Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am Morgen nach diesem ereignißreichen Tage und der ihm folgenden ernsten Nacht finden wir die Brüder Wildungen in einem Gespräch auf dem Sopha der »Akademie«.
Die Akademie, wissen wir, ist Siegbert's, die Aula ist Dankmar's Wohnzimmer.
Sie waren trotzdem, daß sie so spät zur Ruhe gegangen waren, früh erwacht. Trotz des Weines, trotz der Reden, trotz der gewaltigsten Aufregung des Geistes fühlten sich die kräftigen jungen Männer nicht angegriffen...
Nur Siegbert konnte sein inneres Leid nicht verbergen...
Bist du unzufrieden mit mir, sagte Dankmar, daß ich mich gestern von dem traulichen Beisammensein so erregen ließ und so offen mit meinen Träumereien hervortrat? Sage mir nichts Weises darüber! Du kennst meinen Unmuth, wenn ich mich des Morgens besinne, daß ich am Abend zu viel sprach, zu exaltirt und zu offenherzig war. Mein schlimmster moralischer...
Siegbert stellte eben der Katze der Frau Schievelbein den Rest ihrer Milch an die Erde und ergänzte:
Katzenjammer!
Katzenjammer! Was ist Das nur! fuhr Dankmar fort. Gebrochene Wehmuth! Reue, die bei mir die Morgenstunde mehr im Munde hat als Gold!
Er legte die Cigarre fort, die ihm nicht schmecken wollte, und spitzte sich Federn zum Arbeiten.
Siegbert sprach ihm Muth zu. Er sagte, daß er sich fast gefürchtet hätte, als Dankmar mit seinem kühnen Plane so offen hervorgetreten wäre. Allein die Wirkung wäre auf Alle doch die mächtigste gewesen.
Und, setzte er hinzu, es sind doch Das nur gemeine Naturen, die bei nüchterner Stimmung die Entschließungen nicht wahr haben wollen, die sie in aufgeregten Augenblicken faßten. Nur Die Menschen sind groß und bedeutend, bei denen sich der Morgen erfüllend an den prophetischen Abend knüpft.
Man vereinigte sich nun darüber, daß die Freunde es aufrichtig gemeint hätten in ihrer Zustimmung zu Dankmar's Planen. Selbst Leidenfrost, der ihnen so plötzlich und rührend als Max Brüning Enthüllte, wäre ergriffen gewesen und hätte die blanke Revolutionsidee preisgegeben, von der man ohnehin nicht wisse, ob er sie im Ernste oder humoristisch verstehen wollte. Des edeln Werdeck's Augen hätten geglänzt wie zwei funkelnde Sterne... jetzt in warmer, nicht mehr in kalter Winternacht, setzte Siegbert hinzu. Diese Natur, sonst so verschlossen, wäre durch die Erinnerung und die Ahnung endlich aufgethaut gewesen und der Händedruck, den er den Freunden gegeben, als sie auf der Straße schieden, hätte etwas Krampfhaftes, ja tragisch Bedeutendes gehabt. Nur von Louis Armand mußten sie sich eingestehen, daß es ihm schwer wurde, sich von den unmittelbaren Aufforderungen der politischen Sachlage zu trennen und jetzt mehr für die Zukunft wirken zu sollen als für die ihm der dringendsten Beihülfe bedürftig erscheinende Gegenwart. Auch wär' er nach der Erzählung über Jagellona Werdeck plötzlich sonderbar zerstreut gewesen...
Aber du! Aber du! unterbrach Dankmar. Du kamst ja schon verstimmt und mit Gespensteraugen in die Sitzung...
Verstimmt nicht; nachdenkend!
Du hast etwas mit Olga gehabt?
Siegbert schwieg.
Wer sah es dem Mädchen nicht an? Diese Fröhlichkeit, als wir schieden! Ihr kamt zum Gesang der Trompetta und der Flottwitz als Nachzügler aus dem dunkeln Garten. Ich sah dir an, daß du zittertest. Olga glühte dagegen und hätte lieber selbst tanzen mögen, als Tänze spielen. Wie sie auf das Klavier schlug, merkt' ich, daß sie die gewaltigste Aufregung zu beherrschen suchte.
Die Situationen sind doch immer unser Fluch!
Aha! Die Raketen waren zerplatzt, die Leuchtkugeln flimmerten noch vor den Augen. Es wurde still. Das Herbstlaub raschelte an den Bäumen. Die Sterne funkelten. Zwei Herzen liegen aneinander und jubeln: Himmlischer, Sternengewaltiger, sieh herab auf deine kleinen Kinder! Wir wollen uns lieben wie die Lämmerchen, weil deine Erde so schön ist!
Siegbert nickte mit schmerzlichem Ausdruck.
Wenn es dich trösten kann, sagte Dankmar, so sag' ich dir, daß ich fast deinem Beispiele gefolgt wäre. Die blonde Reubündlerin ist doch eine schwärmerische Natur! Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich sie im Vorüberflug an mein Herz gezogen, ihr einen demokratischen Kuß gestohlen und ausgerufen: Soll uns denn unser politischer Glaube trennen? Ist Das das moderne Schicksal liebender Herzen, sich fliehen zu müssen wie die Capulet's die Montagues flohen?
Deine selbstgefällige Vergleichung mit Romeo tröstet mich nicht, sagte Siegbert nachdenklich. Du verräthst, daß mich nur eine Erregung der Sinne treiben konnte, Olga in die Arme zu schließen und ihre Lippen zu berühren...
Sinne! Sinne! Lieber Bruder, was sind die Sinne! Todte Diener! Elende Sklaven! Der Vollmachtgeber ist die Seele. Ich wenigstens fühle wirklich etwas für meine Reubündlerin. Ihr Auge ist feucht wie der See. Es zieht herab. Ihre Locken kann ich mir freier denken, hängender, weniger nach dem Lockenholz aufgerollt. Aber ihre Zähne sind ohne Widerrede schön. Die Lippen kirschroth...
Dankmar! unterbrach Siegbert. Du wirst ein solches Mädchen unglücklich machen. Ich hab' es wohl bemerkt, wie lange Fäden ihre Augen zu dir hinüber spannen! Fast verzehrt, fast lechzend nach Liebe! Du kommst mir wie einer der Religionsstifter vor! Alle zogen erst die Frauen an. Aber sie waren gewissenhafter als du und entsagten...
Ihr Wuchs ist untadelhaft –
Hörst du nicht?
Aufrichtig! betheuerte Dankmar. Sie zieht mich an und gerade deshalb, weil sie mein vollkommenstes Gegenbild ist. Sie hat etwas zerflossen Weibliches, wie ich es liebe. Die schönsten Weiber, Melanie an der Spitze, machen mir keinen dauernden Effekt. Ich war von Melanie auch nur geblendet. Ich bedurfte ihrer. Ich weidete mich an ihrer Haltlosigkeit, ihrer eitlen Hingebung. Ich war auf Augenblicke entzückt und habe mich doch so von ihr getrennt, daß ich sie mit der größten Ruhe ihrem Ziele, den Prinzen Egon nun wirklich noch zu erobern, zusteuern sehe.
In der That? Wäre Das jetzt... schaltete Siegbert voll Schmerz und doch überraschtem Antheil ein.
Melanie ist, seit wir ihr an dem Eisenbahndurchschnitt begegneten, sehr oft bei Pauline von Harder. Egon spricht mit Wärme von ihr...
Und Helene d'Azimont?
Bahnt ihrem Gewissen eine Brücke, um von der Verzweiflung über Egon sich zu neuem Leben wieder in eines Malers Armen zu sammeln...
