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14

Es scheint, daß auch in streng republikanischen Gemeinwesen von altbefestigtem Wohlstand, wie es jenes damalige Danzig war, die Familienangelegenheiten der patrizischen Geschlechter, nicht anders als in Residenzstädten die Lebensumstände der fürstlichen Familie und der Hofgesellschaft, eine Art von Gemeinbesitz der gesamten Bevölkerung bis in die untersten Schichten hinab darstellen, auf den jedermann den gleichen Anspruch erhebt und in den sich jedermann brüderlich mit dem andern teilt. Bei diesem Stadtklatsch alter Reichs- und Hansestädte, der sich dem Hofklatsch fürstlicher Residenzen zur Seite stellt, sind durchaus nicht immer nur Scheelsucht und hämische Schadenfreude an der Skandalchronik der Höhergestellten mit im Spiel, sondern es ist oft ebensosehr eine Art von prickelnder Genugtuung, um nicht zu sagen Stolz auf den Mitbesitz von derlei eigentlich lichtscheuer Sündhaftigkeit und hochgeborener Fehlbarkeit, somit im Grunde nur ein Ausdruck der allgemeinen Verbundenheit sämtlicher Klassen und Stände von oben bis unten. Die Skandalchronik erweist sich als gesellschaftliches Bindemittel und bürgerliches Fundament.

Auch in jenem Alt-Danzig der Opitz-Zeit, von dem hier erzählt wird, verhielt es sich nicht anders. Noch tage- und wochenlang wollte das Stadtgespräch über die Proensche Hochzeit und die sie begleitenden Zwischenfälle im Schwarzwaldschen Hause nicht verstummen. Da jeder, nicht zuletzt die Frauenwelt, dem Bilde einer Widerspenstigen, wie es sich mit der Braut und jetzigen Jungvermählten, der schönen Anna, verband, immer noch einen bezeichnenden Zug mehr hinzuzufügen wußte, so erwuchs sehr bald ein Gemälde typischer weiblicher Halsstarrigkeit daraus, das den Mitlebenden lange nicht aus dem Gedächtnis weichen wollte, sich von der Wirklichkeit aber mehr und mehr entfernte.

Schon wenige Tage nach der Hochzeit, die mit allem einer ersten Patrizierfamilie zustehenden Aufwand und Gepränge gefeiert worden war, verbreitete sich aus dem Munde scheinbar Wissender eine Fama, es sei noch am selbigen Hochzeitsabend zu einem schlimmen Auftritt zwischen dem neugebackenen Ehemann und seiner jungen Eheliebsten gekommen, indem diese sich standhaft geweigert habe, das elterliche Haus zu verlassen und ihrem Eheherrn und Gebieter auf dessen Gutshaus Sobbowitz zu folgen. Dem sei schließlich die Galle übergelaufen, er habe die hartnäckig Widerstrebende im geeigneten Moment unversehens in seine Arme gehoben und sie unter dem Jubel der männlichen Hälfte der Gäste in seine bereits vor der Haustür wartende vierspännige Karosse getragen, worauf er ungesäumt mit ihr in die stockdunkle Novembernacht davongefahren sei. Man könne hoffen, so wurde verschiedenen neugierig Weiterfragenden bedeutet, daß das kuriose junge Paar heil an Ort und Stelle angelangt sei, da man inzwischen nichts Gegenteiliges gehört habe, sonach alles Folgende sich in der auch sonst üblichen Weise vollzogen haben werde, wie sich männiglich bei einiger Vorstellungskraft selbst ausmalen könne.

