Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Sechzehntes Kapitel.

Krankheit.

Nach jenem Vor- und Unfalle in der Domkirche fiel ich, wie gesagt, in einen tiefen Schlaf, wobei die gespenstischen Träume, die mich vor dem Muttergottesbilde im Chorstuhle umwebt, sich fortspannen. Allmählich aber wurden sie lichter, ruhiger, und wenn ich hier und da die Augen öffnete, erschienen vor mir dickbäuchige und langhalsige Medizinflaschen, die alsdann in meinen Phantasien Ruhe predigend und das wilde Volk besänftigend wieder vorkamen. Diese Flaschen mit ihrem dunkelbraunen, fast schwarzen Saft und mit der weißen Etikette am Halse erschienen mir wie würdige Pfarrherren, vor dem bösen, wilden Volke predigend. Ich lag in der Stube bei meiner Tante, die ich auch vor meinem Eintritt in das Reißmehlsche Haus bewohnt hatte, und nach und nach übten die wohlbekannten alten Gerätschaften eine wohltätige Macht auf mich und führten mein Bewußtsein allmählich zurück. Von meinem Bett aus konnte ich die beiden Fenster der Stube sehen, vor denen Vorhänge hingen, die mit wunderbaren Landschaften bemalt waren. Aus dem einen Bilde erhob sich hinten ein großer Fels, welcher ein stattliches Schloß mit hohen Mauern und Türmen trug. Unten war ein breiter Fluß, auf welchem Leute in einem Nachen fuhren, und daneben zog sich zum Schlosse ein Hohlweg hinauf, auf dem eine Schar Ritter und Reisige, vollkommen geharnischt, einzog. Der andere Vorhang stellte einen anmutigen Talgrund vor, in welchem sich eine Mühle befand. Das Wasser sprühte über das Wehr hinab, und das Rad der Mühle war so natürlich dargestellt, daß man glauben konnte, es drehe sich wirklich um. Im Fenster lag der Müller mit einer spitzen Mütze auf dem Kopfe und rauchte aus einer kurzen Pfeife. Vor der Mühle war ein Garten, in welchem ein paar Kinder spielten, und diese stille Szene umzog dichter, finsterer Hochwald, vor welchem hier und da ein Hirsch oder ein Reh stand.

Auf diesen Gemälden kannte ich jeden Stein und jeden Baum; ich wußte sogar mehr, als wirklich darauf zu sehen war. Dort, wo sich nach dem Schlosse hinauf der Hohlweg hinter dem Berge verlor, sah ich im Geiste ganz deutlich die Fortsetzung desselben. Dort zogen schon andere Heerhaufen dem zurückkehrenden Ritter voran. Und wie ich mir die Aussicht von den Zinnen der Burg droben und das dahinterliegende Tal malte – etwas Schöneres konnte es auf der ganzen Erde nicht geben. Viel lieber aber war mir die Mühle; für sie hatte ich aus den Erzählungen meiner Tante einen reellen Anhaltspunkt, den ich nach Belieben ausmalen konnte.

Schon oft hatte sie nämlich von einem Vetter erzählt, der, einige Meilen von der Stadt entfernt, tief im Walde eine Mühle besaß. Meine Tante, die sich in ihrer Jugend dort zuweilen wochenlang aufgehalten hatte, wußte vom stillen Leben im Tale so viel Trauliches zu erzählen, daß meine Sehnsucht, die dunkeln Eichenwälder zu durchwandern und den Hirschen und Rehen zuzuschauen, nicht gering war. Wenn ich den Vorhang mit der Mühle anschaute, so war es mir, als sei ich schon dort, ich durchwanderte das ganze Haus, setzte mich an das sprühende Mühlrad und konnte mit dem alten Müller dort im Fenster die vernünftigsten Gespräche führen. Schon bei einer früheren Krankheit waren diese beiden Vorhänge eine bedeutende Ressource für mich gewesen. Ich konnte mich bei der Ritterburg in romantische Träumereien einwiegen, mich in höhere Sphären versteigen, und stieg dann bei der Mühle wieder zur Wirklichkeit herab. Auch jetzt, sobald ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte, waren die beiden Landschaften das einzige, womit ich mich unterhalten mochte. Den mich umgebenden Personen, obgleich ich sie wohl erkannte, schenkte ich wenig Aufmerksamkeit; ich war zu schwach und angegriffen dazu, und wenn ich einige Minuten lang in meinen Landschaften spazieren gegangen war, schloß ich die Augen und schlief sachte wieder ein.