Eines Malers? Heinrichson's? unterbrach Siegbert entrüstet, stand auf und ließ zuvörderst die Katze hinaus...
Du phantasirst! rief er dann schmerzergriffen über die Voraussetzung, daß menschliche Herzen solcher Lügen, solcher Irrthümer und Wandelungen fähig sein sollten.
Mein guter Bruder! sagte Dankmar. Psychologie und etwas Schädellehre! Die länglichen, schlanken Formen des Ledamalers kennst du...
Er wäre gewissenlos genug...
Die runden Formen der d'Azimont bedeuten Das, was die Menschen Gemüth nennen und was ich Leidenschaft und excentrische Gegensätze nenne. Bei einer gewissen Klasse von vornehmen Frauen ohnehin siegen erst Die, die ihnen ebenbürtig sind. Bei der ersten Furche auf der Stirn wählen sie einen berühmten Musiker zum Freunde, bei der zweiten einen berühmten Maler, und wenn es abwärts geht, findet sich wol noch irgendwo ein flammender Naturpoet, der für seine lyrischen Vokale einen Consonanten braucht. Guido Stromer mein' ich z. B. könnte noch bei Paulinen von Harder Glück machen und Heinrichson's Nachfolger werden.
Abscheulich! Abscheulich! rief Siegbert, mehr von den bizarren, menschenfeindlichen Ansichten des Bruders entrüstet, als an die Möglichkeit solcher Verbindungen glaubend.
Und Adele Wäsämskoi, fuhr Dankmar unbarmherzig fort, liebt die Fürstin nicht auch einen Maler? Warum sollte Helene d'Azimont nicht an Heinrich Heinrichson Ersatz für Egon –
Siegbert hielt dem grausamen Spötter den Mund zu. Er konnte seine Anschuldigung nicht vollenden.
Abscheulicher! sprach er dann voll ernsten Unwillens. Wie spielst du mit Frauenherzen! Irren diese schwachen Wesen, so sind sie bemitleidenswerth und die meiste Schuld trifft uns. Daß Egon Helenen nicht mehr liebt, ist wol gewiß. Es ist ein schmerzlicher Beweis der Umkehr seines Charakters. Diese Hingebung, diese Liebe Helenen's war ein Wunderwerk, eine Fabel, unglaublich und doch wahr. Lauschte sie nicht seinem Athemzuge, betete sie ihn nicht an? Was soll ein Weib beginnen, das nun einmal im Manne lebt und sich von der Seele des Geliebten dann ausgeschlossen sieht, nur angewiesen auf einen Pflichttheil der Achtung und öffentlichen Schonung! Kann man Helenen verdenken, daß sie Egon statt zu lieben, wird hassen lernen?
Und daß sie dem Prinzen einen berühmten Maler gegenüberstellt? sagte Dankmar.
Das ist nicht wahr! Verleumdung! Heinrichson zeichnet mit ihr die Erinnerungen an der See von Enghien, er übermalt ihre schwachen Leistungen, zu denen sie die Liebe spornte, ohne daß sie die Kraft besaß, Das, was ihr in voller Seligkeit der Erinnerung vorschwebte, zu vollenden. Er ist einschmeichelnd, das ist wahr, ist verführerisch, charakterlos. Ich zweifle nicht, daß er sich von seiner brillantesten Seite zeigt, sie mit Artigkeiten überhäuft, sie durch eine scheinbare Zurückhaltung verwirrt und durch seinen trockenen, zuweilen geistreichen Witz unterhält...
Nun... nun... und dem Allen widerstände ein beleidigtes Frauenherz und benutzte es nicht, um dem Treulosen zu zeigen: Sieh! Da weckt' ich doch noch neue Flammen!
Siegbert schauderte und blickte fast vernichtet zur Erde. Es war ein zu greller Schatten gewesen, den Dankmar da auf die Menschenseele fallen ließ.
Lieber Bruder, sagte Dankmar ruhig und ergriff Siegbert's Hand. Ich wünsche, daß ich mich immer täuschte, wo du anders und gläubiger siehst. Du siehst die Dinge schön und warum sollt' ich nicht wünschen, daß die Menschen gut, ihre Thaten schön sind! Aber kannst du leugnen, daß dich die Fürstin Wäsämskoi liebt, daß sie zittert, in deiner Nähe zu sein, daß sie Augen nur hat für dich, daß sie in Zorn geräth, wenn Olga dich eine Weile anblickt? Und du selbst, Siegbert, bist du frei von der Einwirkung dieses eigenthümlichen Verhältnisses? Es macht dich unlustig zur Arbeit! Du tändelst deine Zeit so hin! Du beginnst nichts Neues mehr, vollendest nichts Altes! Gestehe nur, daß es in deinem Innern bewegt und bunt genug aussieht.
Siegbert ging im Zimmer auf und ab. Er fühlte nur zu tief die Wahrheit dieser Vorwürfe und widersprach ihnen nicht.
Du hast Recht! sagte er leise und mit feuchten Augen und setzte sich neben den Bruder, das Haupt auf die alte Sophalehne stützend. Du hast Recht!... Rathe mir!
Liebst du die Fürstin? fragte Dankmar.
Siegbert antwortete nicht... schüttelte aber zuletzt entschieden sein ernstes Haupt.
Und Olga?
Siegbert schwieg wiederum und blickte zur Erde nieder.
Du hast vielleicht, fuhr Dankmar, um die drückende Stimmung zu erleichtern, scherzend fort, du hast vielleicht ein Gefühl wie ich gestern. Der Gegensatz reizt, die Ungleichartigkeit der Naturen stachelt?
Sage mir lieber, unterbrach Siegbert, was du empfindest, seit du weißt, daß der Knabe, der deinen so hochverehrten Ackermann begleitete, kein Knabe, sondern ein Mädchen ist?
Dankmar sah betroffen auf.
Du bist scharf, erwiderte er nach einer Weile. Ich glaube, wenn ich mich im Spiegel untersuchte, ich würde finden, daß ich erröthete. Bin ich roth geworden?
Blaß und marmorgelbgraukalt wie immer, sagte Siegbert vorwurfsvoll.
Dann lügt mein Gesicht! antwortete Dankmar. Ich kann mich an meine Freunde im Ullagrunde nie ohne tiefste Erregung gemahnt sehen. Ich sage gemahnt! Denn, wenn ich ihrer gedenke, ist's nicht Erinnerung nur, sondern wie Vorwurf.
Selma und Olga! sagte Siegbert. Was darf man für so beginnende, noch im grünen Kleide versteckte Knospen fühlen?
Ehrfurcht! sagte Dankmar. Heilige Scheu! Oft versink' ich in ein stilles Grübeln. Ich bin dann im Walde von Hohenberg, in der Ferne rauscht die Mühle, der Specht hackt im Baume, die Vögel singen, ich schreite mit Selma durch die junge Eichenschonung. Sie spricht ebenso heiter, so klar, so nachdenkend wie damals, als ich nicht wußte, welch' ein Zauber mich zu ihr zog. Wie mag Selmar als Mädchen sein? Ich träume davon. Wenn ich gearbeitet habe und aufblicke, steht sie vor mir in leichtem weißen Kleide. Sie ist immer um mich. Ich scherze schwesterlich mit ihr. Weißt du unser kleines Schwesterlein? Die holde Mechtild! Wie liebten wir sie! Wie herzten wir das liebe Kind und weinten, als es im Sarge lag mit Blumen bestreut! Selma ist mir wie Mechtild. Und wenn ich ihrer gedenke, so senken sich alle Spitzen meines Wesens, wie man die Waffen senkt, wenn man sich gefangen gibt. Ich denke dann an Nichts mehr von Dem, was mich so foltert und quält. Unser Streithandel, die Weltlage, die Zeitfragen, die Stiftung des Ordens... was ist das Alles, wenn ich an Selma denke! Sie kommt dann und nimmt mir Schild und Speer aus der Hand, sie legt das Schwert unter Blumen, entwaffnet mich ganz und sitzt dann auf meinem Schooß und herzt mich und küßt mich, ohne daß die Küsse mich erregen oder mir etwas Anderes bedeuten als eins ihrer traulich gesprochenen Worte. Selma! Wenn ich sie sehen könnte!
