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Altbürgermeister Johannes Zierenberg, der Ratsvorsitzende der Freien Reichsstadt Danzig, saß, in Erwartung des Magisters und Herzogl. Rats Martin Opitz von Boberfeld, in seiner Amtsstube des rechtstädtischen Rathauses, von der man den immer wieder genußreichen und erhebenden Blick über das festliche Geviert des Langen Marktes hinweg bis an das seinen Abschluß zur Langenbrücke bildende Koggentor hatte. Johannes Zierenberg war ein kräftiger Mann zu Ende der Sechzig, von mittelgroßer, untersetzter Gestalt, der mit seinem breitspurigen Gang, dem grauen, das Gesicht umrahmenden Schifferbart und dem durchdringenden Blick seiner hellblauen Augen eher an einen Seemann denken ließ als an einen in langjährigem Staatsdienst ergrauten Doktor beider Rechte. Der Raum, von dem aus er der vielverschlungenen Politik der alten Seestadt nun schon ein volles Menschenalter hindurch Weg und Ziel wies, war ein großes, helles, mehrfenstriges Eckgemach mit dunkel getäfelten Wänden und mehreren sie füllenden Eichenschränken der gerade zu höchster Blüte gelangten Danziger Schnitzkunst.
Es war zehn Uhr vormittags. Eben hatte vom Turm des Rathauses das seit mehr als einem halben Jahrhundert dort oben den Stundenlauf begleitende niederländische Glockenspiel seine fromme Melodie mit hellem Bimmelbammel über die Dächer der Stadt hinausgetragen. Zierenberg blickte von seinem pergamentenen Aktenstoß auf und schüttelte ungeduldig den Kopf. Dieser Magister und Schreibersmann ließ auf sich warten! Der Alte war ein Frühaufsteher und hielt in seinen Amtsgeschäften auf Pünktlichkeit. Er saß nun bereits seit der Morgenstunde, die nach dem Sprichwort Gold im Munde trägt, hier über seinen Büchern, Pergamenten und Briefen und konnte verlangen, daß seine Besucher, die doch alle mit Anliegen kamen, ebenso haushälterisch mit seiner Zeit umgingen, wie er selbst es tat. Er hatte bereits am gestrigen Abend von seiner Tochter Constanzia, des Ratsherrn Sigismund Kerschenstein Ehegemahlin, erfahren, welch einen berühmten Gast die Stadt zu erwarten habe. Heute früh hatte dann eine Margell aus dem Hause des Predigers Nigrinus die briefliche Anmeldung des fremden Magisters im Rathause abgegeben. Opitz hatte geschrieben, daß er eine schriftliche Botschaft der polnischen Majestät zu überbringen habe.
Zierenberg knurrte vor sich hin. Handschreiben von Wladislaw IV., übrigens einem durchaus umgänglichen und trätabeln Regenten – sehr im Gegensatz zu seinem schroffen und hochfahrenden Vater Sigismund III. –, waren beinahe das tägliche Brot für den Danziger Ratspräsidenten. Wenn nicht, wie meistens, eigene Kuriere sie überbrachten, so kamen sie mit einem der zahlreichen polnischen Großen, die von ihren tief landeinwärts gelegenen Schlössern und Edelsitzen gern die immer lebhafte und erlebnisreiche, vom Atem der großen Welt erfüllte deutsche See- und Handelsstadt zu besuchen pflegten. Diesmal hatte der Polenkönig eine noch zwanglosere Form gewählt, indem er einen jeder amtlichen oder adligen Stellung und Legitimation entbehrenden, wenn auch durch seinen Namen berühmten Magister der schönen Künste mit seiner Botschaft betraute. Sie schien also von keiner besonderen Bedeutung zu sein, bezog sich vielmehr, wie zu erwarten stand, wieder einmal auf die leidigen Seezölle, von denen ein gewisser Anteil der polnischen Krone zustand, die aber seit Jahren von der die Hafeneinfahrt blockierenden schwedischen Flotte beschlagnahmt wurden. Auch diese Frage gehörte zu den Aufgaben der eben jetzt zu Ende gehenden Stuhmsdorfer Friedenskonferenz.
Ein Ratsbote meldete das Erscheinen des Herzogl. Rats. Zierenberg nickte und erhob sich. Wenn er eine der landesüblichen dürftigen Humanistenerscheinungen, denen man gerade in Danzig begegnete, zu sehen erwartet hatte, so täuschte er sich. Der da eintrat, war ein Mann von vollkommener Weitläufigkeit und Gewandtheit. Jede Verlegenheit, alles linkische Gebaren schienen ihm fremd zu sein.