Wo hätten derlei Klatsch und Gerüchtemacherei einen fruchtbareren Boden zum Fortwuchern finden können als etwa in den Verkaufsgewölben eines Andreas Hünefeld und seiner anderen buchhändlerischen Zunftgenossen, die mit den Auslagen ihrer frisch aus der Presse gekommenen Geistesschätze oder seltener altertümlicher Drucke, Kupferstiche und Holzschnitte stets eine Schar von Liebhabern anlockten und allmählich zu einer Art von Neuigkeitsbörse geworden waren. So erfuhr denn auch Herr Opitz von Boberfeld bei einer seiner regelmäßigen Visiten im Hünefeldschen Verkaufsgewölbe von den Vorgängen auf der Hochzeit im Schwarzwaldschen Hause, und kein Geringerer als Herr Plavius, bis zu Opitzens Ankunft das unbestrittene Haupt der Danziger Dichtergilde, war es, der dem jüngeren und berühmteren Nebenbuhler und Kollegen die Kunde von den seltsamen Vorfällen zutrug. Er verfehlte auch nicht, seinen Bericht mit saftigen Marginalien aus der eigenen Geisteswerkstatt zu würzen, da er läuten gehört hatte, daß der »schlesische Kuckuck« – so bezeichnete er ihn im Kreise seiner Anhänger – irgendwie in jene Hochzeitsaventüre verwickelt sein müsse. So scharf er aber den andern auch ins Auge faßte, es gelang ihm nicht, ein stärkeres Aufhorchen in den Zügen dieses unleidlich Eingebildeten und Blasierten zu entdecken. Opitz hörte sich mit lächelndem Gleichmut alles an, was ihm da aufgetischt wurde, und verriet keine besondere Teilnahme für die Einzelheiten dieser die ganze Stadt beschäftigenden Hochzeitskomödie.

Dieser geriebene Bursche hat es faustdick hinter den Ohren sitzen, dachte Plavius bei sich und beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen.

»Seid Ihr denn bei der großartigen Hochzeit nicht in persona zugegen gewesen, Herr Herzogl. Rat?« fragte er mit unschuldiger Miene. »Es heißt doch, Ihr seid schon wie Kind im Hause bei den Schwarzwalds und den anderen Hochmögenden von der Hautevolee?«

Opitz schüttelte lächelnd den Kopf.

»Eure Gewährsleute haben Euch falsch unterrichtet, Meister Plavius. Ich muß es schon sagen so leid es mir tut, diesem artigen Spectaculo, über welches Ihr da berichtet, nicht persönlich beigewohnt zu haben. Denn es ist ja nicht an dem, daß ich bei den Schwarzwalds oder den anderen ›Hochmögenden‹ wie Kind im Hause sei.«

Sehr schade sei das eigentlich, meinte Plavius mit hochgezogenen Augenbrauen und dem sonoren Herzenston aufrichtigen tiefsten Bedauerns. Die Kunde stamme von sehr ehrenwerten und unterrichteten Leuten. Also nicht Hausfreund bei den Schwarzwalds und Kerschensteins? Nun, was nicht sei, könne ja immer noch werden.

Opitz schüttelte dem von Wohlwollen überfließenden Dichterkollegen mit ebenso heiligem Ernst die Hand und beteuerte, er werde es sich angelegen sein lassen, zufolge der gutgemeinten Ratschläge des Kollegen möglichst bald das Versäumte nachzuholen und sich um Zutritt zu den erwähnten großen Häusern der Stadt zu bemühen, wo er denn auch dem sicher längst dort beheimateten Herrn Plavius zu begegnen hoffe.

»Weit gefehlt, Herr Kollega!« donnerte auf diese der Ironie nicht ermangelnde Anspielung des »schlesischen Kuckucks« Herr Plavius. »Habe ich Euch nicht seinerzeit im ›Einhorn‹ expliziert, daß ein Plavius in dieser Böotierstadt dazu verurteilt ist, zeitlebens im Schatten zu stehen und in der Verborgenheit seiner häuslichen Klause seine Carmina und Oden zu dichten, die die Namen und die Lebensumstände aller dieser Hyperboräer auf die Nachwelt bringen werden? Aber glaubt nicht, daß ich deshalb mein Haupt mit Asche zu bestreuen gedenke. Eines schickt sich nicht für alle. Ihr, mein Herr von Opitz, seid der Abgott des heutigen Zeitalters und Säkulums. Neidlos sei Euch der Lorbeer gegönnt. Einem Plavius werden die Enkel dieser heutigen Pfeffersäcke und Strohköpfe den ihm gebührenden Lorbeer um das Grabkreuz winden.«

In dem Auge des rasch enteilenden Kollegen, der sich von seinem Zeitalter verkannt fühlte, glaubte Opitz eine Träne blinken zu sehen, und es fehlte nicht viel, daß ihn selbst darob eine plötzliche Rührung überkommen hätte. War diese pathetische Träne des andern nicht wie ein winziger Spiegel, worin er sein eigenes Bild, tragisch verklärt, wiedererkannte? Wie mancher geheimen Anwandlung erinnerte er sich, da er sich selbst als ein Fremdling in seinem Zeitalter und unter seinen Mitlebenden vorgekommen war!

