Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Neununddreißigstes Kapitel.

Ein Verhör – Ein Rendez-vous.

Ich glaube, ich hätte noch länger geschlafen, doch knarrte meine Tür, der junge Herr Block schlich herein, sich vorsichtig auf dem Gange umschauend, und trat an mein Bett mit einem gänzlich verstörten Angesicht.

»Was haben Sie?« fragte ich erschrocken.

Der junge Mensch warf sich auf einen Stuhl, sah mich mit einem traurigen, tränenvollen Blick an und sagte: »Da unten sind schreckliche Geschichten los; gestern abend hat der Herr Specht eine lange Unterredung mit der Prinzipalin gehabt und so geheim, daß sogar Fräulein Emma mich gestern abend spät noch fragte, ob ich nicht wüßte, was er gewollt. Die Prinzipalin kam darauf mit verweinten Augen zum Nachtessen, und alle machten Gesichter zum Davonlaufen. Wenn Sie nur dagewesen wären!« – »Ich war auf meinem Zimmer,« sagte ich zum Lehrling.

»O,« entgegnete dieser ungläubig, »der Buchhalter hat aber heute morgen gesagt, Sie seien wieder einmal die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen.« – »Da hat der Buchhalter wieder einmal gelogen,« sagte ich ruhig und erhob mich, um mich anzuziehen, doch blieb ich mitten in diesem Geschäft starr wie eine Bildsäule sitzen, als der Herr Block eiligst fortfuhr: »Dann war der Herr Specht heute morgen in aller Frühe bei Schilderer u. Söhne, er kam mit sehr vergnügtem Gesicht zurück, legte einige Papiere auf den Tisch, und als er hinausging, um seinen kattunenen Regenschirm im Gange aufzuspannen, schaute ich mir die Papiere an.« – »Nun?« – »Es war der Brief der Prinzipalin, den Sie vorgestern gesiegelt, worin sie fünfhundert Taler verlangt, und dabei der Empfangschein von Ihrer Hand.« – »Nun?« wiederholte ich, mich mühsam zusammennehmend, »was nun weiter? Die Sache ist bis so weit ganz in der Ordnung; ich habe, wie Sie wissen, Ihnen zuliebe den Brief selbst hingetragen, das Geld empfangen und darüber quittiert; ist das so etwas Entsetzliches?« – »Durchaus nicht,« sagte stockend der junge Mensch; »doch ist der Brief nicht in das Buch der Prinzipalin eingetragen worden.« – »Verflucht! das habe ich in der Eile vergessen.« – »Das schlimmste aber ist –« – »Und was, und was?« – »Die Prinzipalin,« sprach Herr Block, sich scheu umsehend und mit leiser Stimme, »die Prinzipalin kam alsdann ins Kontor, sah den Brief an, schüttelte heftig mit dem Kopfe und sagte: »So wahr mir Gott helfe, den Brief habe ich weder geschrieben, noch unterschrieben.« – »Ah!« – »Darauf wurden die beiden meiner ansichtig und gingen hinauf in das Zimmer der Prinzipalin.«

Meine Hand zitterte, als ich mich erhob, ich faßte an meine Stirn, und etwas Ungeheures, Entsetzliches stieg vor mir auf. »Die Prinzipalin hat den Brief nicht geschrieben,« murmelte ich, »wer hat ihn denn geschrieben?« Mein Blick fiel auf den Lehrling, der erschüttert vor mir stand. Vor meinen Augen tanzten die Fenster im wirren Kreise, und ich schnappte mühsam nach Atem, wie man zu tun pflegt, wenn man in eiskaltes Wasser hinabsteigt. »Ich danke Ihnen,« sagte ich zu dem jungen Menschen, »ich danke Ihnen herzlich, tun Sie mir die Liebe und tragen diesen Brief, sobald Sie können, zum Doktor Burbus: Ich ließe ihn bitten, herzukommen; dann noch eins: Gehen Sie insgeheim zu Schilderer u. Söhne und sagen dem zweiten Kassierer, ich habe das Bewußte nicht gefunden, ich ließe ihn um Gottes willen bitten, mir einen Rat zu geben.«

Herr Block eilte fort; so oder so, dachte ich, vielleicht hilft mir der Kassierer mit der Summe aus oder der Doktor Burbus; doch überlegte ich nicht, daß ein schrecklicher Verdacht alsdann auf mir ruhen blieb und die Prinzipalin glauben konnte, ich hätte das Geld entwendet und behalten wollen, wenn ich nicht durch die Umsicht des Buchhalters entdeckt worden wäre; o nein, an so etwas Fürchterliches dachte ich im gegenwärtigen Augenblick nicht. –

