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Zwanzigstes Kapitel.
Die Waldebene lag um uns her, bestrahlt vom rotgoldenen Licht der sinkenden Abendsonne. Die Bäume, die um das Kreuz standen, warfen lange Schatten hinter sich, und die eine Seite des Stammes glänzte hell, während die andere Seite tief beschattet war. Der Pfad vor uns zur Königsbronner Mühle verlor sich bald in einem tiefen Hohlweg, dessen Ende, soweit wir es sehen konnten, schon in Nacht gehüllt dalag. Aus dem Tale zu unsern Füßen stiegen blaue Abendnebel auf, und die Spitzen der Tannen und hohen Bäume, die noch von der Sonne bestrahlt waren, schwammen wie grüngoldene Flecken auf blauem, wogendem Meer.
Bald traten wir in die nächtlichen Schatten des Hohlweges. Nicht lange dauerte es, so strahlten uns vom Grunde des Tales Lichter entgegen. Wir vernahmen das einförmige Geräusch eines Mühlenwerks und deutlich das Rauschen des Wassers. Bald erblickten wir Gebäude in dunklen Umrissen, endlich das mir wohlbekannte Wohnhaus, die Mühle, die Wirtschaftshäuser. Links lagen die Stallungen, und es befremdete mich, bei der Schmiede, die dort war, eine Menge Leute zu sehen und viele Lichter. Auch glaubte ich ein paar Gestalten zu erkennen. Wir traten näher und erblickten bald deutlich ein landwirtschaftliches Nachtstück. Das war die hohe, kräftige Gestalt des Vetters, und er hielt den Zaum eines Gaules, der den Kopf hängen ließ und, wie es mir schien, auf seinen Beinen schwankte. Neben dem Pferde lag ein großer Haufen Stroh, der ihm wahrscheinlich das Niederfallen leicht machen sollte. Da stand auch der Vetter Kaspar und die Elsbeth, die den Gaul streichelte, und oben aus dem Fenster schaute Franz mit einer weißen Mütze.
Als wir ganz nahe traten, hörten wir sprechen und verstanden einzelne Worte. »Der Gaul hat sich erhitzt,« sagte die Elsbeth, »und zu viel Klee gefressen.« – Der Vetter Kaspar meinte, es käme vom Geblüt, das im Frühjahr immer unruhig und rebellisch würde. – »Das beste ist,« rief Franz zum Fenster heraus, »laßt ihm eine warme Decke auflegen und tüchtig herumtraben, bis er in Schweiß kommt.« – »Ach was,« antwortete Kaspar, »wenn der Gaul vom vielen Fressen Kolik hätte, so würde er unruhig sein.« – Der alte Müller streichelte den Hals seines Pferdes und fragte: »Wann ist der Bub zum Kurschmied geritten? Könnt' schon da sein!« – »Was meint Ihr, Vater,« sagte die Elsbeth, »wenn wir den Gaul tüchtig unterlaufen ließen?« – »Wenn der Mensch krank ist,« entgegnete der Müller, »muß er Ruhe haben, und das Vieh wahrscheinlich auch. Und da ich von der Medizin leider nichts verstehe, will ich so meiner Idee folgen. Man bringe ihn in den Stall, bis der Kurschmied kommt.«
Jetzt traten wir beide plötzlich in den Kreis, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe mich die Familie erkannte.
»Donnerwetter!« sagte Kaspar, »du bist's! Nun, das freut mich!«
Und die Elsbeth reichte mir die Hand und sagte: »Was der Bub' groß geworden ist!«
Der alte Müller warf den Zügel seines Pferdes dem Knecht zu, legte mir eine Hand auf den Kopf und sagte: »Na, dir ist es auch in der Stadt schlecht ergangen. Sähst auch nicht so schwächlich aus, wenn du damals hier geblieben wärst!«
Franz oben im Fenster schrie mir freundlich entgegen und verschwand vom Fenster, indem er nach der Mutter und Sibylle rief.
Unter diesen verwandtschaftlichen Begrüßungen hatte man nicht auf den Doktor geachtet, der unterdessen den Kopf des Gaules ergriffen und denselben etwas auf die Seite drehte. Es war aber Zeit, ihn vorzustellen.