Unwillig schüttelte er den Kopf. Da war wieder dieser Hang, mit sich selbst zu rechten, sich in die Züge seines eigenen inneren Abbildes hineinzuversenken und hineinzubohren, um ihn zuletzt Auge in Auge mit einem großen leeren Nichts zurückzulassen, vor dem ihm halb graute, halb schwindelte.

Fast von Kindesbeinen an hatte er dies in Übung gehabt, sich selbst, seiner eigenen geheimsten Natur, seinem Kardinalpunkt, wie man es nennen konnte, seinem Zentrum nachzuspüren und nachzuforschen, mochte dies nun ein ihm schon in die Wiege gelegtes verhängnisvolles Patengeschenk der Musen an den künftigen Dichtersmann sein oder womöglich ein spätes Erbteil des längst abgetanen alten Glaubens der Vorvordern, der neben der öfteren Beichte auch eine peinliche Gewissenserforschung jeweils im Vorgespann gehabt hatte.

Schon oft genug hatte er diesen zweiten Opitz, der ihm die schöne innere Ruhe und Gewißheit nahm, diesen lästigen Mitbruder seiner selbst, diesen Blutsauger und Parasiten, der an seiner Seele zehrte, zu allen Teufeln gewünscht und in den Kämpfen ums tägliche Brot der letzten Jahre auch schon dieses Wunsches Erfüllung zu erleben geglaubt. Nun, da es ruhiger um ihn zu werden, sein Lebensschifflein in eine stillere Zone gelangt zu sein schien, erblickte er neben sich, in sich wieder diesen fatalen Doppelgänger, der so etwas wie sein zweites Ich sein wollte und zu allem Überfluß sich auch noch zum Richter über den ersten, den eigentlichen und wahren Opitz aufwarf.

In diesen nun anbrechenden winterlichen Monden, die mit ihrem immer knapperen Sonnenlicht und der Finsternis der endlos langen Nächte die Menschenkreatur an ihre eingeborene Enge und Begrenztheit in einer oft schaurigen und unheimlichen Gotteswelt gemahnte, kam dem alternden Poeten, mit den wieder öfter sich meldenden Besuchen jenes lästigen Doppelgängers und Mahners, von neuem und stärker noch als je vordem das Bewußtsein dieser inneren Zwiespältigkeit und Zerrissenheit, die er längst von sich getan zu haben meinte. Es wollte ihm nicht aus dem Sinn, was Plavius über die merkwürdigen Facta bei der Proenschen Hochzeitsfeier aufzutischen gewußt hatte.

Auf wie einfache Weise war doch dieser Proen, dieser Gewaltmensch, mit dem kindischen und dennoch begreiflichen Trotz und Eigensinn eines verwöhntem jungen Frauenzimmers fertig geworden! Er hatte zum Mittel der Gewalt, zum Recht des Stärkeren gegriffen, wie es ihm als Mann und Eheherrn zukam, und hatte damit einen Schimpf von sich abgewandt, der andernfalls untilgbar an seiner Person und seinem Namen haften geblieben wäre. Wie erbärmlich schwach mußte er selbst, Opitz, sich vorkommen, wenn er sein eigenes Verhalten gegenüber Marie Dorothee an der Mannhaftigkeit des anderen maß! Hätte er nicht in jener Abendstunde, als das Mädchen mit dem lodernden Kienspan in Atemsnähe vor ihm stand, von der kaum noch Widerstrebenden alles, alles haben können, wonach seine hungernden und durstenden Sinne verlangten? Freilich war da ein Unterschied, ein Quentchen Unterschied, das für ihn selbst in die Waagschale fiel. Wenn Proen von seinem eheherrlichen Recht Gebrauch machte, welches Recht hätte denn ihm selbst auf das ihm vertrauende Mädchen zugestanden? Hatte sie ihm nicht offen bekannt, daß Nigrinus sie heimzuführen gedenke, und lag darin nicht zugleich eine Art von Geständnis, daß sie sich schon halb und halb als dessen Zukünftige betrachte? Wäre es also nicht ein Bruch des Gastrechtes gewesen, sich an der Erwählten eben dessen zu vergreifen, der ihm großherzig ein Obdach bei sich gewährt hatte?