So langsam ich mich anzog, so wurde ich doch am Ende fertig und zauderte immer, hinabzugehen. Es verstrich eine Stunde. Der Herr Block kam zurück und brachte mir keine tröstlichen Nachrichten; es hatte sich alles gegen mich verschworen: der Doktor war über Land, und mein Freund, der Kassierer, lag zu Hause unwohl im Bett. Bei der Abwesenheit desselben hatte man in dem Bankierhause die große Kasse nicht geöffnet, und ein anderer Kommis besorgte die Auszahlungen aus der Handkasse. »Sei ruhig,« schrieb mir der Kassierer mit Bleistift auf einen kleinen Zettel, »ich werde nachmittags aufstehen und aufs Kontor gehen, vielleicht läßt sich da etwas machen.«

Der entscheidende Moment war gekommen, ich nahm meinen Hut und ging langsam die Treppe hinunter nach dem Zimmer der Prinzipalin; unten begegnete mir Emma. Diese sah geisterhaft bleich aus, und ihre großen Augen sahen mich wahrhaft gespenstig an, sie wollte mich aufhalten und mit mir sprechen, doch winkte ich ihr mit der Hand, denn ich hatte meine ganze Fassung notwendig. Sie eilte fort, und ich klopfte an die Zimmertür der Prinzipalin.

»Herein!«

Ich holte tief Atem, ehe ich eintrat. –

Madame Stieglitz hatte die Hand auf den Tisch gestützt und sah mich ernst, aber eher traurig als zornig an. Der Buchhalter lehnte mit gefalteten Händen am Fenster und schaute hinauf an den grauen Novemberhimmel. Es trat eine ziemliche Pause ein, die ich zuerst unterbrach, indem ich sagte: »Madame, es ist mir gestern ein großes Unglück passiert, allerdings ein sehr großes Unglück, das ich wieder gut zu machen hoffe.«

Die Prinzipalin zuckte die Achseln, und der Buchhalter stand bewegungslos.

»Ich habe vorgestern,« fuhr ich ruhig fort, »auf ein Privatschreiben von Ihnen ein Inkasso gemacht im Betrage von fünfhundert Talern, welche Summe ich empfing und welche Summe ich in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag – – verlor.«

Madame Stieglitz fuhr kaum merklich zusammen, als sie mein Geständnis vernahm, und wiederholte, in ungläubigem Tone fragend, mein letztes Wort: »Verlor?« – »Im Spiele vielleicht,« ergänzte der Buchhalter.

Ich warf ihm dafür einen verächtlichen Blick zu und fuhr fort: »Ja, Madame, verlor, aber nicht in dem Sinne, wie der Herr Specht meint.« – »Und in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag?« fragte die ernste Frau.

»Ja, Madame; ich will offenherzig sein: ich war in einer lustigen Gesellschaft, wir hielten ein letztes Souper, womit wir alle unser etwas leichtsinniges Leben zu beschließen gedachten. Dort oder beim Nachhausegehen oder, der Himmel mag wissen, wo? verlor ich das Paket mit den Kassenanweisungen, das ich hier in meiner Brusttasche verwahrt hatte.«

Der Buchhalter wandte sich mit einem vielsagenden Blick zur Prinzipalin, welche langsam und feierlich den bewußten Brief vom Tische nahm, ihn mir entgegenhielt und mit dem tiefen Ton, der so eigentümlich klang, wenn sie heftig erschüttert war, fragte: »Und wer hat diesen Brief geschrieben?«

Ich sah ihn flüchtig an und entgegnete: »Wenn Sie ihn nicht geschrieben haben, Madame, so mag Gott wissen, wer es getan hat; ich weiß nichts davon, ich habe ihn nur gesiegelt und fortgetragen.«

Hätte der Herr Block mich nicht unterrichtet, daß die Prinzipalin versichert habe, sie hätte diesen Brief nicht geschrieben, so hätte ich diese verfängliche Frage mit viel größerer Bestürzung und Entrüstung beantworten können als so, und man konnte nach der Ruhe meiner Entgegnung voraussetzen, daß es mich nicht sehr überraschte, zu erfahren, dies Schreiben sei verfälscht; ich mußte mir später gestehen, daß eben dies den Verdacht, den man auf mich geworfen hatte, sehr bestärkte.