Nachdem beide Männer sich gesetzt hatten, übergab Opitz das Handschreiben des Königs. Zierenberg brach das Siegel auf, überflog den in deutscher Sprache geschriebenen Brief und blickte erstaunt sein Gegenüber an.
»Kennt Ihr Wortlaut oder Inhalt des Schreibens?« fragte er.
Opitz verneinte.
»König Wladislaw,« fuhr Zierenberg fort, »tut darin seine Absicht kund, Euch, Herr Herzogl. Rat, Stellung, Titel und ehrenamtliche Besoldung als polnischer Hofhistoriograph zu verleihen. Es nimmt mich wunder, daß die polnische Majestät Euch keine Kenntnis davon gegeben hat. Der König scheint zu erwarten, daß Ihr in Ausübung des Euch übertragenen Amtes Euren Wohnsitz in unserer Stadt nehmt. Ich heiße Euch sonach im Namen des Rates und der Dritten Ordnung bei uns willkommen und hätte nur gewünscht, daß wir Euch in einer anderen Funktion hier hätten begrüßen können, da es uns an Aufpassern und Spähern der polnischen Krone in Danzig ohnehin nicht fehlt. Entschuldigt das offene Wort, Herr Herzogl. Rat.«
Opitz, der sonst um Worte nicht verlegen zu sein pflegte, schwieg aufs höchste überrascht.
Zierenberg strich sich mit verschmitztem Lächeln seinen Seemannsbart und sprach weiter.
»Ihr blickt mich erstaunt an, Herr von Boberfeld, und denkt Euch: Welch eine ungehobelte Rede aus dem Munde eines Stadtoberhauptes! Aber wir pflegen hier frei von der Leber weg zu sprechen, nehmen kein Blatt vor den Mund und halten auf einen klaren Standpunkt gegen unseren polnischen Nachbarn. Der Danziger muß sich vorsehen mit dem Polen. Es ist noch keine zweihundert Jahre her, seit unsere Altvordern sich vom Deutsch-Ordensregiment gelöst haben und die Gemeinschaft mit der polnischen Krone eingegangen sind. Es geschah zur Wahrung und Wiedereinsetzung unserer altverbrieften hansischen Rechte und Privilegien, sintemal uns das Ordensregiment unseren Seehandel hat abschneiden und für eigene Rechnung Kontore in Flandern und oben im Norden hat einrichten wollen. Weil uns das ans Leben gegangen ist, drum haben wir uns vom Orden lossagen müssen.
Leicht ist der Schritt den Damaligen wohl auch nicht geworden. Und getraut, wie es scheint, haben sie dem Polen auch nicht so recht. Haben sich darum von Sigismund I., der dazumal in Krakau am Ruder war, volle Freiheit für unsere Stadt ausbedungen, auch unsere alten Rechte und Privilegien mit Brief und Siegel und mit des Königs eigener Unterschrift ausdrücklich sich für ewige Zeiten verbürgen lassen. Aber was wiegen Rechte und Freiheiten, so man nicht jederzeit mit Leib und Leben dafür einzustehen gewillt ist! Das brauche ich Euch, Herr Herzogl. Rat, der Ihr mir ein weltkundiger Mann zu sein scheint, nicht erst lang und breit zu explizieren. Deshalb hat für uns Nachmalige seit jener Zeit die Parole gegolten: Gewehr bei Fuß und unser Pulver trocken halten! Ist uns auch nicht übel ausgeschlagen, die Parole, denn als der Stephan Bathory, den sie sich in Krakau aus dem Siebenbürger Land als König geholt hatten, unser gutes Recht hat unter seine Füße treten wollen und Anno 1576 – es ist gerade sechzig Jahre her, ich bin ein zehnjähriger Jung' gewesen – ja, als der Bathory dann mit Mann und Roß und Wagen, an die siebzigtausend Mann, gegen uns anmarschiert ist, da haben wir Danziger uns ein Exempel an unseren Vorvordern genommen, wie die's in einem solchen Fall gehalten hätten, und haben den König, der übrigens ein tapferer Mann gewesen ist, mit seiner ganzen Armada gegen unsere Tore und Bastionen anrennen lassen, daß ihnen Hören und Sehen vergangen ist. Haben sie auch zu guter Letzt in ihren Sumpf zurückgejagt. Und seht Ihr, Herr Magister Opitz, so und nicht anders werden wir's auch in alle Zukunft halten. Wird uns keine polnische Arglist und Heimtückerei und auch keine Art von Ausspionieren von unserem vorgesetzten Weg abzubringen vermögen! Meldet das der polnischen Majestät, wenn Ihr Euer Briefchen nach Warschau schreibt.«
Zierenberg hatte mit ebensoviel Bedacht wie Schärfe gesprochen.