Du liebst sie, Bruder! sagte Siegbert in seine Nähe rückend. Wie kannst du von den Lippen Wilhelminen's von Flottwitz sprechen!
Aber! schaltete Dankmar rasch ein. Selma ist ein Kind, wie es Olga ist. Genug! Wir wollen vernünftig sein.
Er stand auf und wollte, seine Gefühle, wie er immer that, abschüttelnd, in die »Aula« gehen, als der Postbote eintrat und einen Brief brachte. Er kam von der Mutter. Siegbert las die sonst so feste Handschrift, die ihm heute schwankend schien. Die Mutter wird leidend sein! bemerkte Dankmar erschreckend.
Das verhüte Gott! sagte Siegbert und durchflog die Zeilen.
Sie klagte in der That. Auch ihr wollte der Aufenthalt in den großen kalten Räumen des alten Tempelhauses nicht bekommen. Sie sprach von der Rückkehr alter Leiden und beängstigte ihre Söhne so lebhaft, daß Siegbert sich die bittersten Vorwürfe machte.
Was haben Eltern von ihren Kindern, sagte er, wenn diese selbstständig geworden! Jedes Band ist da wie abgeschnitten! Der flügge Vogel ist aus dem Neste und denkt nicht mehr daran, zu den trauernden Alten zurückzukehren.
Dankmar, nicht minder bewegt, kleidete sich an und beruhigte den Bruder, daß es leicht möglich werden könnte, er müsse noch in diesem Herbste nach Angerode.
Ob ich nicht sogleich lieber selbst ginge? sagte Siegbert und wiederholte einige Stellen aus dem Briefe der Mutter, die ihm ganz besonders bedenklich schienen. Du weißt, daß sie nicht zu Denen gehört, die von sich selbst viel Aufhebens machen.
Sie beschlossen bei dieser Gelegenheit, die Mutter, wenn das Trauerjahr im Pfarrhause vorüber wäre, zu sich in die Residenz zu nehmen, wobei sie sich freilich nicht verschweigen konnten, daß sie ungern ihren Bitten nachgeben und den Aufenthalt innerhalb ihrer gewohnten kleinen Lebensbeziehungen vorziehen würde.
Auch Siegbert hatte sich angekleidet. Beide Brüder waren im Begriff auszugehen. Siegbert gedachte das Atelier zu besuchen und heute dort länger zu arbeiten, als er schon seit geraumer Zeit gewohnt war. Dankmar dagegen wollte auf's Gericht, um zu hören, ob der richterliche Senat die, wie er schon wußte, ihm ungünstige Entscheidung des Referenten bestätigt hätte. Es lag ihm daran, die genauere Ausführung des Urtheils zu hören und sich vorbereiten zu können, in zweiter Instanz neue Materialien zu sammeln.
Wie sie aus dem Hause traten, sahen sie Louis Armand hastig die Straße daher kommen. Schon in der Ferne zog er ein Zeitungsblatt aus der Rocktasche und hielt es in die Höhe.
Louis brachte die neueste Nummer des »Jahrhunderts«, das seit einiger Zeit auch in einer Morgenausgabe erschien.
Egon – fing er stammelnd an, ohne weiter sprechen zu können – Egon –
Die Brüder staunten über seine Erregung.
Das Ministerium hat abgedankt. Es hatte eine Differenz von funfzehn Stimmen gegen sich.
Aber der Fürst? fragte Siegbert.
Stimmte mit der Minorität, sagte Louis.
Ministeriell?
Mehr als ministeriell! Lesen Sie seine Motivirung!
Man trat in die offene Flur des nächsten Hauses, breitete die Zeitung auseinander und las:
» Fürst Hohenberg. Meine Herren, Sie wollen in dies Haus eine Ordnung einführen, die eine Tyrannei ist und allen Gesetzen des Anstandes widerspricht. Ich billige vollkommen, wenn Sie sagen, in diesem Hause wären Sie die Herren und die Herren Minister nur Ihre Gäste; ich theile durchaus nicht die Ansicht der Herren Minister, denen dies Verhältniß umzukehren beliebt. Allein, wer sich vorgesetzt hat, nur seinen eigensten Überzeugungen zu folgen, wird unfähig sein, sich in dieser Frage auf irgend einen Parteistandpunkt zu stellen. Die Minister haben Thatsachen zu vertreten, während Sie nur Meinungen. Ein Minister kann in jedem Augenblick in der Lage sein, einen neuen Brennstoff in die Debatte zu werfen...
Eine Stimme. Öl in's Feuer!
Fürst Hohenberg. Wohl! Mein Herr! Öl in's Feuer! Daß es lodere, daß es flamme, daß die Wahrheit heller erkannt werde! Und wenn hier ein Minister des Absolutismus oder ein Minister in der Blouse stünde, er müßte das Recht haben, die furchtbare und leider meist unwiderstehliche Kraft der ihm anvertrauten Thatsachen zu vertreten, zu geschweigen, meine Herren, daß die einfachsten Gesetze des Anstandes Demjenigen, den man bei sich eingeladen hat, das letzte Wort zuzugestehen. Ich stimme gegen den Antrag der Commission. (Bewegung. Bravo. Zischen.)«
Es ist acht Uhr, sagte Dankmar, nach einem Augenblick des Erstaunens rasch auflodernd, wollen wir Egon besuchen?
Ich muß es thun, sagte Louis; ich hab' ihm versprochen, Bericht zu erstatten von unserm gestrigen Abend, an dem er Antheil zu nehmen schien, als ich ihm davon erzählte. Wenn ihn irgend ein Gedanke ergreifen kann, so sollte es dieser hochherzige! Egon ist ja schon ein Ritter vom Geiste... denn Sie sehen, wie er sich vom Buchstaben der Partei lossagt.
Dieser Buchstabe, bemerkte Dankmar auf eine so zweifelnde, schmerzliche Wendung, ist leider in Übergangskrisen, wie wir sie jetzt erleben, der Geist selbst. Wer nicht die Kraft hat, selbst eine Partei zu bilden, muß sich bezwingen, die Zahl Derer, die ihm am verwandtesten denken, durch seine Zustimmung zu vergrößern. Die edelste Aufgabe meines Bundes wird auch die sein, die Kunst zu lehren und zu üben, Majoritäten zu bilden. Wir wollen zu Egon gehen.