»Also Sie siegelten ihn und trugen ihn fort?« sagte der Buchhalter, »warum tat dies nicht der Herr Block, wie es Brauch ist?«

Ich zuckte die Achseln. – »Weil der Herr Block nach Hause eilte und ich gern jemand einen Gefallen erzeige.« – »Auch ist dieser Brief,« forschte Madame Stieglitz weiter, »nicht in das Buch eingetragen.« – »Das habe ich leider vergessen,« sagte ich, und mein Zorn regte sich bei diesen sonderbaren Fragen und bei dem höhnischen Lächeln des Buchhalters. »Madame,« sprach ich ernst und ruhig, »ich sagte Ihnen schon früher, daß mir das Unglück begegnet sei, das Geld zu verlieren; ich will es ersetzen, so schnell es in meinen Kräften steht, und ich hätte wirklich geglaubt, daß man das Unglück eines treuen Dieners nicht so streng nehmen sollte, und dann begreife ich nicht, warum der Herr Specht sich nicht entfernt, wenn er sieht, daß ich eine Unterredung mit Ihnen habe.« – »Es ist mein Wille, daß er dableibt,« versetzte die Frau und setzte bitter hinzu: »Was das Unglück eines getreuen Dieners anbelangt, so –« – »Ließe sich viel darüber denken und sagen,« ergänzte der Herr Specht.

»Und was? Herr –« – »Nun,« sagte er mit kalter Stimme, »daß die ganze Geschichte sehr sonderbar ist; der Brief ist gefälscht, Sie gestehen ein, daß Sie ihn gesiegelt und fortgebracht haben, das Geld ist verschwunden, und es fällt Ihnen erst heute ein, davon zu sprechen, obgleich der ganze gestrige Tag dazwischen liegt.«

Meine Hand zuckte, und ich hielt mühsam an mich. »Allerdings,« sprach ich mit tonloser Stimme, »ich hätte gestern morgen gleich mit Madame Stieglitz über diesen Verlust sprechen sollen, doch hoffte ich immer, das Paket wiederzufinden, und muß gestehen,« setzte ich offen hinzu, »daß ich glaubte. in einem Hause zu sein, wo ein niedriger, schlechter Verdacht nicht leicht aufkommen könne.« – »Aber eben dieser Verdacht,« sagte giftig der Buchhalter, »scheint leider begründet.« – »Wie begründet, Herr, und wodurch?« – »Durch diesen Brief, den Sie – –« – »Den Sie?« – »Wahrscheinlich selbst verfertigt haben.«

Das war zu viel; die Prinzipalin verhüllte ihr Gesicht mit dem Schnupftuch, ich stand einen Moment wie niedergedonnert, dann erfaßte mich einen Augenblick eine namenlose, unbeschreibliche Wut, meine Hand zuckte nach einem zusammengeschlagenen Messer, das auf dem Tische der Prinzipalin lag; der Buchhalter wurde weiß wie die Wand, als er einen Blick auf dies Messer warf und meine Bewegung sah, und auch ich fuhr bebend zurück, als es meine Hand schon fast erreicht hatte – es war das Messer des Prinzipals, das Madame Stieglitz sich selbst zur Qual dort aufbewahrte.

»Nein, nein,« brachte ich mühsam hervor und fuhr mit der Hand über die Augen, die mir, wie ich fühlte, feucht wurden, »nein, nein, das war gewiß nur ein bitterer Scherz, Madame, von Ihnen wenigstens, wenn auch nicht von jenem – von jenem schlechten Subjekte –!«

Die Prinzipalin sah mich einen Augenblick schmerzhaft bewegt an, dann sagte sie mit zitternder Stimme, die nach Fassung rang: »Es ist leider, leider kein Scherz, ein großer, schwerer Verdacht spricht gegen Sie; Sie sehen, wie die Sache liegt, ist in meinem Hause Ihres Bleibens nicht. Suchen Sie Ihren Freund, den Herrn Doktor Burbus, auf, er solle sich mit mir darüber besprechen, wir wollen die Sache in Ruhe und Frieden beilegen.«

Sie streckte mir die Hand entgegen, wie um mir zu sagen, daß ich gehen könne; doch als ich, niedergedrückt und tief erschüttert, diese Hand ergriff, entzog sie mir dieselbe nicht. Mir war, als habe ich zum zweitenmal eine Mutter verloren; ich bedeckte die Hand mit meinen Küssen, und meine Tränen zitterten darauf; ich schleuderte dem Buchhalter einen schrecklichen Blick zu und stürzte wie ein Rasender davon.

Die alte Frau warf sich in ihren Sessel und sagte dem Buchhalter in ernstem Tone: »Gehen Sie, lassen Sie mich allein.« Dann sah sie still vor sich hin, und obgleich sie ihr Gesicht nicht verzog, rollten doch dicke, schwere Tränen unaufhaltsam über ihre blassen Wangen herab.

