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Unter dem immerwährenden Donnergrollen des bald näheren, bald ferneren Kriegsgewitters am Horizont waren über der wehrhaften Stadt die Jahre nach dem Gesetz der Vergänglichkeit dahingezogen. Es ging nun schon einige Monate in das vierte Jahr, seit Martin Opitz von Boberfeld, der in allen deutschen Gauen berühmte Verfasser der »Deutschen Poeterey«, zum erstenmal der Türme von Sankt Marien und Sankt Katharinen ansichtig geworden und in den Bannkreis Danzigs getreten war. Er war mit seinen Spitzenmanschetten und dem großen weißen Spitzenkragen über der dunklen Gelehrtentracht längst eine von jedermann gekannte Erscheinung in den Gassen und auf den Spazierwegen vor den Wällen und Toren der Stadt geworden, und manches Gesicht von Neugierigen, nicht zuletzt der vorüberwandelnden Frauen und Mädchen, wandte sich nach dem immer in tiefes Sinnen versunkenen berühmten Manne mit dem gepflegten alamodischen Äußern um.
In der guten Gesellschaft Danzigs, die sich vor Fremden sonst streng zu verschließen pflegte, war er überall ein willkommener Gast geworden. Und längst war die Zeit vorbei, wo man ihn in Rats- und Bürgermeisterkreisen ob geheimen Einverständnisses mit gewissen polnischen Aspirationen auf die Freiheiten Danzigs beargwohnt hatte. Die Bereitwilligkeit, mit der er vor Jahren dem ihm erteilten Wink, sich während des polnischen Königsbesuches zurückgezogen zu halten, Folge geleistet hatte, war unvergessen geblieben und hatte gute Früchte getragen. Sein Jahressalär war ihm bald danach auf unbestimmte Zeit verlängert worden.
»Man scheint mir also in rebus politicis endlich zu trauern,« hatte sich der Dichter damals gesagt. »Oder man hält mich auf diesem Felde, wo ich auch wirklich nichts zu suchen habe, für gänzlich abgetan und bewilligt mir das Gnadenbrot. Nun gut! Non olet, sagte jener römische Imperator. Warum sollte ich strenger darüber denken als er? Werde wohl meiner Lebtag ein fahrendem Vagant bleiben, so von den Brosamen der Mächtigen lebt, wie weiland mein großer olympischer Ahnherr, der Vogelweider.«
Es war wieder einmal Silvestertag, und ein glückliches Friedensjahr, das der Stadt zu den früheren vom Himmel geschenkt worden war, neigte sich zur Rüste. Tagsüber hatte ein wilder Schneesturm durch die Gassen gefegt, der mit Abendwerden immer mehr nachließ und schließlich in einen sanften dichten Flockenfall überging. Martin Opitz, der noch immer sein Gelehrtenheim im Hause des Predigers Nigrinus bewohnte, hatte, um dem bedeutungsvollen Tage einen würdigen Abschluß zu geben, seine beiden ihm im Augenblick am nächsten stehenden Freunde, den Drucker und Verleger Hünefeld und den Professor der Mathematik und der Poetik am Gymnasio Academico Peter Krüger, mit dem er seit einiger Zeit in eine engere Beziehung gekommen war, zu ein paar Gläsern Punsch bei sich eingeladen.
Am Vormittag des Tages war Jochen, der Reitknecht des Hauses Kerschenstein, mit einem großen Korb am Arm bei ihm erschienen und hatte ihm von seiner Gönnerin Constanzia eine Anzahl verstaubter, recht vertrauenswürdig sich anlassender Flaschen franzmännischen und hispanischen Weins als Abschiedsgruß des alten Jahres und Bewillkommnung des vor der Pforte stehenden neuen auf den Tisch gestellt. Sie kamen grade recht für den heutigen Abend, für den sonst der vorhandene Stoff am Ende nicht gereicht hätte. Denn sowohl Hünefeld wie Peter Krüger waren wackere Zecher, die nicht so leicht die Waffen streckten, und Opitz, als ein Sohn des Ostens, hatte in seinem bewegten Leben auch so manchen guten Trunk getan.
Er hatte aus seinem bescheidenen Junggesellenhausrat zwei silberne Leuchter, Geschenke des Grafen Dohna unerfreulichen Angedenkens, hervorgeholt und ein paar dicke Wachskerzen daraufgesteckt. Sie würden gut und gern die wenigen noch übrigen Stunden des alten Jahres vorhalten, so daß man in ihrem weichen Licht dem Abschiedsgruß der Mitternachtsglocken entgegenharren konnte.
Als erster erschien, pünktlich wie immer, mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde auf Sankt Marien, Andreas Hünefeld und brachte aus den Taschen seines Wolfspelzes einige sorgfältig in Papier verpackte Präsente zum Vorschein. Es war außer einem großmächtigen Pfefferkuchenherz noch ein gewichtiger Ballen dabei. Vorsicht! mahnte der Buchdrucker, als die beiden Männer sich ans Auspacken machten. Es seien Flaschen darin. Ein guter Portugieser Tropfen, grade noch vor Einbruch des winterlichen Frostes von Oporto für Rechnung des Weinhändlers Kopp in der Paradiesgasse hier angelandet. Man könne ihn vielleicht als Einleitung des Festgelages kredenzen.
Gesagt getan. Schon war der Stöpsel entfernt. Der dunkelgoldene Tropfen funkelte in den bunten Venediger Kelchgläsern, dem sorglich gehüteten Schatz des Dichters, den er von seinen Kreuz- und Querfahrten durch Europas Lande glücklich bis hierher gerettet hatte. Die beiden Männer ließen die Kelche gegeneinander klingen und tranken sich zu.