Opitz war in politischen Dingen erfahren genug, um die Warnung zu verstehen, die sich dahinter kaum noch verbarg.
»Fürchtet nichts, Eure Herrlichkeit!« erwiderte er. »Irgendwelche hinterhältige und arglistige Intentionen sind mir bei meinem derzeitigen Besuch in Eurer schönen und großmächtigen Stadt ebenso fern gelegen wie es die Mondscheibe von unserer irdischen Wohnstatt ist, dessen könnt Ihr bei meiner Seele Seligkeit versichert sein. Ist es mir auch nicht ersichtlich, wieso die polnische Majestät darauf verfallen ist, gerade mich zu ihrem Hofhistoriographen zu erwählen. So sehr ich ihr für Ehre und Lohn zu Dank verbunden sein muß. Könnte vielleicht sein, daß Herr Kaspar von Dönhoff, der Starost von Marienburg, an den mich meine schlesischen Gönner, die Herzöge von Brieg und Liegnitz, zu empfehlen geruhten, ein gutes Wort beim König für mich eingelegt hat.«
Zierenberg machte eine begütigende Handbewegung. »Laßt Euch meine offene Rede nicht verdrießen, Herr Herzogl. Rat. Wir glauben Euch gern, daß Ihr von den polnischen Listen und Ränken nichts wißt und auch hinfüro nichts wissen wollt. Wir kennen hier auch die polnische Majestät sehr gut. Er ist ein ganz räsonabler und trätabler Herr, mit dem sich schon auskommen läßt, wenn man ihm nicht an sein Steckenpferd rührt.«
Welches das wäre, fragte Opitz.
»Das ›dominium maris baltici‹ nennt es sich. Die Herrschaft über unsere Ostsee, das ist es, wonach sein ganzes Sinnen und Trachten geht. Um dies Ziel zu erreichen, schickt er uns seine Späher und seine Agenten auf den Hals, setzt uns das Geschmeiß wie die Läuse in den Pelz. Nicht ehrlich und offen von vorne kommen sie uns. Nein, hintenherum, wie es ja von jeher polnische Art gewesen ist. Wir sind es nicht anders gewohnt.«
Der Alte hatte sich in Eifer und Zorn geredet. Er mußte innehalten, um Atem zu schöpfen. Dann fuhr er ruhiger fort:
»Habt Ihr einmal von der Halbinsel Hela gehört? Nun, Ihr werdet sie schon noch kennenlernen, wenn Ihr uns, wie wir hoffen wollen, die Ehre gebt, länger in unserer Stadt zu verweilen.«
Opitz verneigte sich stumm. Er hörte mit wachsendem Interesse der Darlegung des Bürgermeisters zu.
»Die Halbinsel Hela, müßt Ihr wissen, das ist unser Bollwerk gegen die offene See. Sie ist es, die aus unserer Bucht einen geräumigen Hafen macht, wo alle Flotten von ganz Europa Platz finden könnten. Ermesset nun selbst, Herr Magister, was es für uns bedeuten müßte, wenn der Pole diese Landzunge, die übrigens aus purem Sand besteht, an ihrer schmalsten Stelle durchsticht und dort eine Durchfahrt für seine Flotte und einen befestigten Hafen anlegt.«
»Trägt sich etwan die polnische Majestät mit solch einem Vorhaben?« erkundigte sich der Gast.
Zierenberg schlug mit seiner schweren Faust auf den Tisch, daß das Tintenfaß und die Streusandbüchse zu tanzen begannen. »Damit trägt er sich! Auf solche Art vermeint er dann, daß er den Schlüssel zur Ostsee, das Dominium maris baltici, in seine Hand bekomme.«
Er schwieg wieder und lachte höhnisch, begann aber sofort von neuem.