»Ist das der Doktor, von dem die Großtante geschrieben?« sagte Kaspar; und Elsbeth setzte hinzu: »Weißt du, Vater, ein Sohn vom Müller Burbus!«
Des Alten Gesicht sah aber nicht so freundlich aus, als der Doktor genannt wurde, als wie er meiner ansichtig wurde. Burbus ließ sich jedoch nicht stören, sagte kurzweg: »Guten Abend!« und ließ das Pferd eine plötzliche Wendung links machen, wobei wir alle sahen, daß es den rechten Vorder- und Hinterfuß schmerzhaft in die Höhe zog. Diese Bewegung wiederholte er ein paarmal und sagte dann ganz ruhig: »Mit Verlaub, Müller, der Gaul hat sich weder überfressen, noch plagt ihn das Blut, sondern er ist im Stall zu kurz herumgedreht worden und hat sich etwas im Bug verrenkt.«
»Wahrhaftig,« schrie die Elsbeth, »das glaub' ich auch. Ich hab's dem Anton, dem unnützen Buben, tausendmal gesagt, er soll das Vieh nicht so kurz drehen.« – »Ja, ja,« meinte Kaspar, »davon kann's herkommen.«
Der Müller machte darauf mit dem Pferde dieselben Bewegungen, sah das schmerzhafte Benehmen des Tieres, wenn er ihm die Seite fühlte, und sagte: »Kann wirklich so sein!« – »Es ist aber auch so,« entgegnete fest und bestimmt der Doktor. »Laßt das Pferd augenblicklich in den Stall bringen; etwas Baumöl, um ihm einzugeben, wird wohl im Hause sein, und eine Salbe zum Einreiben werde ich aufschreiben.« – »Und das versteht der Herr?« sagte der Müller, indem er seine Mütze in die Höhe rückte.
»Natürlich,« sagte der Doktor, »ich habe mich hauptsächlich auf die Behandlung des kranken Viehs gelegt.«
Ich war über diesen Zufall sehr erfreut, denn wenn ich auch viel auf den Brief meiner Großmutter baute, so mußte ich doch fürchten, dem Vetter Christoph sei die Anwesenheit eines halb ausgelernten Studenten, in seinen Augen natürlich ein fauler, unpraktischer Mensch, nicht sehr angenehm. Jetzt kamen auch die Müllerin und Sibylle aus dem Hause, von denen ich einen herzlichen Kuß bekam, und darauf wurde ich im Triumph in die Mühle geführt; denn der Doktor Burbus ging selbst mit in den Stall, um bestmöglich für die Lagerstätte des kranken Tieres zu sorgen.
Für heute trat auch der Vetter Christoph ausnahmsweise in die schönen Zimmer seiner Frau, in welche ich geführt wurde, um mir eine Ehre zu erzeigen, und ich wurde ausgefragt, wie es der Großmutter ging und meinen sämtlichen Tanten und Onkels, sogar der Jungfer Schmiedin, die einmal ein paar Wochen hier zugebracht hatte, wurde gedacht.
Ich fand die Familie meines Vetters fast in demselben Zustande, wie ich sie vor mehreren Jahren verlassen. Freilich war der Müller älter und grauer geworden, und der Stammhalter Kaspar, der sich unterdessen verheiratet hatte und mit Weib und Kind ebenfalls auf dem Hofe wohnte, konnte, wie er selbst scherzhaft sagte, sein früher glänzend schwarzes Haar nicht recht vom Mehlstaub reinigen. Das feine, kluge Gesicht der Müllerin hatten auch einige tiefe Furchen durchzogen, und Elisabeth war beträchtlich älter und dicker geworden. In Mannskleidern würde sie den besten Kürassier abgegeben haben. Gegen das Heiraten bewährte sie eine auffallende Abneigung, und ein kleiner, schwarzer Bart auf der Oberlippe, mit dem man sie früher immer geneckt, wurde größer und bemerkbarer.
Sibylle war ein sehr hübsches Mädchen geworden, viel zarter und feiner als die Elisabeth, die mir jetzt weit besser gefiel als damals, wo ich die ältere Schwester so gut leiden konnte, weil sie mich mit ihrer Körperstärke vor den Neckereien der Brüder schützte. Auch erschien sie mir viel artiger, viel verständiger, denn während ich, den Kopf auf meine Arme stützend, am Tische ruhte, saß Sibylle neben der Mutter, heftete ihre blauen Augen auf mich und fragte mich dies und das, wobei sie emsig fortstrickte. Bald trat auch der Doktor ein und versicherte, der Gaul befände sich etwas besser. Der Vetter machte ihm Platz und sprach auch einige Worte mit ihm, woraus ich ersah, daß er keine eigentliche Abneigung gegen ihn fühlte.
Als nun nach dem Abendessen, das diesmal im Kreise der Familie und nicht bei den Leuten eingenommen wurde, der Kurschmied erschien und die Behandlung des kranken Pferdes, wie sie Burbus angeordnet hatte, vollkommen billigte, stieg der Doktor augenscheinlich in der Gunst sämtlicher Bewohner der Königsbronner Mühle.