Daß alle Mitglieder des Hauses meiner Tante sowie alle Gevatterinnen und nächsten Bekannten an meinem Schicksal innigen Anteil nahmen, kann man sich vorstellen. Die Großmutter hatte, was wohl seit zehn Jahren nicht vorgekommen war, ihren Tisch und Stuhl mit dem kattunenen Kissen von ihrer Stelle rücken und zu mir heraufbringen lassen. Ja, sie war förmlich mit der silbernen Brille des französischen Generals und der kleinen Tabakdose der seligen Gräfin ausgewandert, und nicht zu vergessen ihr Staatsarchiv, das sie unter dem Arme trug, hatte sie sich förmlich bei mir oben einquartiert. Es versteht sich von selbst, daß sie, als Haupt des Hauses, die ganze weibliche Einwohnerschaft nach sich zog und um sich versammelte. Durch diese ihre Aufopferung hatte meine Krankheit erst eine rechte Wichtigkeit bekommen. Die Schneiderswitwe, die zur Miete im dritten Stock wohnte, sowie die Frau des Schusters, der im Hintergebäude sein Leder verklopfte, waren täglich da, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, zarte Aufmerksamkeiten, die neben meinem Leben wohl dem guten Kaffee und den feinen Likören galten, welche meine Tante bei solchen Veranlassungen freigebig spendete.

Wenn ich bis jetzt bei diesen Krankenbesuchen der Jungfer Schmiedin nicht gedachte, so möge man es mir nicht als Undank gegen diese würdige Person auslegen, vielmehr muß ich ihrer aufopfernden Tätigkeit mit einigen Worten extra gedenken. Als ich sie nach meinem Delirium zum erstenmal wiedererkannte – ich hatte der Burg sowie der Mühle eben einen kleinen Besuch abgestattet – da stand die Schmiedin am Fußende des Bettes mit einer umfangreichen Medizinflasche in der einen und einem silbernen Löffel in der andern Hand, wobei sie mich stumm betrachtete. Mir schien, als habe sich die Jungfer Schmiedin sehr verändert, sie sah auffallend blaß aus, und ihre Toilette, die namentlich, was Hauben anbetraf, immer äußerst sauber war, kam mir heute gar nicht so geordnet vor, wie sonst. Ach, ich wußte nicht, daß es Spuren der vergangenen Nacht waren, in welcher die Jungfer Schmiedin bei mir am Bette gewacht! Großmutter thronte am Tisch in stiller Majestät und wandte jetzt den Kopf nach meinem Bette, wobei sie die Brille etwas zurechtschob.

»Aber, Schmiedin,« sagte sie, »jedes Ding hat seine Zeit; jetzt fehlt ja noch eine ganze Viertelstunde an drei Uhr.« – »Ach, Frau Pastorin,« antwortete jene, und ich konnte trotz meiner halb geschlossenen Augen sehen, wie ihr Blick von Tränen feucht wurde, »lassen Sie mich doch! Die paar Minuten steh' ich gerne so, damit die Medizin genau zur rechten Zeit genommen wird, denn das hat der Herr Doktor ausdrücklich befohlen.« – »Wem nicht zu raten, dem ist nicht zu helfen,« brummte die Großmutter, und ich schlief nach dieser Szene wieder ein.