Wohin ich wollte, das wußte ich eigentlich selbst nicht. Hinaus ins Freie, rief es in mir, ich konnte in dem Hause nicht mehr Atem holen, es drückte mir die Brust zusammen, ich glaubte, unterliegen zu müssen. In tiefen Zügen atmete ich draußen die kalte Novemberluft ein und rannte eiligen Laufes, aber ohne mir dessen klar bewußt zu sein, durch die bekannten Straßen nach dem Hause des Doktors. Dicht vor demselben lief ich gerade zwischen ein paar Pferde hinein, und die Stimme meines Freundes selbst, der eben von seiner kleinen Tour zurückkam, rief mir zu: »Aber ins Teufels Namen, was treiben Sie denn? Ist das Delirium noch nicht vorüber?« Ich schaute auf, und als der Doktor auf diese Art in mein Gesicht sah, schrak er heftig zusammen und führte mich, ohne ein Wort zu sprechen, ins Haus und in sein Zimmer; ich setzte mich auf einen Sessel und starrte vor mich hin. Burbus warf seinen Hut, Ueberrock, Handschuhe und Peitsche in einen Winkel, stellte sich vor mich hin und sagte: »Ich merk' schon, hier ist manches in großer Unordnung; was ist vorgefallen? Rasch gesprochen!« setzte er dringender hinzu, da ich schwieg; »gesprochen! und wenn es etwas außerordentlich Schlimmes wäre, heraus damit!« – »Es ist mehr als schlimm, es ist schrecklich! lieber Doktor,« entgegnete ich, »aber Sie sollen alles erfahren!« Und nun erzählte ich ihm die ganze Geschichte von A bis Z, das heißt, von dem Moment an, wo ich den Brief gesiegelt, bis vor einer halben Stunde, wo ich das schreckliche Verhör bestanden.

Der Doktor war sichtlich in großer Bewegung und ging erschüttert, die Hände auf dem Rücken, auf und ab, wobei er einigemal vor mir stehen blieb und mir starr ins Gesicht sah.

»So ist die ganze Geschichte,« sagte ich am Schluß meines Berichtes, »und ich kann mir wahrhaftig nicht denken, was es mit dem verfluchten Brief für eine Bewandtnis hat.« – »Gewiß nicht?« entgegnete der Doktor und sah mich feierlich an.

»Gewiß nicht!« antwortete ich, »bei Gott, ich bin mir keiner Schuld bewußt, als vielleicht der einzigen, daß ich das Geldpaket nicht vorsichtig genug eingeschoben.«

Der Doktor stand vor mir und sah mich mit ernstem, festem Blick an, als wollte er durch meine Augen in mein Inneres blicken.

Ich hielt seinen Blick ruhig aus und versicherte nochmals, daß sich die Sache so verhalte, wie ich es ihm gesagt. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, ja, ich schwöre Ihnen feierlich bei der innigen Liebe zu Emma, daß ich Ihnen die volle Wahrheit gesagt und nichts verheimlicht.« – »Dann ist alles gut,« entgegnete der Doktor und fuhr mit der Hand wie nachdenkend über seine Stirn; »daß der Herr Specht die Geschichte eingefädelt, daß er den Brief selbst geschrieben oder wenigstens schreiben ließ, ist mir vollkommen klar; auch ist das Ganze so plump angelegt, daß es dem Verstande dieses Menschen und seines Freundes, des sauberen Kandidaten, alle Ehre macht; ich sage, es ist plump angelegt und würde lächerlich sein, wenn nicht sehr vieler Leichtsinn von Ihrer Seite und Zusammentreffen sonderbarer Umstände diesen beiden Spitzbuben in ihrem Vorhaben geholfen hätte. Warum plagt Sie der Teufel, Unseligster des ganzen Menschengeschlechts, und läßt Sie den Brief selbst besorgen? Warum schreiben Sie ihn nicht in das Buch ein, warum verlieren Sie das Geld, und warum zeigten Sie diesen Verlust nicht wenigstens gestern morgen in aller Frühe der Prinzipalin an? Da war viel geändert und,« fuhr er ernster fort, »warum taten Sie Ihr verehrtes Maul nicht auf und sprachen mir gestern mittag, als Sie hier waren, von der Geschichte? O, das war ein Mangel an Vertrauen, der Strafe verdient!«

Ich beschrieb ihm meinen gestrigen Seelenzustand, meine Angst über den Verlust und zugleich meine Hoffnung, das Paket wiederzufinden, und versicherte ihm, ich sei gerade gestern mittag nur in der Absicht gekommen, ihm alles zu sagen, hätte aber kein Wort herausgebracht.