Als die Freunde eine Seitengasse einschlugen, bestätigte Louis auf's neue, wieviel Sorgen ihm der hochgestellte Freund mache. Seit vierzehn Tagen schiene er an einem tiefen Kummer zu leiden und wäre nicht mehr der Alte. Leider hätte diese Verstimmung zur Folge, daß er alle seine alten Pläne aufgäbe und nur noch dem Ehrgeize lebe. Louis erzählte von Wiederherstellung eines verwitterten Wappens über seinem Palais, eine Unternehmung, die Siegbert noch mit den Worten entschuldigte: Warum soll er das Wappen vermodern lassen? Entweder mußte die steinerne Tafel ganz abgenommen oder restaurirt werden. Aber man hörte von Vermehrung der Bedienung, von neuen Livreen nach englischem Schnitte, von einer verschwenderischen Anwendung des Hohenberg'schen Wappens auf Briefcouverten, Büchern, Tellern, Pferdegeschirren u. s. w. Unsre Freunde gestanden sich, daß die sonst so demüthigen Blicke der Diener impertinent geworden waren. Die Wandstabler's, die sich schon anschickten, das Haus zu verlassen, rümpften die Nase, als wollten sie sagen: Unsre Zeit bricht wieder an! Die Art der Anmeldung bei Egon wäre umständlich, complizirt, erkältend, noch ehe man ihn sähe. Er erweise sich herzlich nach wie vor, aber er wäre zerstreut... oder ein Kummer drücke ihn, den Niemand errathen könne...
Man war bei dem Thema über Helene d'Azimont angekommen und schwieg. Der Weg zum Palais war noch nicht zurückgelegt. So knüpfte man an den gestrigen Abend an und Louis Armand sprach nun aus, was er gestern zurückgehalten hatte.
Also nur der Geist soll triumphiren? sagte er. Nur der Gedanke soll uns frei machen? Wir sollen uns also die Hand reichen über Länder und Völker hinweg? Anfangs, meine Freunde, fürchtete ich, die Idee der Ritter vom Geiste würde auf jene Sekte hinauskommen, die sich in Paris unter dem Namen der neuen Templer begründet hat. Ich war Zeuge einer Sitzung dieser neuen Templer. Es sind Affen alter Ceremonien, schwache eitle Copieen der Freimaurer. Sie scheinen keinen andern Zweck zu haben, als sich, wie auf der Maskerade, im Costüme des Mittelalters zu brüsten, gut zu essen, sich mit großen fabelhaften Titeln zu beladen, und alle diese Narrheiten entschuldigen und beschönigen sie dann mit einigen Phrasen über Menschenliebe, Wohlthätigkeit, den ewigen Frieden, die Fraternität der Nationen und die Ehrwürdigkeit aller Religionen! Mit Egon war ich bei einer dieser Sitzungen zugegen und schon damals sagte er: Das Streben, auf die überlieferte Ordnung, in der wir geboren werden, gleichsam eine neue zu pfropfen, die Ordnung einer eigenen Wahl, ist gewiß ehrenwerth, aber wie müßte es doch großartiger und heroischer ausgeführt werden!
Sagte er Das? Ich kenne die Statuten dieser neuen Pariser Templer, schaltete Dankmar ein.
Egon rief damals aus, fuhr Louis Armand fort: Welche Affen, welche Komödianten! Ich sehe mit klaren Augen die alten Templer auf dem geweihten Boden Palästina's mit den Sarazenen im Kampfe, Hugo des Payens schwingt sein tapfres Schwert, ich sehe Tausende hinsiechen an der Pest, ich sehe den Sturm auf Ptolomais und den Tod der letzten Ritter, die das Castell des Tempels vertheidigen, der Großmeister stirbt an einem vergifteten Pfeile – ich sehe Jakob von Molay in den Flammen, Hunderte ihm vorangehen, Hunderte folgen und nun da... diese Advokaten, Börsenmäkler, Banquiers, Quacksalber, Polizeiagenten, die setzen sich da in weißen Mänteln mit dem rothen Kreuz in befiederten Barets hin und essen Austern und Pasteten zum Zweck des allgemeinen Weltfriedens, der Bruderliebe und der Gleichartigkeit aller Religionen... pfui, welche Gemeinplätze und welche Possenreißer!
Siegbert sah unwillkürlich zu Dankmar hinüber und lächelte.
Beruhige dich, lieber Bruder! erwiderte dieser. Das gemeinschaftliche Essen ist ausdrücklich aus unsern Statuten verbannt. Die Ritter vom Geiste werden sogar in Betreff des Trinkens mäßiger sein müssen, als wir es gestern Abend waren. Ich spüre Kopfweh. Doch glaub' ich fast, es kommt von der Nähe des Palais da, das ich gar nicht mehr mit den alten frohen Empfindungen sehen kann, mit denen ich es sonst begrüßte. Sonst schien es mir die häßliche Raupenhülle eines Schmetterlings zu sein, jetzt gehört es zu dem Besitzer so organisch, so fast nothwendig hinzu, wie das Haus zur Schnecke.
Schon seit einigen Tagen begrüßten die Diener ihres Herrn Freunde nicht mehr mit der Furcht und Ehrerbietung wie sonst. Dankmar flüsterte den beiden Begleitern zu, daß es gut wäre, wol auch solche äußeren Zeichen zu beachten und sie bei Egon zur Sprache zu bringen. Nur Dorette Wandstabler, die Älteste, war besonnen und wußte sich zu beherrschen. Sie unterließ, als sie den Ankommenden auf der Treppe begegnete, nicht im geringsten die Beweise äußrer Achtung. Louis erhielt sogar von ihr im Vorbeigehen zugeflüstert, es wäre soeben vom Hofe ein Brief in Rosa-Umschlag angekommen. Ein Brief in Rosa-Umschlag, wisse sie noch vom alten Fürsten her, käme aus dem Cabinet des Königs.
Ein Brief vom König? bemerkte Louis und sah die Brüder fragend an.
Man wird seinen Rath begehren! sagte Siegbert.
Und Dankmar setzte hinzu:
Man wird ihm das Ministerium anbieten.
Indem hatte sie ein neuer Kammerdiener schon gemeldet und kam mit dem Bescheide, daß Sr. Durchlaucht sie bäte, eine Viertelstunde zu warten. Er zöge sich an. Sr. Majestät hätten ihn um zehn Uhr auf's Schloß beordert.
Die Freunde betrachteten sich bedeutungsvoll und harrten im Vorzimmer. Sie sprachen nichts. Es war ihnen, als wären sie im Begriff, von einer geliebten Person für ewig Abschied zu nehmen. Diese Bilder, Statüen, Vasen, die hier ringsum standen, hatten ihnen früher nur flüchtigen Eindruck gemacht. Es war ihnen immer gewesen, als wenn diese Gegenstände weit unter ihnen ständen. Heute blickte sie Alles vornehm und fast verachtend an. Eine alabasterne Tänzerin, auf einem Säulenpiedestal von Marmor, schien ihnen zu sagen: Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier? Der Geist des alten Generalfeldmarschalls spukte um sie her und wies ihnen mit ihrer nicht hierhergehörenden Gesinnung fast die Thür.
Endlich wurden sie vorgelassen...
Sie trafen Egon in gewähltester Toilette. Sein Haar war frisirt, der Kinnbart mit großer Sorgfalt behandelt. Es lag etwas Imponirendes in dieser schönen jugendlichen Gestalt, deren mit der Krankheit sehr hochgewordene Stirn recht den Denker verrieth. Die Augen waren ein wenig eingefallen, blitzten aber aus den tiefern schattigen Höhlen nur um so feuriger, voll Geist und Anregung hervor. Um den Mund lag unverkennbarer Muth und schnelle Entschlossenheit ausgeprägt, doch milderte ein gefälliges Lächeln den allzustrengen Ernst der Züge. Auf dem Frack glänzte zum erstenmale der Stern des Großkreuzes vom Verdienstorden, das ihm der König bei seiner ersten Vorstellung am Hofe, vor etwa zwölf Tagen, selbst mit den huldvollen Worten überreicht hatte: Er hätte sämmtliche einheimische Orden des großen Helden, seines Vaters, bei Seite gelegt, und hoffe, sie mit der Zeit einen nach dem andern dem Sohne wieder einhändigen zu können. Es war dies eine Artigkeit gewesen, durch die Egon zu Nichts verpflichtet wurde. Sie galt seinem Stande und gehörte fast zur Etikette einer solchen Präsentation.