So oft ich am Tage wieder erwachte, und auch meistens in der Nacht, war die Schmiedin da und schaute mich wehmütig an. Zu meiner großen Schande muß ich gestehen, daß ich nicht viel gute Worte für die arme Person hatte, sie vielmehr eines Tages sehr beleidigte. In gesunden Tagen hatte mich ihr weinerliches Wesen sehr gerührt, und da es meistens mit meinen Interessen Hand in Hand ging, so mochte ich es wohl leiden; aber ich weiß nicht, woher es kam, daß ihr ewig kummervolles Gesicht sowie ihre Tränenfluten jetzt, da ich im Bett lag, einen unangenehmen Eindruck auf mich machten. Genug, ich sagte es eines Tages der Großmutter, die mir ruhig erwiderte: »Gewohnheiten, böse Gewohnheiten!« und es der Schmiedin wiedererzählte. Später erst hat mir die gute Person vertraut, wie furchtbar ich sie damit gekränkt; der Großmutter aber antwortete sie, während ihre Tränen an Nase, Kinn und Halstuch kleine Wasserfälle bildeten: »O, Frau Pastorin, von Natur bin ich vom festesten Charakter, den nichts zu erschüttern vermag; aber wenn dem Kinde, das ich von Geburt an gepflegt, etwas Leides geschieht, da muß ich weinen, und wenn es unser Herrgott verböte.« – Daß ihr die Großmutter über die letztere unchristliche Aeußerung den Text las, kann man sich denken; aber den Vorwurf über ihre Weinerlichkeit hatte sie sich gemerkt und gab mir später in meinem Bett viel Stoff zur Heiterkeit. Die merkwürdigen Gesichter, welche die Schmiedin von jetzt an schnitt, um das Weinen zu verbeißen und lächelnd auszusehen, hätten einen Todkranken lustig stimmen müssen.

In der Reißmehlschen Angelegenheit hatte ich der Schmiedin wieder sehr viel zu verdanken: sie brachte im weiblichen Kollegium, das sich täglich in meinem Zimmer versammelte, mit unerschütterlicher Kaltblütigkeit die fürchterlichsten Anklagen gegen den Prinzipal, gegen Philipp und namentlich gegen Jungfer Barbara vor, und motivierte dieselben aufs glänzendste, so daß selbst die Großmutter gestehen mußte: ja, es sei nicht das rechte Haus gewesen. – »Ach, Frau Pastorin,« schluchzte die Schmiedin mit trockenen Augen, »ich hab' es ja immer gesagt, die Jungfer Barbara ist eine bösartige Person, und das arme Kind in dem finsteren, unheimlichen Hause – nein, das war nicht zum Aushalten!« – »Ja, ja,« wiederholten meine Tanten, die Schneiders und die Schustersfrau unisono, »das war nicht zum Aushalten!«

Mein Vormund aber, der mich von den Geschäften in seiner finstern Kanzleistube gar ziemlich genau zu kennen die Ehre hatte, mochte nicht ganz dieser Meinung sein. Er hatte der Großmutter einen langen Brief geschrieben, aus dem man mir in betreff meiner nur die schonendsten, zartesten Stellen mitteilte, aus denen ich aber entnahm, daß noch ein ziemliches Gewitter für mich im Anzuge sei, das, wie es am Schlusse des Briefes hieß, wahrscheinlich in der Person des Onkels und Vormundes nächster Tage anrücken werde.

Bei der sorgfältigen Behandlung, die man mir angedeihen ließ, machte ich in meiner Gesundheit rasche Fortschritte, und ich hatte noch nicht ganze vier Tage im Bette zugebracht, so erklärte mich der Doktor außer Gefahr und verordnete mir stärkende Suppen, ein Thema, das bei dem weiblichen Personal zu nicht wenig Streitigkeiten Anlaß gab. Der Arzt, ein dicker, gemütlicher Herr – er trug immer einen blauen Frack und eine weiße, hohe Halsbinde – saß alsdann vor meinem Bett und leitete die stürmische Sitzung.

»Ach, Herr Doktor,« jammerte die Schmiedin, »ich bin nun einmal für die Weinsuppe; ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, daß auf einen geschwächten Magen die Weinsuppe . . .« – »Ja,« unterbrach sie die Schustersfrau; »Weinsuppe mit Rosinen . . .« – »Was, Weinsuppe!« fiel meine Großmutter ein, »eine gute Fleischbrühe ist viel kräftiger« – »oder ein zartes, junges Huhn,« setzte die verwitwete Schneiderin hinzu.