Wenn Opitz in dem vielfältigen Hin und Her seiner Skrupel und Zweifel bis zu diesem Punkt seines Seelenlabyrinths gekommen war, so konnte er mit Fug und Recht sich als ein in makelloser Reinheit Dastehender erscheinen. Der Haken hierbei war leider nur, daß ihm dieses Bewußtsein gar keine Befriedigung und Genugtuung gewähren wollte, daß er sich vielmehr als ein rechter Dummkopf vorkam, der von der Minute ausgeschlagen hatte, was keine Ewigkeit ihm wiederbringen konnte. Er dachte an seine jungen Jahre zu Heidelberg im Kreise der stürmenden Gleichgesinnten zurück, an die Zeit in Lutetias lusterfüllten Mauern, an alles, was ihm in den Niederlanden, im dänischen Jütland bis zuletzt noch in jenem siebenbürgischen Exil begegnet war: war nicht überall Frau Venus seine Göttin, seine Gebieterin gewesen, zu deren Hofstaat er – beinahe ein zweiter Tannhäuser – gehört hatte? Wäre es ihm damals in den Sinn gekommen, vor einer Blume, deren Kelch sich ihm willig darbot, haltzumachen, nur weil sie in eines andern Garten blühte? Welch absurder Gedanke! Er mußte selbst darüber lächeln. Aber es war kein Lächeln des Vergnügens. Es war ein Lächeln der Bitterkeit, der Resignation.

Kein Zweifel! In jener Abendstunde mit Marie Dorothee hatte sich das Alter bei ihm gemeldet. Darum sein Zaudern in dem entscheidenden Augenblick! Und ungenutzt war er ihm unter den Händen zerronnen!

Ein maßloser Schrecken befiel den grübelnden Poeten mitten in diesem Werke der Selbstzerfleischung. Er hatte von jeher vor nichts so gebangt, wie vor der grauen, hexenhaften Gestalt, die eines Tages über seine Schwelle humpeln und sich ihm als das Alter vorstellen würde. Und nun war es eine blonde blühende Jugend, hinter der unsichtbar jene gefürchtete Alte sich in seine Studierstube gestohlen hatte, um sich bei ihm niederzukauern und ihn fortan nicht mehr zu verlassen. Welch eine blutige und grausame Ironie lag in diesem höhnischen Versteckspiel, von dem er sich hatte zum Narren halten lassen, anstatt fest und keck Fortuna beim Mantel oder bei der Locke zu ergreifen! Hätte dieses Mädchen, diese Cynthia, wie er sie in seinen Träumen benannte, in jenem Augenblick nicht ebensogut die Seine werden können, anstatt diesem großmäuligen Prediger und Gottesmann zuzufallen, der sie wie eine ihm gehörige reife Pflaume vom Baum pflückte? Ja, konnte sie ihm nicht jetzt noch zufallen, wenn er nur den festen Willen dafür aufbrachte, und wäre es nicht anders, selbst am Altar des Allerhöchsten? Wie, wenn schließlich dies der rettende Ausweg wäre, die einzige Pforte, die sich auftäte, um ihm vor einem einsamen Alter entrinnen zu helfen?

Fortan faßte dieser Gedanke Wurzel in der Seele des mit sich Hadernden und begann mehr und mehr Besitz von ihm zu ergreifen. Und Zug um Zug, im gleichen Schritt hiermit, lockerte sich das Band eines engen, fast herzbrüderlichen Vertrauens, das von Anfang an Opitz mit dem streitbaren Prediger verbunden hatte. Die fast allabendlichen Gespräche und Disputationen über alle Fragen der Gottesgelahrtheit und des orbis terrarum, wobei gelegentlich ein Krug schwer eingebrauten öligen Jopenbieres aus des alten Hewelke Brauerei oder an Festtagen eine Bouteille roten Franzweines die Zungen gelöst und die Geister beflügelt hatte, waren seltener und seltener geworden und seit Opitzens Abwesenheit in Thorn nicht wieder aufgenommen worden. Wenn die beiden Männer sich jetzt auf dem Beischlag oder im Vorhaus begegneten, so war es nicht mehr wie in der ersten Zeit ein fröhlicher, von Herzen kommender Gruß oder Zuspruch des einen zum anderen, etwa eine Verabredung auf den Abend oder das schnelle Aufblitzen eines disputationsreifen Themas, dem mit allen Mitteln einer geschulten Logik zu Leibe zu gehen beide gleich begierig waren. Verschlossen, verdrossen, mit stummem Gruß, um so förmlicher, je feindseliger man fühlte, ging jeder am andern vorbei, kaum daß die Blicke sich noch streiften oder – je nachdem – angriffslustig sich ineinander hefteten.