Ich bin zum König gerufen, sagte Egon und begrüßte die Freunde wie sonst durch den alten Handschlag. Was habt Ihr beschlossen? Ich höre nichts mehr von Euren Plänen! Ihr feiert Weinlesen, seht Schwärmer prasseln, macht schönen Mädchen den Hof, während ich Armer den Dunst unsrer schlechten Ölbeleuchtung in der Kammer einathmen muß. Siegbert, wie geht es der kleinen Olga? Ihr Glücklichen! Sie und du, Dankmar... was seid Ihr beneidenswerth! Die eine Hälfte der schönen Welt spekulirt auf Eure Million und die andere tröstet sich, wenn es nichts damit ist, doch wenigstens mit zwei liebenswürdigen Männern kokettirt zu haben! Und Louis hat auch seine stillen Freuden und sieht lyrisch aus! Ich wette, er wetteifert schon wieder mit Béranger und Lamartine. Ihr seid nicht aufrichtig, Alle, Alle seid Ihr's nicht!
Vor dem neuen Minister des Innern, bemerkte Dankmar, wird man bald keine Geheimnisse mehr haben.
Egon blickte auf Dankmar mit einem eigenthümlichen, sichern, lächelnden Blick.
Glaubst du, sagte er nach einer Pause, glaubst du, lieber Freund, daß ich deshalb, weil ich gestern Abend einmal meiner eigenen Grille folgte, nun auch gleich die Grillen des Hofes wahrmachen werde?
Es ist gefährlich, eigene Grillen zu haben, bemerkte Dankmar mit kalter Ruhe. Wenn man sich von seinen Freunden trennt, werden die Feinde der Freunde immer glauben, einen Verbündeten zu haben.
Und sie werden sich täuschen in diesem Glauben, lieber Dankmar, sagte Egon ruhig. Ich glaube in der That, daß man die Absicht hat, mir heute um zehn Uhr im Schlosse ein Portefeuille anzubieten. Ich werde ein Programm stellen. Erlaubt man mir nach diesem Programm zu regieren, so werd' ich das Portefeuille annehmen!
Die Lage des Hofes, erwiderte Dankmar, ist nicht von der Art, ein Programm, wie du es mit Ehren nur stellen kannst, annehmen zu können.
Dies Wort verletzte Egon sichtlich. Doch behielt er seine Mienen in der Gewalt und fragte Siegbert und Louis, ob sie gemeinschaftlich frühstücken wollten?
Ich habe, sagte er launig, den Keller meines Vaters revidirt und gefunden, daß da unten viel Poesie versteckt lag. Wie ich die Etiketten las: Alicante, Xeres, Marsala, welche Vorstellungen weckt Das! Man fühlt sich in die Gegenden versetzt, wo diese gekelterten Trauben einst am Stocke hingen, man sieht das Ultramarin des südlichen Himmels, man hört die Woge des Meeres an den hohen steinigten Ufern branden und streckt sich unter Palmen- und Olivenbäumen hin und träumt dolce far niente.
Damit klingelte Egon und bestellte ein Frühstück.
Unten im Pavillon, sagte er. Aber rasch! rasch! Bringt, was Ihr zur Hand habt und Alicante und Xeres!
Der Kammerdiener flog.
Ich kann mir denken, sagte Egon, daß Euch meine gestrige Abstimmung überrascht hat. Ich kann mir aber nicht helfen. Ich muß so reden, wie ich fühle. Tretet nur einmal in eine dieser Vorberathungen der Parteien, hört diese blinde, tolle, sich überstürzende Hast der Menschen, die die Parole austheilen, ich wette, Ihr haltet es mit aller Eurer Überzeugung von der Nothwendigkeit, Partei halten zu müssen, nicht drei Tage aus. Ich hielt es vierzehn Tage aus. Aus der Partei der Linken bin ich ausgetreten.
Und welcher Seite des Centrums schließest du dich an? fragte Dankmar.
An keine.
Nicht einmal an den Club Justus? sagte Dankmar immer erregter.
An diesen am wenigsten, antwortete Egon. Was soll ich dasitzen und dies Durcheinander der Intriguen hören! Alles soll Taktik und immer Taktik sein, an die Thatsachen denkt Niemand. Sie sitzen und zählen Stimmen. Immer ist Einer unterwegs, der bald zu der, bald zu jener kleinen Fraktion läuft und ein Compromiß beantragt: gebt uns acht Stimmen für Das, so geben wir Euch acht Stimmen für Das... o pfui, ich habe diese Methode Politik zu treiben satt. Es ist ein kleiner Schacher, kein großer Handelsgeist, der dort herrscht. Ich will von heute an stimmen, wie ich denke.
Die Freunde konnten diesen Entschluß eigentlich doch nur billigen, befürchteten aber, daß sich Egon isoliren würde.
Nein, sagte Egon, es gibt Männer genug in der Kammer, die unter dem Druck der vorlauten Intrigue seufzen. Sie Alle sehnen sich nach Befreiung. Sie werden sich mit Freuden unter dem Banner schaaren, das irgend ein Retter der gesunden Vernunft aufsteckt. Ob ich dieser Retter sein werde, weiß ich nicht! Will man sich mir anschließen, wohlan, da ist meine Hand! Aufsuchen werd' ich Niemand!
Aristokratisch oder bequem? fragte Dankmar mit feinem Lächeln.
Egon schien an dieser Alternative keinen Anstoß zu nehmen. Im Gegentheil sagte er:
Entsinnst du dich unsres ersten Gespräches im Walde hinter dem Heidekrug?
Wohl! sagte Dankmar. Damals trugst du eine Blouse. Allerdings würde ich jetzt dieselben Ansichten, von einem Fürsten in gesterntem Fracke vorgetragen, vorsichtiger auffassen. Du protegirst die Zeitung: das Jahrhundert. Man nennt den Ton derselben doctrinair. Die Doctrinaire sind die Aristokraten der Idee.
Beruhige dich, Freund, erwiderte Egon, ich werde auch nicht mit den Professoren stimmen. In einer Zeit des Handelns ist Niemand überflüssiger als Der, der ewig nur räth und lehrt. Aber kommt! Kommt! Es ist bald neun Uhr! Wir gehen in den Pavillon!
Durch mehre Zimmer, Cabinete, einen Corridor und dann eine kleine Wendeltreppe herab führte Egon die Freunde nach jenem geheimnißvollen Pavillon seines Vaters. Niemals hatte er gern von diesem Orte gesprochen, die Freunde niemals veranlaßt, ihn zu besuchen. Heute sprach er von ihm wie von einer seiner gewöhnlichen Retraiten. Die Freunde folgten ihm in einer eigenen beklommenen Stimmung. Sie fühlten, es war zwischen ihnen und dem jungen Fürsten nicht mehr wie sonst. Die Unbefangenheit fehlte, der Duft des Verhältnisses war verflogen. Sie fühlten, daß er ihnen nicht wehthun, sie in ihren Grundsätzen nicht verletzen wollte, und nichts verletzte sie doch mehr, als gerade, daß sie sahen, wie er ihnen auswich und durch Artigkeiten und Scherze den tiefern Bruch zwischen ihnen zu verdecken suchte. Siegbert hatte noch den meisten Glauben, oder er fühlte in Dem, was ihn sonst drückte, nicht den Zwang dieser Scenen, denen er doch nur halb beiwohnte. Seine Phantasie weilte bei Olga, bei der Vorstellung, wie er ihr nun heute begegnen, ihr in's Auge sehen sollte! Louis war erschüttert. Dankmar verstimmt. Er stand sogar einige male auf der Wanderung nach dem Pavillon still, als ob er sich besänne, zu folgen und nicht besser thäte, sich heimlich zu entfernen.