»Jetzt helfen keine Vorwürfe,« sagte der Doktor; »wollten Sie heute morgen noch irgendwohin gehen, haben Sie Hoffnung, das Paket wiederfinden zu können?« – »Nein,« entgegnete ich, »darauf hoffe ich nicht mehr, ich wollte nur meinen Freund, den Kassierer von Schilderer u. Söhne, der heute morgen krank im Bett lag, aufsuchen, um –« – »Das Geld von ihm zu pumpen,« antwortete rasch der Doktor; »dummes Zeug, ein Zechbruder wird Ihnen keine fünfhundert Taler leihen, doch das ist das wenigste; aber jetzt hören Sie meinen Rat: gehen Sie ruhig nach Hause, setzen Sie sich auf Ihrem Zimmer fest und tun Sie im Gefühle Ihrer Unschuld keinen Schritt. Da Madame Stieglitz mich sprechen will, so werde ich später hinkommen, mich aber vorher zu Schilderer und Söhne begeben, mich mit dem Chef des Hauses, dessen Arzt und Freund ich bin, über die Sache besprechen und mir auch dort auf dem Kontor einige Briefe des Herrn Specht ausbitten; es kann vielleicht nichts schaden, die Handschriften ein bißchen zu vergleichen. Nun adieu, ich werde der Sibylle nichts von der Geschichte sagen, bis diese, wie ich zu Gott hoffe, geordnet ist.«

Ich verließ den Doktor, ging nach Hause und erreichte mein Zimmer, ohne von irgend jemand gesehen worden zu sein, ich schloß die Tür ab und begann aufs neue zu suchen. Alles vergebens, ich fand keine Spur von dem Paket, ich nahm meine Briefe und Papiere vor, ordnete dieselben, las vieles, was ich vorfand, noch einmal durch, und so verging mir die Zeit. Mittags wurde an meine Tür geklopft, doch da ich keine Antwort gab, mich auch niemand nach Hause kommen sah, so nahm man an, ich sei ausgegangen.

Nachmittags hörte ich Emma auf ihr Zimmer gehen und war im Begriff, aufzuspringen und mit ihr zu sprechen; ich brauchte nur die Tür zu öffnen, die zwischen unseren Zimmern war, und konnte ungehindert dem geliebten Mädchen Aufklärung über mein Unglück geben. Wenn sie dich auch nicht liebt, dachte ich traurig, so ist sie doch deine Verwandte und wird schon darum Anteil an dir nehmen; ich hatte früher einmal an der Tür einen Schlüssel gefunden, doch ehe ich ihn hervorsuchen und aufschließen konnte, hatte Emma ihr Zimmer schon wieder verlassen.

Stunde um Stunde verging, wenn auch entsetzlich langsam, aber ich hörte doch die Viertel- und ganzen Stunden schlagen. Es fing an zu dunkeln, der Himmel, der sich aufgeklärt hatte, erschien tiefblau, und das Funkeln der Sterne, die nach und nach sichtbar wurden, zeigten mir an, daß es kalt würde; ich fühlte nichts davon, mir war nicht warm, aber ich fror auch nicht. Mein einziger Wunsch war, der Doktor möge kommen, und ich schaute auf die Straße und blickte sehnsüchtig jeden Menschen an, der sich dem Hause näherte. Jetzt verließ ich das Fenster wieder, ging an die Tür und lauschte, ob niemand die Treppe herauf käme. Der Doktor konnte ja dicht an den Häusern entlang und ins Haus gegangen sein, ohne daß ich ihn bemerkt hatte! Eitle Hoffnung! Im Hause war es totenstill, kein Tritt auf der Treppe hörbar, doch jetzt, halt! stieg jemand herauf. Ich weiß nicht, warum ich im Augenblick von der Tür wegging und mich auf meinen Koffer setzte, der in einer Ecke zwischen meinem Kleiderschrank und meinem Bett stand. Ohne daß ich gesehen wurde, hatte ich im Spiegel die Tür des Zimmers vor mir, ein Lichtstrahl fiel jetzt durch das Schlüsselloch, ein Hauptschlüssel wurde eingesteckt, die Tür öffnete sich langsam, und der Buchhalter streckte seinen Kopf ins Zimmer, und sah sich flüchtig um, ob ich da sei. Im ersten Augenblick fragte ich mich, ob ich nicht auf ihn zustürzen solle, ihn ins Zimmer hereinziehen und ihm mit Gewalt das Geständnis abpressen, daß er mich verleumdet habe, doch konnte ich nicht von der Stelle, ich hielt den Atem an, und die Tür schloß sich wieder.