»Die polnische Flotte! Es ist, um sich schief zu lachen! Wißt Ihr, Herr von Opitz, wie groß sie ist? Vor drei Monaten, im Mai, haben wir einen gewaltigen Sturm gehabt. In unserem Hafen lag gerade eine polnische Gallione. Die ist dabei untergegangen. Das war die ganze großmächtige polnische Flotte! Was sagt Ihr zu dem Spaß, Herr Magister?«
Zierenberg schlug von neuem eine dröhnende Lache auf, und Opitz, der an diesem Temperament eines bald Siebzigjährigen seine Freude hatte, lachte herzlich mit.
»Ja, lacht nur!« rief der Alte. »Lacht nur, Herr Magister! Ich tu' es ja auch. Aber dem König ist es blutiger Ernst damit! Er will's nicht wahrhaben, daß seine Polen nun einmal unverbesserliche Landratten sind. Nie und nimmer kann aus einem Polacken ein richtiger Seefahrer werden! Seine Klütern kann der Pole zur Not pflügen und eggen. Aber was darüber ist ...! Sich den Seewind um die Nase blasen lassen ...! Nie und nimmer!«
»Aber wenn der König auf seinem einmal gefaßten Plan besteht?« warf Opitz ein.
»Wißt Ihr am Ende etwas darüber?« forschte der Alte und kniff das eine Auge zu.
»Gott behüte!« rief Opitz.
»Es war nur eine Frage. Entschuldigt! ... Ja, wenn der König darauf besteht, dann wäre das für die gute Stadt Danzig der casus belli. Damit hätte die Krone Polen den Vertrag mit uns zerrissen und wäre meineidig gegen uns geworden. Sollten wir schwachmütig genug sein, von der Krone Polen das hinzunehmen, was unsere Vorväter vom deutschen Ordensregiment nicht haben hinnehmen wollen? Sollten wir dulden, daß uns das Fundament untergraben wird, worauf all unser Tun und Schaffen, unsere Schiffahrt, unser Handel mit fremden Küsten beruht, daß uns der Pole unsere Herrschaft zur See einfach aus der Hand nimmt? Nie und nimmer, Herr Magister! Nie und nimmer, solange Johann Zierenberg noch ein Wort in der Ratsstube zu Danzig mitzureden hat! Und wolle Gott, daß auch die, die nach uns hier sitzen werden, nichts anderes im Sinn haben möchten!«
Der Alte stemmte seinen schweren Körper mit beiden Fäusten aus seinem Lehnstuhl empor und faßte mit einer raschen Bewegung seinen Gast unter den Arm.
»Kommt, Herr Opitz! Tretet mit mir an dieses Fenster! Da seht Ihr unten unsere Langgasse liegen. Rechts das Langgassertor, dahinter der Stockturm und das Hohetor, die sind zu meines seligen Vaters Zeiten aufgebaut worden. Nach links habt Ihr den Langenmarkt mit seinen goldverzierten Häusergiebeln, mit den Säulen und Türmchen und den Kugeln obendrauf. Und unten vor dem Artushof seht Ihr den Brunnen mit dem Gott Neptunus, wie er unter seinem zugehörigen Meeresvolk den Dreizack als sein und unser Wahrzeichen gegen die Stadt schwenkt. Der ist zu meiner Zeit geschaffen worden. Ich selbst hab' ihn mit Zustimmung des Rats errichten lassen. Ihr seid, so mich nicht alles täuscht, als ein weitgereister Mann zu erachten. Urteilt selbst, Herr Herzogl. Rat, muß man nicht in deutschen und fremden Landen weit herum suchen, ehe Ihr noch einmal solch ein Bild findet, das dem da unten gleichkommt, geschweige es an Schönheit und Ansehnlichkeit aussticht?«
Opitz hatte sich weit über die Brüstung des offenen Fensters gelehnt. Gegenüber reihten sich im goldenen Licht des heiteren Spätsommertages die geschwungenen Giebel und steilen Firste der farbig getönten Häuserzeile aneinander. Unten zwischen den breit vorspringenden Beischlägen der Erdgeschosse, die für den Verkehr in der Gasse nicht mehr allzuviel Raum ließen, bewegten sich buntgemischt Karossen, Reiter und zahlreiche Fußgänger, meist in der feierlich pompösen spanischen Tracht des Zeitalters.
Opitz atmete tief auf. Es war ihm, als müsse er die Schönheit dieses Bildes mit allen Poren in sich einsaugen. Da fühlte er auf seiner Schulter die Hand des Bürgermeisters, die ihn von der Fensterbrüstung zurückzog.
