Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Hinaus in die Welt.

Mit dieser trostreichen Epistel war nun unter meine stille und friedliche Mühlenidylle ein dicker, schwarzer Strich gezogen und, was jenseits desselben lag, der duftige Wald, die frische, herrliche Luft, das sprudelnde Wasser und die einsame Mühle mit den lieben, freundlichem Menschen darin, zu einem Traumbild geworden, das mir gemach und langsam entschwebte und das ich schon jetzt, obgleich ich noch mitten darin war, kaum mehr festzuhalten vermochte. Vor mir dehnte sich aber eine weite, traurige Heide aus, bevölkert mit Reißmehlschen Gestalten, und fern am Horizont schwebte das Bild des Freundes, meines teuren Doktor Burbus, von dem seit seiner Abreise keiner von uns eine Silbe vernommen.

So kam mein letzter Tag und meine letzte Nacht auf der Mühle; das Geklapper der Räder, das mich sonst in Schlaf gewiegt, ließ mich heute kein Auge zutun, das Rauschen des Mühlbachs, das bisher mit seinen einförmigen Tönen glänzende Traumbilder in meinen Schlummer zeichnete, war mir heute nacht das Tosen des Weltstroms, der mich vom friedlichen Ufergestade hinweg in die wilden Wogen des Lebens fortreißen wollte, und zu mir sprach: »Schwimme oder geh' unter!«

Am andern Morgen nahm alles den herzlichsten Abschied von mir, der Vetter drückte mir die Hand und sagte: »Wenn du einmal Urlaub bekommst, so besuche uns, es wird uns jederzeit freuen, nur mußt du vorher in deinem neuen Geschäft mindestens ein ganzes Jahr ausgehalten haben.« Die Nichte konnte nicht viel sprechen, und als Sibylle mich zum Abschied herzlich küßte, und als ich fühlte, wie ihre warmen Tränen an meinem Gesicht herabliefen, brach meine Standhaftigkeit, die ich bis jetzt bewahrt, und unter den heftigsten Tränen eilte ich, so schnell ich konnte, das Tal hinauf. Franz und Elsbeth hatten sich nicht gezeigt, sie vermochten es wohl nicht über sich zu bringen, mich ein feuchtes Auge sehen zu lassen; und so schieden wir ohne Gruß und Händedruck, nur Kaspar schwenkte seine weiße Mütze zum Fenster hinaus.

Es war ein schöner Herbstmorgen, und je mehr ich die Talschlucht hinaufkam, um so klarer schien mir der Himmel, dessen blaues Bild drunten in der Schlucht dichte Nebel verdeckt hatten. Das Moos und Gras zu meinen Füßen glänzte und strahlte in tausend Lichtpunkten, Gesträuche und Bäume waren mit Tautropfen, wie mit unzähligen Juwelen bedeckt. Bei dem alten Kreuze auf der Höhe stand ich still und setzte mich auf den verwitterten Stein. Da lag der Talkessel vor mir, aber ich konnte nichts in demselben unterscheiden, denn die glänzende, klare Sonne, die aufstieg, drückte den Nebel dort hinab, und die Schlucht sah aus wie ein Gebirgssee mit grauem Wasser, für mich ein Zaubersee, denn dort unten auf dem Grund versenkt, lagen die Orte, wo ich zum erstenmal seit meiner frühesten Kindheit wieder vollkommen fröhliche, harmlose Stunden genossen.