Kurze Zeit darauf hörte ich abermals Schritte auf der Treppe – wieder nicht der Doktor. Es war ein leiser Tritt, der heraufkam – es war Emma, die in ihr Zimmer ging, sie hatte ein Licht bei sich, denn ich sah deutlich, wie auf dem gegenüberliegenden Haufe der Schein ihrer Fenster sichtbar wurde. Jetzt sah ich auch ihren Schatten – dachte sie vielleicht wohl an mein Unglück! Ich stand langsam auf und sagte zu mir: »Du mußt mit ihr sprechen.« Schon hatte ich die Hand nach dem Schlüssel ausgestreckt, den ich in ihrer Abwesenheit in das Schloß gebracht, und wollte ihn umdrehen, als ich hörte, wie vom Gange her ihre Stubentür geöffnet wurde.

»Was wollen Sie?« hörte ich sie sagen und vernahm die Stimme des Buchhalters, welcher antwortete: »Nur in einer wichtigen Angelegenheit einige Worte mit Ihnen sprechen.« – »Aber mir scheint,« antwortete Emma, »weder diese Stunde noch dieser Ort ist zu einer Unterredung für uns beide passend.« – »Das kann sein, mein Fräulein,« entgegnete der Buchhalter, »doch wo die Not gebeut, kann man Zeit und Umstände nicht so sorgfältig abwägen, ich wollte von Ihrem Vetter sprechen.« – »Von meinem Vetter?« – »Ja, Fräulein Emma, Sie haben erfahren, in welche höchst unangenehme Geschichte er sich, gewiß nur durch Unbesonnenheit und etwas Leichtsinn, verwickelt – eine Geschichte, die für seine künftige Existenz von den traurigsten Folgen sein kann und die auch, wenn sie bekannt wird, ein unangenehmes Licht, oder wie soll ich sagen, auf seine Familie und seine Freunde wirft.« – »Was das anbelangt, können Sie ruhig sein,« antworte das Mädchen stolz, »Sie haben nicht die Ehre, weder der einen noch den andern anzugehören.« – »Sie tun mir unrecht, mein Fräulein, ich habe dem jungen Menschen gern mit meinem besten Rat zur Seite gestanden, er hat leider nie auf mich gehört, doch nehme ich auch jetzt noch den innigsten Anteil an seinem Schicksal und bin deshalb hier, um zu überlegen, was wir tun könnten, um ihn aus dieser verdrießlichen Lage zu ziehen.« – »Wie?« antwortete mit schmerzlichem Tone das Mädchen, »ach, ich kann ja nichts tun, aber wenn Sie, Herr Specht, im stande sind, seine Unschuld zu beweisen, o, so tun Sie es ja, mein heißester Dank soll Ihnen lohnen.« – »Ihr heißester Dank, nun ja, das wäre schon etwas, aber seine Unschuld zu beweisen, das wird schwer sein.« – »Sie halten ihn also für schuldig?« – »Die Umstände sprechen ziemlich klar gegen ihn.« – »O mein Gott,« sagte das Mädchen mit bewegter Stimme, »dann ist ja alles verloren.« – »Nicht so ganz, Fräulein Emma, mein liebes Fräulein Emma, es gäbe vielleicht noch einen Weg, ihm durchzuhelfen.« – »Ihn als unschuldig darzustellen?«

»Ja, wenigstens vor den Augen der Welt, und durch einige Aufopferung meinerseits auch vielleicht vor den Augen der Prinzipalin.« – »O, wenn das möglich wäre, Herr Specht,« hörte ich Emma erfreut sagen, »o, wenn Sie das könnten, Gott würde Ihnen gewiß lohnen.« – »Der Lohn Gottes ist allerdings eine schöne Sache,« versetzte der Heuchler, »doch ziehe ich für diesmal einen Lohn vor, den die Erde bietet,« hier zitterte seine Stimme, »einen süßen Lohn, Fräulein Emma, den Sie mir imstande sind zu geben.«

»Um Gottes willen, wie verstehe ich Sie!« – »Es ist nicht das erste Mal, Fräulein Emma, daß ich über diesen Punkt mit Ihnen spreche. Sie haben mich freilich kalt abgewiesen, aber Sie sehen, ich komme wieder und komme nicht mit leeren Händen. Mit der einen Hand biete ich Ihnen eine sorgenfreie Existenz, biete ich Ihnen meinen geachteten Namen, mit der andern die Unschuld Ihres Vetters. – Daß er,« setzte er hastig hinzu, »auf jeden Fall das Haus verlassen müßte, versteht sich von selbst, aber ehrenvoll, sehr ehrenvoll.«

Ich stand erschüttert an meiner Tür und lauschte angstvoll der Antwort des Mädchens. Es trat eine lange Pause ein, dann fuhr der Buchhalter fort: »Entscheiden Sie, Fräulein Emma, entscheiden Sie baldigst, morgen früh wird es zu spät sein.« – »Morgen früh,« antwortete sie mit gepreßter Stimme, »was kann morgen früh geschehen?« – »Nun, morgen früh wäre es nicht unmöglich, daß die Prinzipalin bei fortgesetztem Leugnen Ihres Vetters die Sache den Gerichten übergeben könnte.« – »Den Gerichten?« antwortete das Mädchen; und diese zwei Worte klangen wie ein lauter, entsetzlicher Wehruf.