»Lehnt Euch nicht zu weit hinaus, Herr Magister! Wir sind hier beinah' über den Dächern. Es könnte sonst ein Sturz vom Kapitol werden. Nun, was sagt Ihr dazu? Habe ich den Mund allzu voll genommen? Steh' ich als eitler Prahlhans vor Euch? ... Und all das, was Ihr da erblickt, und noch viel mehr, was sich von hier aus Euren Augen entzieht, all die Kunst, all die Pracht, all die Schönheit, alles haben unsere Väter und Vorväter und zu einem gewissen Teil auch wir Heutigen selbst aus dem Sumpfboden, aus dem Sand, aus dem Nichts auferbaut und für alle Ewigkeit hingestellt. Es sind feste Männer aus deutschem Kernholz gewesen, die das geschaffen haben und auch in diesem Augenblick noch dran schaffen. Kann man von uns verlangen, daß wir von unserem Platz abtreten und unser und unserer Väter Werk einfach liegen lassen, damit sich die polnische Majestät und ihr windiges Volk in ein schön gemachtes Bett legen können? ... Ihr schüttelt den Kopf. Na, dann ist es gut. Dann seid Ihr unser Mann.«
Sie waren vom Fenster weggetreten. Opitz wollte sich gerade verabschieden, als sich die Tür öffnete und des Bürgermeisters Tochter Constanzia, Opitzens Bekanntschaft vom gestrigen Nachmittag, über die Schwelle trat. Jetzt, wo er sie zum erstenmal in ihrer ganzen Figur, nicht nur als Sitzende vor sich erblickte, erschien sie ihm mit dem weit umschließenden Reifrock von schwarzer Seide, mit der schwarzen Spitzenmantille, dem weißen Stuartkragen und dem breitrandigen Van-Dyck-Hut nun vollends als eine Göttin oder Königin dieser Stadt und dieses Landes.
»Ich brauche Euch nicht mehr mit meiner Tochter bekanntzumachen,« sagte Zierenberg zu Opitz, der sich tief gegen Constanzia verneigt hatte. »Ihr kennt sie schon. Und du, meine Tochter ... Was ihr Weibsleute für eine feine Nase habt! Wittert die zureisenden Zelebritäten bereits meilenweit vorher und fangt sie auf der Landstraße ab, noch ehe sie an den Toren sind!«
»Gebt Ihr's jetzt selbst zu, Vater, daß der liebe Gott uns Evastöchter aus feinerem Stoff gemacht hat als bloß aus der blöden Adamsrippe, und daß wir Dinge voraus wissen können, die ihr Mannsvolk mit euren nüchternen Sinnen niemals vermögt?«
»Weshalb ja auch die Alten, die in die Geheimnisse der Natur tiefer als wir Heutigen eingeweiht waren, ihren Vestalinnen und ihrer Pythia zu Delphi übernatürliche Seherkraft zuschrieben,« bemerkte Opitz mit einer galanten Handbewegung gegen Constanzia.
»Endlich ein kluger und gelehrter Mann, der meine Ansichten teilt!« rief Constanzia, indem sie in die Hände klatschte. »Und der natürlich von auswärts, weit aus der Fremde, kommen muß, um mir gegen diese siebengescheite und auch ebenso nüchterne Männerwelt von Danzig beizustehen!«
Sie trat einen Schritt auf Opitz zu und lächelte ihn in ungezwungener Haltung an.
»Wollt Ihr mir glauben, Herr Magister Opitz, daß mir mein geheimes Orakel so etwas wie Euer Kommen schon seit geraumer Zeit geweissagt hat?«
»Wäre es möglich?« stammelte der Dichter, halb betroffen, halb geschmeichelt.