So war ich denn hinausgestoßen aus dem Zaubergrunde und stand auf der Höhe, ein armes, verlassenes Kind. Lange blieb ich bei dem alten Kreuze und schwankte heftig in meinen Entschlüssen, mehrmals war ich im Begriff, wieder zur Mühle hinabzusteigen und den Vetter zu bitten, er möge mich als Müllerbursche annehmen und für immer dabehalten. Was kümmerte mich die geräuschvolle, glänzende Welt, die draußen lag! Ich kannte sie ja noch nicht, und es schauerte mich, von dem Strudel derselben fortgerissen zu werden. Wenn ich in späteren Jahren weite Länderstrecken durchflog und nach langem Fahren, namentlich zur Nachtzeit, ein einsames Gehöft oder einen Talgrund mit einer Mühle, wie diese, erreichte, so begriff ich nicht mehr, wie man so abgeschieden von der Welt, zufrieden und glücklich sein könne; ich begriff es aber nur solange nicht, bis die Erinnerung an die heutige Stunde bei dem alten Kreuz wieder lebhaft in mir auftauchte! Dann dachte ich anders, und oftmals sagte ich mir später noch im Geräusch der großen Welt wie heute an dem stillen Herbstmorgen: wenn du einmal recht alt geworden bist und von vielem Schaffen und Arbeiten recht müde, dann gehst du zurück, langsam hinab in das Tal und lebst da, vergessen und vergessend, den Rest deines Lebens. Diesem Entschluß verdankte ich den schnellen Abschied, den ich von der mir lieb gewordenen Gegend nahm, und daß ich nun ruhig und rüstig daraus los schritt, um E. noch bei guter Zeit zu erreichen. Abenteuer, wie damals, als ich mit Doktor Burbus aus der Stadt zog, erlebte ich keine, ich suchte sie ja nicht; das einzige, das mir Außergewöhnliches aufstieß, war ein freundlicher Kondukteur, der, in seinem Wagen allein sitzend, einen langen Berg hinauffuhr; die Pferde gingen im Schritt, wedelten mit ihren Schweifen die Fliegen von sich ab und ließen die Ohren hängen. Es war recht warm geworden; der Kondukteur aber lud mich ein, zu ihm hinaufzusitzen und eine Stunde mit ihm zu fahren. Auf mein eingewendetes Bedenken, daß ich nicht viel Geld habe, um ihn zu bezahlen, lachte er mich aus und meinte, ich solle nur zu ihm hinaufsitzen. Das tat ich auch alsbald und befand mich in den weichen Kissen des Wagens recht wohl. Der Kondukteur war schon ein ältlicher Mann von derbem, gutmütigem Wesen, ein alter Soldat, hatte als Wachtmeister bei den Husaren gedient, und war deshalb schon für mich eine hohe und wichtige Person. Auf meine Frage nach militärischen Verhältnissen ließ er mich viel Unangenehmes vom Gamaschendienst vernehmen, und teilte mir aus dem Soldatenleben manches mit, was gerade nicht sehr reizend war und mich in den festgefaßten Vorsätzen bestärkte, von jetzt an mit Fleiß und Aufmerksamkeit zu arbeiten, um nicht einmal, wie mir der Vormund angedroht hatte, genötigt zu sein, zum Kalbfell zu schwören, d. h. Soldat zu werden. Nachdem wir die vor uns liegende Höhe erreicht hatten, ließ mich der Kondukteur absteigen und zeigte mir, nicht weit entfernt, die Türme von E., das Ziel meiner Reise. Ich nahm von dem freundlichen Manne Abschied und schritt rüstig den Berg hinab, meiner neuen Bestimmung entgegen; lustig fuhr der Postwagen voraus, eine Zeitlang sah ich noch die trabenden Pferde und dann nichts mehr als eine Staubwolke.