Ein Lichtblick war es in diesen dunklen Novembertagen für Opitz, als er vom Ratsherrn und Kämmerer Kerschenstein ein wohlstilisiertes lateinisches Dokument erhielt, worin ihm dieser unter Beifügung des städtischen Siegels kund und zu wissen tat, daß er vom Bürgermeister Zierenberg im Namen des Rats der Stadt Danzig bevollmächtigt sei, ihm, dem Herzogl. Rat und Magister Opitz von Boberfeld, eine gewisse, in anständiger Höhe bemessene Summe als Zuschuß zu seiner Lebenshaltung nicht nur, sondern auch als verdienten Ehrensold für seine Verdienste um die Stadt Danzig in Gegenwart und Zukunft zunächst auf die Dauer des jetzigen und des kommenden Jahres auszuzahlen.

*

Nicht lange vor Beginn der Adventszeit verbreitete sich aus Ratskreisen, die es wissen konnten, die Nachricht in der Stadt, daß zu Anfang des neuen Jahres König Wladislaw IV. aus Warschau, wo er augenblicklich Hof hielt, für mehrere Tage zu Besuch nach Danzig kommen werde. Eine solche Staatsvisite einer polnischen Majestät in dem alten hansich-deutschen Gemeinwesen, das erst knapp zwei Säcula als Freie Reichsstadt mit eigenen Privilegien bei der Krone Polens war, zählte zu den Seltenheiten. Der gegenwärtige König Wladislaw aus dem schwedischen Wasahause hatte seit seiner vor einigen Jahren erfolgten Thronbesteigung seinen Fuß noch nicht auf Danziger Boden gesetzt und war damit der Übung seiner Vorgänger auf dem polnischen Thron gefolgt, die es ratsam gefunden hatten, auf die stets rege politische Empfindlichkeit der maßgebenden Danziger Gewaltigen Bedacht zu nehmen und die Zügel ihrer königlichen Oberhoheit nicht zu straff anzuziehen. Man hielt es beiderseits für klüger, einander nicht zu nahe zu kommen und unnütze Reibereien zu vermeiden. Es gab in Danzig nicht einmal eine eigene Residenz für den König, die ihm bei einem etwaigen Besuch als würdiges Unterkommen hätte dienen können. Er war, sofern es ihn gelüstete, seinen Einzug in die deutsche Hansestadt zu halten, ganz und gar auf das Entgegenkommen des Rates der Stadt und auf die Gastfreundschaft des einen oder anderen Patrizierhauses angewiesen. Lediglich für seine gottesdienstlichen Bedürfnisse hatte die durchaus lutherische Stadt mit der vor etwa fünfzig Jahren erbauten königlichen Kapelle Sorge getragen.

Dessenungeachtet war es unleugbar, daß ein jeder derartiger Staatsbesuch einer polnischen Majestät als ein bedeutendes politisches Faktum anzusehen war und in diesem Sinne auch von Hoch und Nieder in Danzig besprochen wurde. Im Rathaus wiegte man die Köpfe, und manche Perücke eines besonders besorgten Stadtvaters geriet bedenklich ins Wackeln. Man sah neue Ansprüche und Forderungen der ewig schwindsüchtigen polnischen Kronschatulle an den Stadtsäckel voraus.

Anders die Stimmung in der dritten Ordnung, deren Kern aus der eigentlichen Bürgerschaft, den kleineren Handeltreibenden und den Handwerksmeistern der Zünfte bestand. Hier versprach man sich von der polnischen Visite, die ohne Zweifel außer den Großwürdenträgern auch ein ganzes Heer von Angehörigen der Schlachta in die Stadt führen würde, einen reichen geschäftlichen Erntesegen und fragte nicht viel nach den politischen Sorgen Weiterblickender. War es doch männiglich bekannt, daß der polnische Edelmann sich weder zu Hause noch unterwegs lumpen ließ und ihm die Dublonen um so lockerer saßen, je tiefer er in Schulden stak.

Mit besonderen Erwartungen und ganz ungetrübt durch die politischen Bedenken ihrer männlichen Ehehälften sah die Damenwelt der patrizischen Kreise dem angekündigten Besuch entgegen. König Wladislaw galt als ein untadeliger Kavalier, der noch dazu bis dato unbeweibt war, wenn es auch hieß, daß er in Bälde die Prinzessin Maria Ludowica von Mantua als Gemahlin heimführen werde. Von den ihren König begleitenden polnischen Großen konnte man auch gewiß sein, daß sie in Tanz und Spiel und sonstiger gesellschaftlicher Kurzweil nicht hinter der Majestät zurückstehen würden, sonach für Unterhaltung und Abwechslung in der Fastnachtszeit des neuen Jahres hinreichend gesorgt sein werde.