»Nicht an Euch persönlich, von dem ich ja noch gar nichts wissen konnte, habe ich dabei gedacht,« setzte Constanzia mit plötzlicher, wie Opitz fand, etwas erkältender Klarheit hinzu. »Nur an einen Gast von Namen, Rang und Bedeutung. Soweit ging meine Ahnung. Sie hat sich ja auch in angenehmster Weise erfüllt. Laßt Euch nun heute in aller Form bei uns in Danzig willkommen heißen. Wir hoffen, daß wir Euch recht bald in unserem Hause in der Jopengasse begrüßen können.«
»Was Euer Ahnungsvermögen betrifft, ihr Weibsleute,« fiel der Alte mit Wendung zu seiner Tochter ein, »so kommt's mir vor, als wenn sich das mehr auf unsere Herren Franzmänner bezöge, die wir ja nun bald von Stuhmsdorf zurückerwarten können, und kaum auf Euren ganz unverhofften Besuch, Herr Herzogl. Rat. Ihr müßt nämlich wissen, im Frühjahr und Sommer haben wir hier eine Ambassade gehabt, die uns König Ludwig XIII. und der Kardinal von Richelieu hergeschickt haben, damit sie die Schwedenkönigin und den Polenkönig, die sich seit Olims Zeiten Feinde sind, unter einen Hut bringen. Jetzt scheint es soweit zu sein. Die gallische Ambassade ist in Bälde wieder hier zurückzuerwarten, und alle Weiberherzen in Danzig schlagen schon höher und haben Ahnungen und zärtliche Träume!«
»Kein Wort davon ist wahr, Vater!« rief Constanzia lachend und hielt sich, um ein leichtes Erröten zu verbergen, ihr Taschentuch vor den Mund. »Glaubt ihm kein Wort, Herr Herzogl. Rat! ... Ich bin Euer Kind, Vater! Aber mit allem schuldigen Respekt! Kein Wort von alledem ist wahr!«
»Willst du vielleicht abstreiten, daß die Herren Franzmänner, der Graf d'Avaux und sein wißbegieriger Herr Ogier und wie sie schon heißen, sich die Herzen aller Danziger Damen im Sturm erobert haben ...«
»Was zuviel ist, ist zuviel, Vater!« unterbrach ihn Constanzia mit Entschiedenheit. »Es soll nicht geleugnet werden, daß die französischen Herren durch ihr untadeliges Auftreten, ihre Courtoisie und ihr galantes Wesen hier in Danzig allgemein gefallen haben, auch bei Euch Männern ...«
»Mit dem nötigen Vorbehalt zugegeben!«
»Und daß es für uns Frauenzimmer ja auch eine ganz schöne Abwechslung bedeutet, mal etwas von Paris und dem Ausland zu hören, noch dazu durch so wohlerzogene Leute mit so guten Manieren. Was man von unseren andern fremden Besuchern aus Dänemark, Schweden, England oder nun gar von den Polen nicht immer behaupten kann.«
»Ei guck mal an!« rief der Alte. »Von den Polen! Also keine Manieren? Und doch lauft ihr ihnen nach, wo ihr könnt!«
»Na ja, will sagen, haltet Tanzereien mit ihnen ab!«
»Und ihr Männer Schmausereien und Trinkgelage! Euch miteingeschlossen, Vater!«
»Alles nur propter rem publicam,« warf der Bürgermeister ein und nickte bedächtig.
Constanzia lachte spöttisch.
»Aha! Nur wegen der hohen Politik werden die vielen Schnäpse und die ungezählten Flaschen Bordeauxweine und Ungarweine vertilgt mit den Herren Polen, die zu uns kommen! Nur deshalb haben unsere Ratsmänner und Schöffen so viel mit der leidigen Gicht und dem bösen Podagra zu schaffen!«
»Ganz richtig!« bestätigte der Bürgermeister mit listigem Schmunzeln. »Wir sind arme Opfer der Pflichterfüllung. Denke an deinen eigenen Eheherrn!«
Constanzia wurde ernst.
»Ich lege Protest ein, Vater. Kerschenstein hat das Übel vererbt bekommen. In seiner Familie gehört es zur Tradition.« Sie wandte sich an Opitz, der dem Redegefecht zwischen Vater und Tochter lächelnd gefolgt war. »Ihr müßt einen schönen Begriff von unseren Danziger Sitten bekommen, Herr Magister, wenn Ihr seht, wie sich Vater und Tochter wegen solcher Faxen in die Haare geraten und von einem fremden Gast einfach keine Notiz nehmen. Berichtet uns doch, Herr Magister, ob wir Euch, wie zu hoffen steht, für dauernd hier behalten können. Vetter Proen, den ich heute morgen noch sprach, ehe er nach Sobbowitz auf sein Gut hinausritt, ließ eine Andeutung darüber fallen.«
»Es ist alles schon entschieden,« sagte der Bürgermeister, bevor Opitz eine Antwort geben konnte. »Der Herr Herzogl. Rat bleibt als unser geschätzter Gast und in seiner neuen Eigenschaft als Hofhistoriograph der polnischen Majestät in Danzig und wird dauernd Quartier hier nehmen. Unsere Humanisten- und Gelehrtengilde, die an unserem Gymnasio Academico und auch sonst recht stattlich hier vertreten ist, kann einen solchen Zuwachs nur begrüßen.«
Opitz verneigte sich tief, mit der Hand auf dem Herzen. »Ich danke Eurer Herrlichkeit devotest für die gute Meinung, die vielleicht nicht von allen Zunftgenossen gefeilt wird, soweit ich meine Herren Kollegen zu kennen glaube.«
»Habt Ihr so schlechte Erfahrungen mit Euren Kollegen von der ars poetica und rhetorica gemacht?« fragte Zierenberg.
