern auf dem Sandsteine konnte von den Ratten kommen, deren ich gräuliche gesehen habe – aus Schonung für Sie schwieg ich über die Augen dieser Ratten, Schmelzing – aber diese Thür steht offen. Ich muß wissen, wer hier nächtliche archivalische Studien macht.

Lassen Sie Das, bedeutete Schmelzing, der jetzt an der Luft in dem stillen Rathhaushofe neuen Muth geschöpft hatte. Lassen Sie Das! Man würde immer in die Lage kommen können, sagen zu müssen, was man hier wollte. Die Entdeckungen, die ich machte, sind zu wichtig –

Hackert hatte aber schon seine Stiefeln ausgezogen und sie unter den Arm genommen.

Was thun Sie? sagte Schmelzing erschrocken.

Leben Sie wohl, Schmelzing! antwortete Hackert. Ich will die blonde Nonne, wenn es geht, selbst erlösen und zu dem Ritter dreimal sagen: Kommen Sie!

Schmelzing's Bitten half nichts. Hackert ersuchte ihn, hier wenigstens an der Thür Wache zu stehen. Er war dann schon unterwegs, gleichviel ob Schmelzing blieb oder nicht.

Auf den Socken schlich er sich den Weg zurück, bestieg wieder die Stufen, die emporführten und sah sich bei jedem Absatze der Treppe um, ob er nirgends Lichtschimmer entdeckte.

Im ersten Stock sah Hackert nichts. Auch im zweiten nichts.

Im dritten über sich hörte er das Knarren einer Thür.

Er schlich vorsichtiger...

Als er oben im dritten Stockwerk war, spähte er nach dem Lichtschimmer. Er entdeckte nichts. Er mußte sich in Acht nehmen, weiter zu schreiten. Bei irgend einem Fehltritt konnte er von den verwahrlosten Brüstungen herabstürzen. Er tastete sich weiter und prüfte erst jeden Schritt mit einem Fuße, ehe er ihn mit beiden machte.

Er war auf einem Gange.

Nun hörte er hüsteln. Dies Hüsteln schien ihm bekannt zu sein...

In dem Augenblick mußte der nächtliche Besucher dieser Räume wol seine Laterne anders stellen. Die Seite des Lichtschimmers fiel auf den Gang, auf dem sich Hackert befand. Hackert fand sich dadurch zurecht. Er kannte diese Räume, die er oft im Auftrage Schlurck's und in Begleitung des städtischen Archivars, der ein sehr vertrauter Freund des Justizraths war, besucht hatte. Hier zur Linken ging es in die Aktensammlung über vormundschaftliche Angelegenheiten...

Wie er näher kam und von einer dunklen Stelle aus in ein kleines Gemach sehen konnte, erkannte er auf den ersten Blick seinen grämlichen alten Gegner im Schlurck'schen Hause, den vertrauten Rathgeber der ganzen Familie des Justizraths, Bartusch... Der nächtliche Forscher im Archiv wandte ihm zwar, in Papieren blätternd, den Rücken, aber an seinem grauen Rock erkannte er den alten Schleicher sogleich.

Bartusch blätterte eifrig in Akten, die er bald aus einem geöffneten Schranke herausnahm, bald wieder zurücklegte...

Anfangs glaubte Hackert, ganz erfüllt noch von Dankmar's Vortrag, tief ergriffen von der hohen Bedeutung, die er jetzt den Ansprüchen der Wildungen'schen Familie beimessen durfte, daß Bartusch, in Schlurck's Auftrage, vielleicht Papiere suchte, die auf einen für den Justizrath so wichtigen Proceß Bezug hätten.

Dann aber sagte er sich: Warum besucht er diese alte Registratur bei Nacht? Was wäre dabei Geheimes und Ängstliches zu beobachten?

Er bewunderte den Muth Bartusch's, der sicher hier, der Schmelzing'schen Erzählung zufolge, schon zum zweiten male erschien.

Sollte er, dachte er sich, sollte er die Absicht haben, Dokumente zu vernichten? Was sucht er so eifrig? Was schüttelt er so den Kopf? Ist es nicht das rechte Papier, was er eben so emsig durchlas?

Bartusch ging an einen andern Schrank, an dem er ein Bund Schlüssel probirte.

Diese Schlüssel gab ihm der städtische Archivar! sagte sich Hackert. Oder er stahl sie ihm. Halt – die Rathsdienerin Spieß vielleicht? Oder sie verabredeten sich Beide, daß er sie sich selbst nahm, und der Archivar so that, als sähe er es nicht. Wenn Schlurck's Champagner strömt, fließen alle Bedenklichkeiten mit ihm. Man ist ja ehrlich, man wird ja nur betrogen! Schnöde Welt! Die Blinden gelten alle für gut und sind meist die durchtriebensten.

Die Laterne war hinterwärts auf einem Fußschemel stehen geblieben.

Noch besann sich Hackert auf seine eigenen Erinnerungen an die Angelegenheiten der Häuser und Liegenschaften, die Schlurck verwaltete, und malte sich für gewiß aus, daß dieser nächtliche Besuch mit dem Johanniter-Processe in Zusammenhang stand, sann und grübelte hin und her, ob er den Gebrüdern Wildungen hier nicht auf's neue von Nutzen sein könnte, als er erstaunte, auf dem Schranke die Jahreszahl 1825 geschrieben zu sehen. Was konnte ein so junges Datum mit jenem Processe zu thun haben!