Martin Opitz, der sich in die halb gelehrte, halb dichterische Arbeit der schon früher in Angriff genommenen, dann aber liegengebliebenen Übertragung jenes mittelalterlichen Versepos' vergraben hatte, erfuhr von der bevorstehenden Königsvisite wie von anderen Vorgängen in der Stadt durch Andreas Hünefeld, seinen einzigen regelmäßigen Besucher während dieser dunklen Novemberwochen. Zwischen dem emsigen, geschäftskundigen Buchhändler und Zeitungsschreiber und dem viel umhergewürfelten und nicht minder welterfahrenen Poeten und Humanisten hatte sich eine Annäherung zweier verwandter, um Geltung und Einfluß ringender Naturen entwickelt. Martin Opitz, von den beiden gleichgesinnten Geistern zweifelsohne der Überlegene und auch weitaus besser um sich selbst Bescheid Wissende, mochte sich dabei nicht verhehlen, daß in dieser Allianz mit dem Herausgeber der »Danziger Relationen« nur von nüchterner Überlegung, von praktischer Vernunft, nicht aber vom Freundschaftsbund der Herzen die Rede sein konnte. Der Dichter, der mit dem einstigen Feuer seiner jungen Jahre sich in so manchen inzwischen längst verrauchten Freundschaftsrausch gestürzt hatte, war mit der Zeit besonnen und ernüchtert genug geworden, um nicht das Trügerische aller derartigen Emotionen zu durchschauen, von denen eine jede im Grunde nichts anderes war als immer wieder nur ein Schritt seitab von jenem unverbrüchlich festzuhaltenden Wege, auf dem allein man hienieden zu Ruhm, Ansehen und den zwar nur allzu vergänglichen, jedoch darum nicht minder begehrenswerten irdischen Gütern gelangte. Aber trug denn das Bündnis mit dem Zeitungsschreiber, wenn er es mit dieser Zielrichtung ins Auge faßte, nicht gerade alle Kennzeichen eines klaren und zweckbewußten Beginnens, um frei von aller Überspanntheit auf dem verheißungsvollen, aber dornigen Boden dieser Stadt der reichen Schiffsreeder und Getreidemakler festen Fuß zu fassen und es zu Geltung und Ansehen und dem nicht zu verachtenden irdischen Mammon zu bringen?

»Wie habt Ihr Euch eigentlich hereingefunden in unsere Böotierstadt, um mit unserem Freunde und Mitbruder Plavius zu reden, der manchmal eine veritable Giftspritze ist?« fragte Hünefeld, als er an einem dieser frühdämmernden Novembernachmittage in Opitzens Studierzimmer saß, und musterte über seine großen runden Brillengläser hinweg den vor sich hinsinnenden Poeten. »Euer Hochwohlgeboren weilt nun lange genug am hiesigen Ort. Ich habe Euch schon mehrmals um Euer Urteil angehen wollen.«

»Bei allen Göttern! Was fragt Ihr mich?« rief Opitz, aus seinem Sinnen aufgeschreckt. »Habe ich auch nur die geringste Ursache, gegen irgendwen oder irgendwas hierorts Beschwerde zu erheben? Bestehen nicht vielmehr sehr plausible Gründe für mich, dieser Stadt, die in meinen Augen keineswegs von Böotiern bewohnt wird, die ich eher eine Pflanzstätte Apolls und aller neun Musen nennen möchte ...«

»Bis auf die Dunghaufen in der Hundegasse und in der Pfefferstadt!« fiel Hünefeld ihm ins Wort.

»Ihr habt eine lose Zunge, Freund Hünefeld!« erwiderte der Poet und schüttelte lächelnd den Kopf. »Mich nimmt's wunder, wie Ihr damit im Leben habt durchkommen können!«

»Ihr braucht nur den alten Vater Homerus wieder einmal vorzunehmen. Was steht da über den Spötter Thersites zu lesen, der dem göttlichen Ajax und den andern Myrmidonen alle paar Tage gründlich übers Maul fuhr?«

Opitz lachte.