Und nun begannen die Parteien zu streiten; man hörte die Vorzüge der Weinsuppe und Fleischbrühe aufs heftigste verteidigen. Der Doktor hatte alsdann seinen Stock zwischen die Beine gestellt, den Kopf darauf gestützt, und sah lächelnd die Parteien an. Er war ein kluger Mann, der Doktor, und bei solchen Gelegenheiten handelte er höchst selten streng durchgreifend, er wartete mit Ruhe den Schluß der Verhandlungen ab und sagte alsdann seine Meinung, die natürlich die Oberhand behielt. Wenn so etwa die äußerste Rechte in der Person der Großmutter die Motion für Fleischbrühe glücklich durchgebracht hatte, und die Schmiedin als äußerste Linke noch ihre einzige Hoffnung auf den Doktor setzte, erhob sich dieser stillschweigend, fühlte mir nochmals an den Puls und sagte ruhig: »Liebe Frau Pastorin, mir scheint, wenn Sie dem Jungen einen tüchtigen Gerstenschleim machen ließen, das wäre das beste.« – »Ja, ja,« jauchzte die Schmiedin, um doch nicht unrecht zu behalten, »Weinsuppe oder Gerstenschleim! doch ist das letztere besser!« Und der Doktor entfernte sich lachend.

Mein würdiger Prinzipal, Herr Reißmehl, hatte sich trotz all den Unbilden, die ich ihm zugefügt, doch zuweilen nach meinem Befinden erkundigen lassen, sogar, wie die Sage aus dem Munde unserer Hausmagd lautete, war eines Nachmittags eine schauerliche Gestalt erschienen, deren Aeußeres, wie sie beschrieben wurde, viel Aehnlichkeit mit Philipp hatte. Ich hätte alle die Besuche darum gegeben, wenn ich nur über das Schicksal meines Freundes Burbus etwas hätte erfahren können. Daß er noch in der Stadt war, mußte ich glauben; er hatte mir ja feierlich versprochen, mich vor seiner Abreise heimzusuchen. Mir war der Doktor wirklich lieb; im Gegensatz zu den dürren, trostlosen Steppen des Reißmehlschen Hauses erschien mir mein Freund wie ein saftiger Rasenplatz, auf dem freilich viel Unkraut wucherte. Neben meiner Freundschaft für ihn quälte es mich auch, etwas über die Laternengeschichte zu erfahren. Wenn ich an das Polizeigericht dachte, überlief es mich kalt, und ich sah den armen Doktor schon im Geiste in den Krallen der heiligen Hermandad. Unter diesen Umständen war es mir ein Bedürfnis, seine Freundschaft für mich den Meinigen gegenüber ins hellste Licht zu setzen. Zuerst eroberte ich das Herz der Schmiedin zugunsten des Doktors; die Schmiedin influierte sofort auf die Tante, und es gelang, sogar die Großmutter etwas Weniges für ihn einzunehmen. Bei der alten Frau aber tat der Name mehr, als was ich von seiner Persönlichkeit zu erzählen wußte.

»Burbus!« sagte sie, und nahm eine Prise aus der gräflichen Dose; »Burbus!« wiederholte sie, und schob die Brille des alten Generals in die Höhe, wie sie immer zu tun pflegte, wenn sie nachdachte. – »Mama,« sagte die Tante, »erinnern Sie sich? Burbus, so hieß der alte Müller, von dem Vetter Lamprecht die Mühle kaufte.« – »Ganz recht,« sagte die Großmutter nachdenklich; »ich habe ihn mit meinem Mann selig oft besucht. Jawohl, jawohl, die Mühle gehörte auch zu unserem Pfarrdorf; wird wohl der Burbus sein.« – »Gewiß!« rief ich, »er hat mir einmal erzählt, sein Vater sei Müller gewesen.« – »Auch erinnere ich mich,« fuhr die Großmutter fort, »damals einen kleinen, pausbackigen Jungen gesehen zu haben, der vor der Tür spielte.« – »Ja, Großmutter,« sagte ich, »das wird er wohl gewesen sein.« – »Und jetzt, jetzt geht es ihm so schlecht!« seufzte die Schmiedin dazwischen. »Das arme, arme Kind!« – »Bitt' Sie, Schmiedin!« rief die Großmutter etwas ärgerlich, »fang' Sie nicht wieder an zu lamentieren! Was Kind! Das sind jetzt dreißig Jahre her.« – Die Schmiedin legte die Hand aufs Herz und schwieg mit einem Blicke still, der deutlich sagte: Warum hat mich der liebe Herrgott so zartfühlend geschaffen!


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