Sie hatten die kleine Wendeltreppe hinter sich. Ein Bedienter, der an ihrem Fuße harrte, stieß zwei Thorflügel auf, die in ein Vestibül führten, das rings mit Blumen geschmückt war. Zwei Victorien von Bronze hielten den Eintretenden Kränze entgegen. Der Fußboden war mit bunten, dichtwollenen Teppichen belegt. Hinter den Victorien rauschte ein Vorhang auf von schwerem, rothem Sammet. Man befand sich in einer Rotunde. Rings an den Wänden Spiegel mit Goldleisten und neben ihnen Candelaber. An den Wänden eine einzige Ottomane rundum, unterbrochen nur von den Eingängen in kleine durch Vorhänge unterschiedene Cabinete.
Als sie über die schweren Teppiche hinschritten, sagte Egon:
Ich entsinne mich, daß Ihr zum ersten male hier seid! Seht da die Erfindungsgabe meines Vaters! Von der rechten Seite hier bis zur Linken ziehen sich kleine allerliebste Gemächer. Über jedem ist in Wachsmalerei angegeben, wozu die Bestimmung der Gemächer dienen soll. Hier über dem Vorhang der erschöpfte Mars. Amor nimmt ihm die Waffen ab. Es ist das Entrée eines Badezimmers, das sich hier nebenan befindet. Die badende Nymphe macht es kenntlich. Daneben sitzt Pan und bläst auf seiner Flöte, während Tritonen aus Hörnern Wasserstrahlen spritzen. Ich weiß nicht, welche Tändeleien für das dritte Cabinet bestimmt waren. Über jenes vierte seht Ihr Hebe mit der Kanne und einem Teller schweben. Wahrscheinlich ist in der Kanne Nektar und auf der Schale Ambrosia. Soviel weiß ich, daß in diesem vierten Cabinet vortrefflich gespeist worden ist und sich die Ambrosia als die Praxis eines guten Pariser Kochs zu erkennen gab. In dem fünften waltete die Nachmittagsruhe. Es ist das Cabinet der türkischen Pfeifen. Der talentvolle Künstler, der diese Medaillons über die Thüren malte, muß in Verlegenheit gewesen sein, die türkischen Pfeifen in den Kreis seiner mythologischen Allegorieen einzuführen und doch hat er sich sehr artig geholfen. Seht die drei schönen Mädchen, die über einem todten von Flammenglut umgebenen Knaben weinen und die Hände ausstrecken. Sie verwandeln sich eben in Pappeln und die Thränen, die ihnen entfallen, flimmern von dem gelben Schein des Knaben gelb...
Recht geschickt! sagte Siegbert. Der gelbe Knabe ist der soeben von der Sonne herabgestürzte Phaethon. Die Schwestern beweinen seinen Fall und verwandeln sich in Pappeln. Ihre Thränen, die in dem gelben Scheine des versengten von der Lichtmaterie des Sonnenballs gedörrten Phaethon gelb erscheinen, sind der Bernstein.
Richtig, fuhr Egon fort und diese Sage vom Ursprung des Bernsteins paßt in der That für ein Cabinet mit türkischen Pfeifen, deren Spitzen von Bernstein sind. Ich kenne den Maler nicht.
Es ist unser herrlicher Berg selbst, sagte Siegbert, der diese Wachsmalereien fertigte. Sie sind berühmt.
Ich bekomme Ehrfurcht vor dem Geschmack meines Vaters, des alten Haudegens. Seht da, das sechste Cabinet hat als Medaillon eine Nymphe, die sich im Wasser spiegelt und sich dabei selber kopirt, mit einer Stecknadel nämlich auf einem großen Feigenblatt, das ihr ein Satyr hinreicht. Seht den Satyr mit dem Feigenzweig! Wie zierlich und schalkhaft die ritzende Nadel auf dem Blatt! In diesem Cabinet sind Bildersammlungen, die ich Euch nicht zeigen mag. Und hier im siebenten und letzten Cabinet befindet sich sogar eine Bibliothek verbotener Bücher. Mein loyaler Papa war ein eifriger Sammler in diesem Fache der Literatur, das der Maler in jenem Medaillon kenntlich machte: Ein Faun sitzt und lehrt Amor schreiben. Der kleine Junge weint, weil die Feder vielleicht kritzelt oder ihm die Mühe zu sauer wird. Der Faun liest behaglich, was Amor geschrieben hat. Die beiden Tauben, die sich über dem Busch, wo die Schulscene passirt, schnäbeln, drücken das Thema der hier gesammelten wilden Literatur aus.
Inzwischen waren die Diener gekommen und hatten in das vierte Cabinet silberne Schüsseln, Körbe, Servirbreter, Flaschen getragen. Der Kammerdiener schlug den Vorhang zurück. Egon forderte die Freunde auf einzutreten.
Ein zierliches, behagliches Gemach umfing sie. Die kleine gedeckte Tafel in der Mitte widerstrahlte von Krystall und Silberzeug. Die nach außen zu unscheinbaren Fenster waren durch ein zweites Fenster verdeckt, das von innen vorgebogen werden konnte, ein Fenster von mattgeschliffenem Milchglase mit eingefugten Lithophanieen. Die Sessel waren außerordentlich bequem mit Lehnen von blau- und weißgestreiften Gurten. Von derselben Farbe waren ringsum Ottomanen. Ein Gemälde an der Wand erwies sich alsbald als Flötenuhr und spielte mit reingestimmtem Glockenton die Gnadenarie aus Robert dem Teufel. Der einfachere Charakter dieses kleinen Cabinets entsprach seiner Bestimmung; denn in einem Eßzimmer sollen die Sinne des Auges nicht durch eine überladene Staffage zerstreut werden.
Egon machte den Wirth mit gewohnter Freundlichkeit. Drei galonnirte Diener, schon in Bereitschaft mit nach Hofe zu fahren, servirten in weißen Handschuhen. Es war ein Ton in das Hauswesen gekommen, gegen den Egon früher selbst protestirt hatte und der sich nun seit etwa vierzehn Tagen von selbst verstand.
Seine Gäste aßen nur wenig. Sie machten sich Vorwürfe, ihn jetzt, wo er seine Gedanken zusammenzufassen hätte, noch aufzuhalten. Dankmar fragte ihn sogar, ob er das Programm schon fertig hätte...
Seit Jahren denk' ich darüber nach und schrieb es in zehn Minuten nieder! erwiderte Egon.
Und darf man nicht einen der Paragraphen erfahren?
Ich werde dem Hofe Bedingungen stellen, die er niemals eingehen kann. Denn leider haben diese bedrängten Machthaber schon eine solche Furcht, von der Sprache unsrer Tage abzuweichen, daß sie eher die Richtung, die sie selber fürchten, an's Ruder bringen als etwas Neues zu versuchen.
Dies vortreffliche Dejeuner, bemerkte Dankmar sarkastisch, ist wenigstens Bürgschaft, daß du keine so spartanischen Vorschläge machen wirst, wie ich zuweilen deinen Ideen abgelauscht habe. Welche Rolle wird denn in diesem Programm die vielbesprochene Arbeit spielen?