Der Dichter zuckte die Achseln.
»Es ist in unserer Gilde wie überall in der Welt unter Gleichstrebenden, Eure Herrlichkeit. Neid und Mißgunst regieren. Es gibt kein Verdienst, groß genug, daß es nicht von den andern bestritten würde.«
»Was Ihr nicht sagt!« rief der Alte mit einer von Ironie überquellenden Miene. »Hat man bei uns im Danziger Ratskollegio schon jemals gehört, daß einer auf den andern neidisch gewesen wäre?«
»Vater! Vater!« lachte Constanzia und drohte ihm mit dem Finger. »Wißt Ihr übrigens schon, Vater, daß Vetter Gerhard aufs tiefste gekränkt ist und sich von seinem Amt zurückziehen will?«
»Proen? Ei der Tausend! ... Wahrscheinlich weil wir den General Huwald von den Sachsen übernommen und ihm vor die Nase gesetzt haben?«
»In seiner Abwesenheit! Ja!« erwiderte Constanzia. »Während er wegen seines Sobbowitzer Prozesses mit dem polnischen Reichstag in Thorn war. Er sagt, man hätte damit warten können, bis er zurück sei. Es sei eine Perfidie vom Rat.«
»Es ist keine Perfidie vom Rat!« donnerte der Alte. »Hätten wir gewartet, wäre uns der Huwald durch die Lappen gegangen. Es hing nur an einem Haar, daß er zum Kaiser nach Wien gegangen wäre. Hätten wir auf eine solche Kapazität verzichten sollen, wie sie der Huwald mit seiner Kriegs- und Schlachterfahrung jahrelang bei den Schweden, dann bei den Sachsen für sich ins Feld führen kann? Nein, nein, meine Tochter! Vetter Proen ...! Natürlich wieder die Vetternwirtschaft! Gegen was hab' ich mein Lebtag im Rat anzukämpfen gehabt? Du weißt es! Gegen die Vetternwirtschaft! Und jetzt kommt mein eigenes Kind damit? ... Vetter Proen soll ruhig sein Hauptmannspatent behalten! Der Huwald übernimmt das Oberkommando und wird unser General! Damit basta!«
Opitz schien es an der Zeit, sich zu verabschieden. Ob denn auch schon für ein gefälliges und anständiges Logement Sorge getragen sei, fragte der Bürgermeister, als sie sich die Hand reichten. Der Dichter bejahte und nannte als seinen Quartiergeber den Prediger Nigrinus, dessen Haus geräumig genug sei für sie beide.
Zierenberg runzelte die Stirn.
»Ja so! Der Nigrinus? Ein unruhiger, wirrer Geist! Ich muß es leider sagen, wenn er auch Calvinist ist und auf denselben Glauben schwört wie ich.«
Als Opitz gegangen war, schwiegen Vater und Tochter eine Zeitlang.
»Wie gefällt er Euch, Vater?« fragte diese nach einer Weile.
»Mir scheint, er ist einer von den vielen heute, die keinen festen Boden unter den Füßen haben,« erwiderte der Alte.
»Kann Euch das wundernehmen in einer Zeit wie dieser, Vater? ... Vielleicht findet er ihn bei uns in Danzig. Er ist ja noch in den Jahren, wo weiches Holz sich härten kann.«
»Aus einem Haselnußstrauch wird nie und nimmer ein Eichbaum,« murmelte Zierenberg und schloß seine Pergamente und Akten weg.
»Nein,« entgegnete Constanzia. »Aber Haselnüsse sind auch nicht zu verachten. Und was fängt man mit den Eicheln an?«
»Schweinemast, meine Tochter! Schweinemast! Und die bedeutet Wurst und Schinken und Speckseiten!«