Ich knirschte mit den Zähnen und war im Begriff, in das Gemach zu stürzen, doch hielt mich die Stimme Emmas zurück, welche nun kalt und ruhig sagte: »Und wie, Herr Buchhalter, auf welche Art können Sie seine Unschuld beweisen?«

Hier entstand eine neue Pause, und als hätte ich durch die Tür blicken können, so hatte ich vor meinem innern Auge das Gesicht des Buchhalters und sah, wie er bei diesen Worten das Mädchen mißtrauisch anschaute. Doch hörte ich ihn jetzt lachen und sagen: »Sie könnten die Absicht haben, mein Fräulein, das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, der Prinzipalin zu entdecken, aber ich fürchte das nicht, es wird Ihnen nichts helfen; meinem Wort, dem erprobten, glaubt Madame Stieglitz unbedingt.« – »Ich weiß es,« seufzte das Mädchen.

»Also hören Sie mich: Es fällt mir heute nacht plötzlich ein, daß jener Brief – er trägt, wie Sie nicht vergessen müssen, kein Datum, Ihr Vetter hat das übersehen – daß dieser Brief von der Prinzipalin, wenn auch vor längerer Zeit, wirklich geschrieben wurde; die alte Frau hat das vergessen, ich aber versichere, daß dem so sei. Dies Schreiben nun sollte damals nicht abgehen, und wurde von mir auf die Seite gelegt, kam zufällig auf das Pult unter die andern Papiere und wurde unschuldigerweise expediert. Ihr Vetter hat das Geld geholt, hat es verloren, aber es findet sich natürlicherweise wieder.« – »Und Sie glauben,« antwortete Emma rasch, »daß es sich wirklich wiederfinden wird?« – »Sie müssen mich verstehen,« antwortete der Buchhalter, »das Geld, das Ihr Vetter wahrscheinlich zu seinen Zwecken verbraucht hat, läßt sich allerdings nicht wiederfinden, aber fünfhundert Taler sind fünfhundert Taler, und obgleich schon eine bedeutende Summe an und für sich, ist es doch ein geringes Opfer, um in den Besitz dieser kleinen Hand zu kommen.«

Es trat wieder eine Pause ein, dann sprach das Mädchen, und, wie es schien, ängstlich: »Lassen Sie meine Hand, o lassen Sie meine Hand!« – »Bedenken Sie, Emma,« sagte er zudringlicher, »geben Sie mir eine Antwort!« – »O nie, nie,« rief das Mädchen, in Weinen ausbrechend, »mein Vetter ist unschuldig, und Gott im Himmel wird schon dafür sorgen, daß diese Unschuld an den Tag kommt.« – »Allerdings,« hohnlachte der Buchhalter, »und Sie sehen, daß in diesem Augenblicke der höchste Herr des Himmels mich, seinen Schützling und Begnadigten, zu Ihnen schickt, um Ihren Vetter zu retten, aber weisen Sie diese Hilfe nicht zurück, reichen Sie mir Ihre Hand, oder Gott wird die seinige von Ihnen abziehen.« – »Das ist ganz unmöglich, ganz unmöglich,« entgegnete das Mädchen, »o, wie kann das möglich sein, ein ganzes, langes, verlorenes Leben!« – »An meiner Seite,« ergänzte Herr Specht, »nun freilich, es ist viel angenehmer, seinen Anverwandten ein langes Leben, mit Schmach und Unehre beladen, dahinschleppen zu sehen.«

»O, wenn Sie ein Mensch sind,« sagte das Mädchen, laut weinend, »wenn Sie menschlich fühlen, so retten Sie meinen Vetter um der Barmherzigkeit Gottes willen und nicht um Lohn; ich kann nicht tun, was Sie verlangen.«