»Dafür aber auch alle paar Tage seine gehörige Tracht Prügel bezog!«

Auch Hünefeld lachte in seiner gleichsam unterirdischen Art.

»Darauf muß man als Thersites täglich und stündlich gefaßt sein.«

»Wem's nicht darauf ankommt ...!« meinte Opitz achselzuckend. »Mein Fall wäre es nicht! Man liebt sie nicht, die Thersitesse!«

»Aber man fürchtet sie!« fiel der Buchhändler ein.

»Ich würde es vorziehen, geliebt zu werden,« erklärte Opitz.

»Und weil man sie fürchtet, läßt man sie schließlich gewähren,« fuhr Hünefeld gleichmütig fort. »Wie man auch nach einer Wespe, die einem fortwährend um den Teller fliegt, wohl zuerst schlägt, aber ihr am Ende den Weg freigibt. Habt Ihr noch nie bedacht, Herr Herzogl. Rat, daß der besagte Thersites heil und munter von Ilions Mauern nach Hause kam, was man von Achill und so manchem andern göttlichen Helden nicht behaupten kann? Also wer hat den längeren Atem gehabt, Achilles oder Thersites? Item! So seht Ihr auch mich noch gut bei Atem und nicht minder bei Zunge, so lose sie mir sitzen mag, wie Ihr vorhin schmeichelhafterweise bemerktet.«

»Möge Euch die Zukunft recht geben,« schloß der Dichter. »Aber traut dem Frieden nicht allzusehr und gedenkt meiner Warnung.«

Der Buchhändler musterte den andern, der sich nachdenklich den Spitzbart strich, mit einem forschenden Blick.

»Wißt Ihr am Ende schon etwas, was sich gegen mich oder gegen mein hiesiges Unternehmen kehren könnte, Herr Herzogl. Rat? Ihr sprecht, als sei Euch dies oder jenes zu Ohren gekommen?«

»Nicht im geringsten, Freund Hünefeld!« wehrte Opitz lächelnd mit einer Handbewegung ab. »Wie sollte ich auch? Ich sitze ja Tag für Tag in meiner Clause, die beinahe schon eines Karthäusers würdig wäre ...«

»Nun, nun!« fiel Hünefeld hier ein und verzog sarkastisch den Mund. »Gehabt Euch nicht gar zu heiligmäßig! Ist mir doch, als hätte ich hier schon auf der Treppe und nicht allzufern der Klinke Eurer Stubentür ein gewisses hellblondes Jüngferchen herumstreichen sehen, die mir nicht recht zu der Mönchsklause passen will?«

Opitzens Gesicht verdüsterte sich.

»Es ist Marie Dorothee, meines Gastgebers Nigrinus Schwesterkind. Mich bedünkt, er will sie zum Weibe nehmen nach seiner unlängst verewigten ersten Seligen.«

»Ah! Und da läßt man besser die Finger davon! Ich verstehe!« spöttelte der Buchhändler.

»Verübelt es mir nicht, Freund Hünefeld,« erwiderte Opitz stirnrunzelnd, »wenn ich hinter diesem für mich abgeschlossenen Kapitel einen dicken Punkt und Gedankenstrich mache.«

Der andere konnte sich jedoch nicht enthalten weiterzuspötteln.

»Brauche ich Euch, Herr Herzogl. Rat, als einem so großen Schriftgelehrten, der Ihr doch seid, noch zu sagen, daß ein Gedankenstrich den Leser oder Hörer immer auf allerlei Gedanken bringt, ja geradezu darum da zu sein pflegt?«

»Macht Euch Euren Vers darauf, so gut Ihr könnt,« erwiderte Opitz mit einer halb und halben Miene, die das eigene Wort eher in Zweifel zu stellen als zu bestätigen scheint. »Mir steht es nicht an, den Schleier über Dingen zu lüften, die nicht mich allein betreffen.«

Er machte einige Schritte in die sich schon vertiefenden Schatten des dämmerigen Gemaches hinein, wie um jenen Schleier des Geheimnisses noch dichter um sich zu ziehen.

Auch Hünefeld war aufgestanden und folgte den Schritten des Dichters.