E., eine reiche Fabrikstadt, hatte ein ganz anderes Ansehen als C., die einzige große Stadt, die ich bis jetzt gekannt. Dort ragten mächtige gotische Türme und alte, schwärzliche Bauwerke aller Art über die Spitzen verschnörkelter Giebeldächer der hohen Bürgerhäuser aus früheren Jahrhunderten empor, hier sah man hohe und spitze Kirchtürme, mit grauem Schiefer gedeckt, ungeheure, seltsame Schornsteine, große Gebäude mit unzähligen Fenstern, und alles schien jung und neu, alles mit weißem und hellem Anstrich und frischen, grünen Fensterladen. Ueberall stieg Dampf auf, aus den Schornsteinen schwärzlichgrau, wie ich es bei den Dampfbooten gesehen, und daneben anderer schneeweiß. Und wie das in den Straßen, welche ich schüchtern durchwandelte, summte und wogte! Hier rasselte und klapperte es, dort rauschten große Wasser, und als ich zu einem der Häuser hinblickte, sah ich Hunderte von Rädern und Rädchen sich unaufhaltsam und pfeilgeschwind drehen, daß mir fast schwindlig wurde. Dazu hatten die Straßen einen so eigentümlichen, scharfen Geruch, namentlich an dem Fluß, über dessen Brücke ich dahinschritt, und wo unter mir viele Menschen beschäftigt waren, rote und farbige Stoffe abzuwaschen; das Wasser war ganz gefärbt davon. Große Wagenzüge begegneten mir, mit Warenballen und Kohlen beladen.

Ich war in einer ganz neuen Welt und zog als einzigen Rettungsanker meinen Brief an den Vetter aus der Tasche und befragte um das Haus, wo er wohl wohnen könnte, mit abgezogenem Hut mehrere Leute, die mir begegneten. Die meisten kannten den Herrn Professor nicht, endlich fand ich aber einen freundlichen Mann, der mich mit sich nahm durch unendlich lange Straßen, um mir das Haus meines Vetters zu zeigen. Schon hatte ich gefürchtet, er möchte auch in der Nähe einer so klappernden und zischenden Fabrik wohnen und war um so angenehmer überrascht, als mir mein Begleiter auf einer sanften Anhöhe vor der Stadt ein kleines, gelbes Haus zwischen grünen Bäumen zeigte und mich dort hinaufwies.

Mit klopfendem Herzen stieg ich einen kleinen Weg hinan und befand mich in kurzer Zeit vor einer Gittertür, wo ich bescheidentlich die Glocke zog. Eine ältliche Frau mit klugem, freundlichem Wesen und sanften, hellen Augen öffnete mir die Tür und fragte nach meinem Begehr. Mir war, als hätte ich die Frau schon irgendwo gesehen, aber soviel ich mich auch bemühte, eine deutliche Erinnerung hervorzurufen, wollte es mir nicht gelingen. Ich zeigte meinen Brief, die Frau lud mich ein, in den kleinen Garten zu treten, der das Haus umgab, und fragte ein junges Mädchen, das beschäftigt war, allerlei Blumen und Pflanzen zu begießen: »Wo ist der Vater?« Die kleine Person schaute einen Augenblick von ihrer Arbeit auf und sah mich befremdend an. Sie hatte dieselben klaren und freundlichen Augen wie die alte Frau, und antwortete: »Papa ist in seinem Zimmer und sitzt spazieren.« Dieses Mädchen war mir ebenfalls nicht unbekannt; doch wo ich ihr begegnet war, wollte mir, wie schon gesagt, nicht einfallen.

Die Frau nahm mir den Brief ab und ging damit ins Haus, kam aber bald darauf lachend wieder, reichte mir die Hand und sagte freundlich: »Ich freue mich recht, dich zu sehen, du gleichst deiner Mutter, und ich habe im ersten Augenblick in deinem Gesicht eine Aehnlichkeit erkannt, wußte aber nicht, wo ich sie hin tun sollte; nun komm herein zum Vetter und laß dir deine Antrittspredigt geben, er meint's nicht so schlimm. Emma,« sprach sie zu dem Mädchen, »das ist der Vetter, von dem ich dir gesagt, und der hierher kommt, um Kaufmann zu werden.« Emma setzte ihre Gießkanne auf den Boden und sagte zu mir ernst und trocken: »So, so, der Vetter, das freut mich; aber,« setzte sie nach einem Blick auf meine bestäubten Stiefel hinzu, »du bist zu Fuß gegangen und wirst hungrig sein, ich will dir ein Butterbrot holen.« Die Frau erwiderte für mich lachend: »Ja, tu das,« und ging mir voran ins Haus.


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