Dieselbe Arbeit, sagte Egon mit ruhigem Ernst, die ich immer pries, wird auch in meinem Programm die Hauptrolle haben. Ich kenne nur den Staat der Pflichten. Einer Zeit gegenüber, die nur ewig von den Rechten der Menschheit träumt, muß man es offen aussprechen, daß die Pflichten es sind, deren gewissenhafte Erfüllung allein die Rechte gewährleistet. Wenn Alles von seinen Rechten spricht, wo bleiben die Pflichten? Nur da, wo Jeder bereit ist, zu geben, was er geben muß, nur da kann ein freudiges Empfangen und ein reichliches ermöglicht werden. Das, was uns überliefert ist, ist des Menschen erste Lebensbedingung. Ich bin der Thor nicht, der da auftreten und das Unrecht deshalb vertheidigen wird, weil es überliefert ist. Dem Unrecht als solchem dien' ich nicht. Aber auch in dem überlieferten Unrecht liegt eine Menschenpflicht und ein Menschenrecht. Die Tradition ist die Aufgabe, die wir friedlich lösen sollen. Die Tradition ist das Chaos, das wir zu lichten, der Knoten, den wir zu entwirren haben. Wer darf auftreten und mit dem Schwerte alle diese Schwierigkeiten durchhauen? Ich verlange, daß man das Leben reformirt nach einer überlieferten Gestaltung, d. h. die Methode des neuen Lebens muß das Leben selber sein. Ich werde Jedem, der trotzig von seinem Rechte spricht, auch eine Pflicht entgegenhalten, dem Armen, wie dem Reichen, dem Niedrigen und dem Vornehmen.
Ich fürchte, bemerkte Dankmar unerschütterlich, daß diese Grundsätze dem Hofe und den kleinen Cirkeln, die am Ende doch Alles regieren, zu allgemein sein werden. Man wird ganz einfach den Verfassungsentwurf der frühern radikalen Ministerien nehmen und dich fragen, was du mit ihm zu thun gedenkst?
Ich bin auch darauf gefaßt, sagte Egon. Ich nehme diesen Verfassungsentwurf nicht an. Ich erkläre, ihn nicht vertheidigen zu können. Ich habe die Vorstellung von einer andern Urkunde unsres gesellschaftlichen Paktes. Von unten herauf, vom Zweck der gesitteten Gesellschaft aus, muß der Aufbau vollendet werden.
Damit wirst du den kleinen Cirkeln nicht gelegen kommen, bemerkte Dankmar fast erschrocken über diese Kühnheit. Diese wollen nur einen überlieferten historischen Staat, der in die traurige Lage gekommen ist, zu den schon berechtigten Gewalten eine neue Berechtigung, das Volk, mit hinzuzulassen. Man streitet dort nur über das Maß von Freiheiten, das man an die neuen stürmischen Dränger abzulassen gedenkt. Wenn du von der Überflüssigkeit z. B. einer ersten Kammer sprächest, würdest du sogleich bemerken, daß alle Hofdamen, die Euer Gespräch belauschen dürften, die Nase rümpfen werden.
Ich bin für eine erste Kammer, sagte Egon.
In der That? bemerkten erstaunt die Freunde.
Jede Frage verlangt eine doppelte Erwägung. Prometheus und Epimetheus, Das ist eine alte Wahrheit. Aber ich verwerfe das nur geschichtliche Element, das die erste Kammer bilden soll. Ich verlange von der Gesetzgebung zwei Instanzen. Die eine soll die der Interessen, die andere die der allgemeinen Freiheit sein. Um ein Beispiel zu geben, würd' ich gleichsam in die erste Kammer die Meister, in die zweite die Gesellen bringen. Unser ganzes Wirken ist aus den Faktoren des Besitzes und Erwerbes, des Stabilen und des Strebsamen zusammengesetzt. Ich verachte die Stabilität der Beamtenwelt, des Geldsackes, selbst die der Geburt einzelner vornehmer Geschlechter. Ich erkenne nur die Arbeit als das Princip des Staates an, schließe das Kapital als arbeitende Potenz, eine Lüge, völlig aus, anerkenne nirgendwo die todte Hand, auch die todte Hand des Besitzes nicht, ich anerkenne nur die lebendige, individuelle Arbeit. Meine erste Kammer besteht aus den Bevollmächtigten der positiven Interessen der einzelnen Arbeitsbranchen des Lebens, meine zweite aus den Bevollmächtigten gleichsam des arbeitgebenden Publikums. In der ersten wird gleichsam der Zunftzwang, in der zweiten die Gewerbfreiheit sitzen. Ich lasse nicht nach Ständen, Städten, Census und ähnlichen Unterscheidungen wählen, sondern in die erste Kammer nach den speziellen Thätigkeitsbranchen des Lebens, in die zweite nach dem öffentlichen Bedürfniß. Es ist möglich, daß in meiner zweiten Kammer Fürsten und Grafen, in meiner ersten Blousenmänner sitzen.
Das kommt auf Eins heraus, fiel Dankmar lächelnd ein. Man würde diese Einrichtung allenfalls bei Hofe und in Petersburg als einen Druckfehler entschuldigen können...
Doch nicht, lieber Freund, sagte Egon, sich bekämpfend. Das Wahlprincip der zweiten Kammer fass' ich numerisch. Das Publikum ist unbeschränkt. Nur einige Modificationen mit Ansiedlung und Bürgerrecht, sonst ist jedes Staatsglied Wähler. In die erste Kammer setz' ich Die, die die Träger des Staates sind, die fleißigen Hände. Erschrickt der Hof vor Pairs, die keine Glaçeehandschuhe tragen, so ist die Zeit dieser Ideen noch nicht gekommen und ich ziehe mich gern zurück, um das Chaos zu beobachten, bis unsre Zeit gekommen ist.
Louis und Siegbert waren von diesen Auseinandersetzungen überrascht und freuten sich der noch immer so stark in ihrem hochgestellten, nun zu so glänzender Laufbahn berufenen Freunde nachwirkenden alten volksthümlichen Einflüsse.
Dankmar aber äußerte sich entschieden zweifelnd und bemerkte:
Ich habe, mein verehrter Freund, seit ich dich kennen lernte und du mir einst sagtest, unter diesen Spiegeln und Kronenleuchtern würd' ich einmal noch in dein tiefstes Innere blicken, nie anders von dir gedacht als bedeutend und groß. Etwas Gewöhnliches wirst du niemals bieten. Allein ich fürchte sehr, daß sich bei dir eine alte Erfahrung bestätigt. Die Richtung der Zeit ist wie der reißende Strom eines Flusses, der aus einer seeartigen Breite plötzlich in engere Ufer tritt. Man wird fortgerissen. Die Zeit läßt sich durch einen Einzelnen nur in den seltensten Fällen bestimmen. Diese Begriffe von Links und Rechts, von Liberal und Conservativ sind in der That furchtbar einseitig, und jeder geistreiche Kopf, der positiv denkt und nicht von einer bloßen Manie der Neuerung getrieben wird, leidet unter der gegenseitigen Ausschließlichkeit dieser Antithesen; allein diese Antithesen sind einmal die größten Tyrannen unsrer Zeit. Man glaubt, sie beherrscht, ihre Klippen vermieden zu haben, und scheitert an ihnen. Die Umstände zwängen uns immer wieder in die alten Schattirungen: Schwarz oder Weiß! Licht oder Schatten! Und sieh! Wenn ich mir dächte...