»Verzeiht, Herr von Boberfeld, wenn ich, wie es etwa den Anschein haben könnte, mich in Euer Vertrauen hineinzustehlen suche. Aber mich will bedünken, die uns beiden in ihrer Launenhaftigkeit wohlbekannte Dame Fortuna habe nicht ganz umsonst unser beider Lebenspfade sich kreuzen lassen, und es walte ein tieferer Sinn hinter unserer Begegnung. Nehmt es als mehr denn eine bloße Huldigung vor Eurem dichterischen Ingenio, wenn ich Euch bekenne, daß ich mich von der ersten Stunde an, da ich Euch in meiner Bücherhöhle erscheinen sah, durch Euer courtoises Auftreten, durch Euer savoir vivre gefesselt fand, wie selten von einem Exemplar generis humani, die mir im allgemeinen gestohlen bleiben können.«

Opitz war auf der Wanderung durch seine Stube unwillkürlich stehengeblieben, festgehalten durch die Worte des anderen. Auch Hünefeld hemmte seinen Schritt, um dann mit Eifer seine Rede fortzusetzen.

»Aber ich will nicht von mir sprechen, der ich an Euch gemessen nur ein kleiner Mann bin. Nein, nein!« machte er auf eine ablenkende Gebärde des Dichters, »mißversteht mich nicht! Bescheidenheit ist nicht gerade meine stärkste Seite und gewiß nicht mein in die Wiege gelegtes patrimonium. Aber ich hab' ein gutes Augenmaß und vermag zu unterscheiden, wem ich nur bis an die Schulter reiche, es sind ihrer nur wenige. Ihr seid so einer, und wer mir nur bis an die Schulter reicht, das ist die große Mehrzahl, eigentlich eine einzige große plebs, die Menschheit!«

Er hatte sich etwas außer Atem gesprochen und schwieg ein paar Augenblicke. Opitz hatte ihm regungslos zugehört. Jetzt setzte er sich.

»Nun gut! Sprecht! Worauf wollt Ihr hinaus?«

Der Buchhändler und Zeitungsmann rückte an seiner Brille und strich sich über die Stirn.

»Ja, worauf will ich hinaus? Euch eine Allianz mit mir vorschlagen. Das wäre der langen Einleitung kurze Konklusion. Ihr scheint verwundert?«

»Nicht im geringsten, Freund Hünefeld! Schon seit unserer ersten Begegnung, auf die Ihr Euch vorhin bezogt, damals in Eurem Büchergewölbe, bewegt mich ein ähnlicher Gedanke.«

»So habe ich also richtig diviniert!« rief Hünefeld. »Mein kleiner Finger oder auch mein Dämon, man kann es so oder so nennen, hat es mir verraten! Ihr schlagt in meine dargebotene Hand ein?«

Opitz ergriff die ihm entgegengestreckte Rechte des andern und schüttelte sie kräftig.

»Wir sind also einig! Ein jeder von uns beiden tritt für den andern ein. Ihr mit Euren Beziehungen in der Stadt!«

»So wie Ihr mit den Eurigen in aller Welt!«

»Auch Ihr habt ja Eure Beziehungen hinaus in die Welt. Eure gedruckten ›Relationen‹! Euer Zeitungsblatt, das Ihr unter Mitwissenschaft des Rats im tiefsten Geheimnis ans Licht bringt!«

Opitz hatte ein fröhliches Lachen, wie schon seit längerer Zeit nicht, und auch der Zeitungsmann stimmte mit seinem unterirdischen Kichern ein.

»Wie wäre es, mein hochgeschätzter poeta laureatus,« meinte er, »wenn Ihr mir zum Abdruck in meinem ›Aviso‹ eine anmutige und herzergreifende Meditation über die derzeitigen Kriegsläufte und -nöte für meine draußen im Reich davon betroffenen Abnehmer und Leser verfaßtet?«

»Wie ich sie schon einmal in Worte brachte,« nickte der Dichter. »Damals vor Jahren in Jütland. Als das gewaltige Kriegsgewitter grade zu toben begann. Wer hätte damals gedacht, daß es sich bis dato noch immer nicht ausgetobt haben würde!«

»Vielleicht könntet Ihr jene einstige Meditation zur Grundlage Eurer heutigen machen. Der Abstand zwischen damals und heute wäre ein richtungweisender Fingerzeig,« bemerkte der Zeitungsmann, der den einmal aufgegriffenen Gedanken nicht wieder wollte fallen lassen.

»Stellen wir es Klio oder einer der anderen neun Musen, deren Sache dies ist, anheim!« entschied der Poet und klopfte dem rundlichen kleinen Mann befriedigt auf die Schulter.


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