»Weil Sie selbst Ihren Vetter lieben,« sagte der schreckliche Mensch kalt. Mein Herz stand still, es wollte nicht mehr schlagen, bevor sie antwortete; doch diese Antwort, ein ängstliches »Nein, nein!« hallte schmerzlich und dröhnend in mir wider. Genug der Qual! dachte ich, hinein in das Zimmer und ihm ins Gesicht gesagt, daß ich lieber tausendmal jene Schuld auf mir behalten wolle, als das arme Mädchen nur einen Augenblick länger martern zu lassen! Doch kamen jetzt Worte aus dem Munde des Buchhalters, die mich für einen Augenblick förmlich an den Boden bannten. »Wenn also,« sagte er in kleinen Pausen, »ein langes Leben an meiner Seite Ihnen schrecklich erscheint, so hören Sie dagegen das Bekenntnis meiner heißen, leidenschaftlichen Liebe zu Ihnen. Ihre Gegenwart, Ihr Anblick reibt mich auf, und die Kälte und Gleichgültigkeit, mit der ich Ihnen gegenüber erscheinen muß, bringt mich zum Wahnsinn; ich fühle eine verzehrende Glut, wenn Sie ins Zimmer treten. Ihr Fußtritt hinterläßt für mich glühende Spuren, die ich küssen möchte; das Rauschen Ihres Kleides weckt eine wilde Lust in mir, die ich nicht mehr zu bändigen vermag. Hier liege ich zu Ihren Füßen, Emma, und flehe Sie an, wenn es Ihnen auch unmöglich erscheint, ein langes Leben mit mir vereint zu sein, ich bin ja genügsam, o, so schenken Sie mir einen einzigen Augenblick Ihre Liebe, begnadigen Sie mich durch eine kleine Stunde, seien Sie mir einen seligen Augenblick alles, was ein Wesen dem andern sein kann – heute nacht –«

Ich riß an dem Schloß der Tür, und da von innen der Nachtriegel vorgeschoben war, so sprengte ich ihn, indem ich mich gegen die Tür warf, und stürzte in das Gemach. – – – –

Emma flog auf mich zu und klammerte sich an mich mit einer wilden Angst, welche die rasenden, für sie nicht ganz verständlichen Worte des Heuchlers in ihr erregt; er sprang auf, als er mich bemerkte, seine Augen rollten wie die eines Wahnsinnigen, sein Mund schäumte, und so trat er mir entgegen. Ich ließ das Mädchen auf einen Stuhl niedergleiten, faßte ihn an der Brust und warf ihn mit solcher Kraft von mir, daß er in der Mitte des Zimmers zusammenstürzte. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Stubentür, und die Prinzipalin, Madame Stieglitz, stand draußen auf dem Gange. Ich war mit meiner Cousine beschäftigt, tröstete sie, so gut ich konnte, und bemerkte die Frau draußen im ersten Augenblicke nicht; als ich aber aufschaute, stand der Buchhalter neben ihr, hatte die Hände gefaltet und sagte: »So geht es den Gerechten in diesem Hause! O, Frau Prinzipalin, was hat sich unter diesem christlichen gottgefälligen Dache ereignet!«

Madame Stieglitz trat einen Schritt vorwärts, und die große, majestätische Gestalt der alten Frau war, wie sie mit aufgehobener Hand dastand, wahrhaft erschreckend. Ihre Augen blickten zornig auf mich, und ihre Lippen bebten.

»Dank sei dem Höchsten,« fuhr der Heuchler fort, »daß ich das Opfer der Wut jenes Menschen wurde. Gott, wenn ich mir denke, daß Sie, hochgeehrte Frau, dieses sündhafte Paar überrascht hätten, und daß Ihnen vielleicht das gleiche geschehen wäre! Der Herr verzeihe ihnen,« sagte er, und blickte starr zur Decke, »verzeihen auch Sie!«

Emma hatte sich am Stuhle aufgerichtet, und ich hatte sie unterstützt, indem ich meinen Arm um ihren Leib legte. So war die Stellung, in der uns Madame Stieglitz überraschte – die Tür von meinem Zimmer in das des Mädchens war geöffnet, der Buchhalter klagte uns an. –

Es schien, als ob die alte Frau etwas sagen wollte, aber die Stimme versagte ihr, sie schlug beide Hände vors Gesicht, wandte sich um und ging langsam die Treppe hinab.

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Emma das neue Schreckliche begriff, das hier vorgefallen; dann aber riß sie sich von mir los, eilte an ihren Schreibtisch, warf in wilder Haft die Papiere heraus, bis sie gefunden, was sie suchte: es war ein versiegeltes Kuvert, sie hob es hoch empor und stürzte mit dem Ausruf: »Gott wird helfen!« die Treppen hinab. Der Herr Specht und ich standen uns gegenüber und blickten uns ernst und fürchterlich an. Ich glaube, wir haßten uns beide gleich heftig und waren beide im Begriff, übereinander herzufallen, um zu versuchen, wer imstande sei, den andern zu erwürgen. Das dauerte aber nur ein paar Sekunden, dann zog er sich rückwärts schreitend, langsam zurück, ohne mit seinen Augen meinen Blick fahren zu lassen; ich folgte ihm ebenso, doch als er seine Stube erreicht, sprang er mit einem großen Satze hinein und verriegelte die Tür hinter sich.


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