Dankmar sprach nicht weiter; denn sie wurden unterbrochen. Einer der Bedienten brachte dem jungen Fürsten, den die Äußerung Dankmar's von dem Blick in die Vergangenheit unter den Spiegeln und Leuchtern dieses Pavillons ernster gestimmt hatte, ein zierliches Billet. Über der Methode, Briefe auf silbernen Tellern zu überreichen, hatte Egon früher selbst gelacht. Heute fand diese Abgabe ganz in dieser komischen Form statt.
Egon erbrach das Billet und schien zerstreut, verstimmt.
Die Gräfin sind selbst da! sagte der Bediente.
Nein! Nein! rief Egon. Ich bin unter meinen Freunden.
Ich sagte es...
Ich fahre zum König.
Eben deshalb, sagte die Gräfin.
O Gott! O Gott! schrie Egon auf. Er begleitete diesen Ruf mit Gebehrden wie ein wildes verwundetes Thier.
Er sprang auf und warf das Billet den Freunden hin, daß sie es lesen sollten.
Entschuldigt mich! sagte er. Lebt wohl!
Damit verschwand er, noch die Serviette in der Hand, die er zornig zerknitterte und unterwegs mitten in der großen Rotunde von sich warf.
Die plötzlich verlassenen Freunde ahnten, daß ihn die Gräfin d'Azimont abgerufen hatte.
Siegbert, dem das Billet am nächsten lag, nahm Anstand, es zu lesen.
Auch Louis meinte, er könnte nichts hören, was von dieser Hand käme.
Dankmar fand es wenigstens nicht erlaubt, das Briefchen liegen zu lassen.
Warum wollen wir einen letzten Beweis von Freundschaft, den wir noch von Egon empfingen, nicht ehrend entgegen nehmen? sagte er.
Die drei Freunde schwiegen erschüttert. Sie traten in die große Rotunde. Das von oben herabfallende Licht erhellte den Raum hinlänglich, um die kleinen zarten Schriftzüge lesen zu können. Sie lauteten:
»Ich sterbe! Du wühlst den Dolch in meiner Brust! Zertritt mich ganz! Sage mir nur, daß ich mich unter den Huf deiner Pferde werfe. Dann ist's doch aus! Aus! O Gott, schenke mir Wahnsinn! Tod oder Wahnsinn! Egon, ich beschwöre dich... sei Mensch! Entsetzlicher! Foltre mich nicht! Laß mich sterben! Morde mich! Nur Entschiedenheit! Erlösung, Licht, mindestens die Freiheit des Todes!«
Die drei Freunde sahen sich entsetzt an.
Sie fühlten, daß Dies der Verzweiflungsschrei einer Frau war, die ihr Alles an Egon gesetzt hatte und wahrscheinlich fühlte, daß sie ihm von keinem Werthe mehr war.
Die Genugthuung für Louis Armand hätte damit vollständig erreicht sein können, wenn sein fühlendes Herz eines so kalten Triumphes fähig gewesen wäre.
Arme Louison, sprach er, du hast nicht gewollt, daß der Genius der Liebe so dein Andenken rächt!
Und doch, sagte Siegbert, den diese Worte der Schwester Adelen's tief in's Herz schnitten, doch ist Egon vielleicht unglücklicher als Helene! Ein Weib geliebt haben und heraussein aus dem magnetischen Rapport, der in ihr noch voll und glühend nachwirkt, während man selbst erkältet, übersättigt ist... Das ist Qual! Man will nicht verwunden, man will nicht lügen... Man hat ein Herz und darf ihm nicht folgen... Armer Egon! Der Schmerz, mit dem er aufstand, war furchtbar, fast wahnsinnig.
Kommt! Kommt! sagte Dankmar. Die Luft dieses Pavillons, der Staub dieser Teppiche, das Lachen dieser Bilder, das Alles ist erstickend. An die frische Luft! Ich kann nicht mehr Athem schöpfen.
An der kleinen Treppe, die hinauf zu Egon führte, führte auch eine Thür gleich in den Hof. Dieser eilten sie zu und sogen die stärkende Oktoberluft wie Balsam ein. Es trieb sie fort, als brennte der Fußboden unter ihnen. Stürmende Gespenster schienen sie zu jagen. Sie sahen sich nicht um, sie flohen fast.
Auf der Straße rief ihnen eine Stimme nach.
Sie wandten sich um.
Es war Rudhard, an dem sie vorübergeschritten waren, ohne ihn zu sehen.
Nachdenklich, ruhig, stand er am Portal des Palais, auf einen Stock sich lehnend.
Er winkte Siegbert.
Siegbert bat die Freunde, einen Augenblick zu warten.
Als Siegbert sich Rudhard nahte, erschrak er fast über des alten Mannes ernstes, gemessenes Antlitz.
Ich wollte zu Egon, sagte Rudhard. Ich hörte, daß er nicht allein ist. Er fährt zum König. Er fliegt einem glänzenden Gestirne zu. Lieber Wildungen... ein Wort...
Siegbert ahnte etwas aus den Mienen des Greises.
Glauben Sie, daß ich Sie in mein Herz geschlossen habe, Siegbert? – fragte Rudhard mit einem nach Bestimmtheit ringenden, bewegten Tone.
Rudhard! antwortete Siegbert und ergriff seine Hand.
Ahnen Sie nichts, was ich Ihnen sagen muß... muß, mit widerstrebendem Herzen?
Rudhard ließ seine Augen, die wie immer klar und ruhig waren, eine Weile fragend auf Siegbert ruhen.
Siegbert's Blick füllte sich mit Thränen.
Ich weiß es, Rudhard, sagte er nach einigen Augenblicken der Sammlung. Ich habe einen Auftrag zu einer künstlerischen Aufgabe empfangen, die mich vorläufig auf einige Wochen von hier entfernen wird. Sagen Sie den Damen Ihres Hauses, den lieben Kindern, ein herzliches Lebewohl!
Rudhard drückte die Hand des jungen Mannes und sprach nur das Einzige:
Ich danke Ihnen dafür, Wildungen! Es war Ihrer würdig. Wir sehen uns wieder.
Siegbert wandte sich und Rudhard ging langsam zum Palais des Fürsten.
Als Siegbert zu seinen Begleitern zurück wollte, waren sie etwas vorausgegangen. Er konnte so noch Zeit finden, sich zu sammeln und die Thränen zu dämmen, die fast übermächtig in seine Augen schossen.
Louis und Dankmar standen an einer Straßenecke, wo sie sich zu trennen hatten. Siegbert überraschte die Freunde durch den Entschluß, nach Schönau zu gehen und den künstlerischen Vorschlag Gelbsattel's, den er erzählte, für den Sommer schon jetzt in Angriff zu nehmen. Auch Dankmar, der ihn fragend fixirte, sprach von der Möglichkeit, daß ihn die Entscheidung der ersten Instanz seines Processes zwingen würde, nach Angerode zu reisen.
Dann wünscht' ich vorläufig, daß wir den Proceß verloren hätten, sagte Siegbert. Der Mutter wegen – mein ganzes Herz fliegt ihr zu.
Louis, erschreckend, daß beide Brüder entschlossen waren, die Residenz zu verlassen, hoffte, sie wenigstens noch zu sehen, ehe sie reisten.
Siegbert wollte sich eben seinem Atelier, Dankmar dem Gerichtshofe, Louis seiner Werkstätte zuwenden, als ein Wagen an ihnen vorüberrasselte und sie aus dem Schlage gegrüßt wurden.
Es war Egon, der mit zwei Bedienten in voller Gala zum König fuhr.
Es schlug zehn von den Kirchthürmen.
Die Freunde trennten sich. Egon, der sich von einer Scene mit der Gräfin losgerissen haben mußte, hatte furchtbar ernst ausgesehen.