Auch besann er sich, daß er sich sonst hier immer nach vormundschaftlichen Papieren umgesehen hätte.

1825!

Es war ihm immer gewesen, als müßte dies sein Geburtsjahr sein! Obgleich er in den Angaben seines Alters bald diese, bald jene Zahl nannte, liebte er doch die Zahl: 1825! Er kannte nichts von seiner Geburt, von seinen Eltern, nichts von seiner Heimat. Allein soviel konnte er berechnen, daß er, wenn er etwa sechs bis acht Jahre alt war, als er aus dem Waisenhause zu Schlurck gekommen, wol um das Jahr 1825 geboren sein mußte.

Nicht, daß er annahm, Bartusch suche nach Papieren, die ihn beträfen. Aber etwas mächtig Verführerisches lag darin, daß er gerade sein vermeintliches Geburtsjahr, 1825, über dem Schranke erblickte. Sein Entschluß stand so wie so fest...

Bartusch hatte ein Papier in der Hand. Er überflog es und laut entfuhr ihm ein Ah! Das ist es! Er las noch einmal, nickte dann mehrmals und wollte selbstzufrieden eben den Schrank zuschließen. Vorher steckte er das Papier in die linke Brusttasche. Eben schlug das Schloß in dem Schrank wieder zu, als er sich plötzlich im Dunkeln fand. Bartusch zuckte erschrocken auf. Im Nu hatte ihn eine kräftige Hand umklammert. Todesschreck schnürte dem Alten die Kehle zu. Er wollte schreien. Der Ton erstickte ihm. Er fühlte eine Hand, die ihm das Halstuch fast mörderisch zusammen würgte. Aus seiner Brusttasche wurde von einem Unsichtbaren das eben gefundene Papier entrissen. Halb ohnmächtig, unvermögend zu schreien, lag Bartusch rücklings auf der Erde. Der Gedanke an die Erzählung der Bibel von einem nächtlich auf dem Wege mit Jakob ringenden Engel mochte ihm in der grauenhaften Einsamkeit eingefallen sein. Kannte er die Erzählung nicht, so war dieser ungeahnte Überfall nicht minder schauerlich und gespenstisch genug für ihn...

Schmelzing harrte inzwischen unten in der That noch seines Kameraden. Er fürchtete sich, durch die mehreren Höfe und Durchgänge, die noch bis zur Schildwacht am Eingange des Rathhauses zu durchwandern waren, allein zu gehen. Es schlug halb zwölf Uhr. An eins der leeren Weinfässer lehnte er sich, um Luft zu schöpfen. Jeden Augenblick erwartete er irgend einen Schrei im Innern des unheimlichen Hauses, irgend einen Hülferuf zu hören. So stand er zitternd, bis Hackert plötzlich am Rande der Treppe erschien.

Pst, Schmelzing! Wo sind Sie?

Hier!

Leben Sie denn noch? Ha! Die Nonnen!

Herr Gott!

Die Ritter! Die Geister! Fort! fort! Kommen Sie! Die blonde Nonne hatte wirklich keinen Kopf!

Hackert!

Sie kommt uns nach! Eilen Sie! Schmelzing, die Polizei erlebt mehr als gewöhnliche andere Menschen. Grauenvoll!

Damit zog Hackert den taumelnden, von der Luft und dem Wein und dem Schrecken an Hand und Fuß zitternden Schmelzing vorwärts. Die Höfe, die sie im Flug durchschritten, widerhallten. Durch einige Durchgänge mußten sie an den Wänden sich streifend. Da und dort ein mattes flackerndes Lämpchen. Sie kamen an die offene Thür des Rathhauses, die immer von einer Feuerwache in der Flur, von einer Militairwache am Eingange besetzt war. Die Feuerwächter kannten die beiden neuen Polizeiagenten hinlänglich und ließen sie um so mehr passiren, als sie überdies noch eine geheime Parole sagen konnten.

Nach einer halben Stunde kam ein graues Männchen durch den Hof geschlichen, wandte sich ächzend und stöhnend nicht durch den Thorweg auf die Straße, sondern schlich sich in eine offene Thür, wo eine Stiege zu einem Fenster führte, in dem noch Licht brannte. Dort wohnte der Rathsdiener Spieß, der eine hübsche junge Frau hatte, die an Abenden, wo ihr Mann zu Pfändungen und gerichtlichen Executionen in der nächsten Umgegend reiste und zuweilen eine Nacht ausblieb, immer länger Licht zu haben pflegte als gewöhnlich.

Bartusch, der das geheimnißvolle Wort der Polizei nicht kannte, wäre schwerlich an der Feuer- und Thorwache hindurch gekommen. Wir glauben, daß er mit dem Glockenschlag zwölf sich anschicken wird, einen beruhigenden Thee zu trinken, den ihm die Rathsdienerin gewiß mit größter Gefälligkeit kochen wird, da sie und ihr Gemahl diesem guten vielvermögenden Herrn Bartusch einen solchen Posten und hier in dem ehrwürdigen alten Rathhause die bequemste freie Wohnung verdankten.


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