Man hätte wohl auf Peter Krüger warten sollen, meinte Opitz, dessen Gewissen sich regte. Aber Hünefeld tat das Bedenken kurz ab. Auf Peter Krüger sei mit Einladungen kein Verlaß. Vielleicht lasse ihn Malchen, seine Wirtschafterin, im Kreise der Eingeweihten der »Bär« genannt, nicht fort. Sie halte ihm Haus und Bett warm und ihn selbst gehörig unter der Fuchtel. Er könne ebensogut erst um Mitternacht erscheinen. Ob man denn derweil verdursten solle?
Aber kaum war dies gesagt, als draußen auf der Treppe Schritte, offenbar im Dunkeln aufwärts stolpernd, die anzügliche Rede des Spötters zu widerlegen schienen.
»Er kommt! Da habt Ihr's!« rief Opitz und eilte, einen Leuchter in der Hand, zur Tür, die er weit öffnete.
»Seid Ihr's, Freund Krüger? Ich leuchte Euch! Brecht Euch nicht den Hals!«
»Es wäre die genialischste id est bündigste und schlüssigste Katharsis, die sich für das jämmerliche Machwerk von Tragödia finden ließe, so sich Leben benamset!« gellte die Stimme des aus dem Dunkel der Treppe in den Lichtschein der Kerze Eintretenden. »Bei allen Göttern des Olymps! Warum habt Ihr mir geleuchtet, Maestro Opitz? Es läge jetzt schon alles hinter mir.«
Der Ankömmling warf seine schneebedeckte Kapuze, die er nach welscher Art zu tragen liebte, in kühnem Schwunge, daß die nassen Flocken in der Stube herumstäubten, auf einen an der Wand stehenden Schemel und trat näher an den Tisch mit den Weinflaschen heran. Opitz, der ihm gefolgt war, stellte die Kerze wieder auf den Tisch.
»Nehmt Platz, wo Ihr solchen findet, Freund Krüger,« sagte er und setzte sich ebenfalls. »Sagt mir doch,« fuhr er fort, den andern näher ins Auge fassend, »was ficht Euch an? Habt Ihr's wirklich so eilig, zum Kocytus hinabzusteigen und die Schar der auf den stygischen Gefilden Traumwandelnden durch Euren höchsteigenen Schatten zu vermehren?«
Krüger hatte sich auf einen Stuhl geworfen, daß es krachte, und stützte den mächtigen Kopf auf die erhobene Hand.
»Und wenn es so wäre?« erwiderte er. »Was ließe sich dawider einwenden? Wofern Ihr zu wählen hättet, Freunde, was wäre vorzuziehen? Ein Ende mit Schrecken, nicht länger als ein paar flüchtige Sekunden, oder ein Schrecken ohne Ende? Wie es meinem erhabenen Protektor und Gönner, dem göttlichen Galileo Galilei, leider hat widerfahren müssen, der auf der Folter den Lohn dafür erntete, daß er dem Menschengeschlecht die Gesetze der im Weltall kreisenden Sonnen und Sterne enthüllte, hierin die Erkenntnisse unseres unsterblichen Landsmanns Kopernikus ...«
»Eigentlich Käpernick geheißen,« warf Hünefeld dazwischen.
»Die Welt kennt keinen Käpernick! Die Welt kennt nur einen Kopernikus, dessen leuchtende Bahn mein großer Lehrer Galilei fortsetzte, um zu guter Letzt deshalb auf die Folterbank zu kommen. Hätte er nicht klüger getan, sich vorher den Hals zu brechen?«
Der Dichter nickte mehrmals zustimmend.
»Es ist schon so, wie Ihr sagt,« erwiderte er mit melancholischem Lächeln. »Es läßt sich kaum etwas dawider argumentieren.«
Der Buchdrucker hatte sich rittlings auf seinen Stuhl gesetzt und die Arme über der Stuhllehne verschränkt. So starrte er den Professor eine Weile unverwandt an, um dann mit der Frage herauszurücken:
»Wollt Ihr mit Eurem löblichen Vorhaben nicht wenigstens das Stündchen warten, bis die Neujahrsglocken läuten? Eis wäre schade um den trefflichen Portugieser und Hispanier, der Euch damit entginge. Besser, Ihr brecht zuerst mal diesen Flaschen die Hälse, ehe Ihr Euch den Euren brecht.«
Krüger holte zu einem kräftigen Schlage auf die Schulter des ihm Gegenübersitzenden aus.
»Den Nagel auf den Kopf getroffen, alter Schwarzkünstler! Euer Ratschlag ist angesichts dieser Flaschenparade nicht von der Hand zu weisen. Vertagen wir also die Abreise zum Acheron bis nach Neujahr. Sie läuft einem ja nicht weg. Auf ein paar Tage kommt es angesichts der Unendlichkeit, die uns erwartet, nicht an.«
»Wir werden Euch beim Wort zu nehmen wissen, Professor!« lachte Hünefeld. »Es gilt! Stoßt mit mir darauf an!«
Peter Krüger erhob sein Kelchglas gegen das seines Gegenübers.
»Es gilt! Gleich nach Neujahr! Auf die Unendlichkeit!«
Der Klang der beiden Gläser zirpte durch den Raum.
»Was ist denn mit Euch, Großmeister der ars poetica?« fragte Krüger, zu Opitz gewandt, der in sich versunken dasaß und in sein Glas stierte. »Ihr träumt? Wovon träumt Ihr?«
»Vielleicht von der Unendlichkeit, in die wir alle einmal eingehen werden,« erwiderte der Dichter. »Aber im Ernst, Ihr Herren! Treibt Ihr es nicht etwas zu weit mit Eurem Spiel vom Acheron und vom Styx? War mir's doch eben, als erblickte ich Freund Hein leibhaftig hinter Euch, wie er Euch über die Schulter guckte und mich angrinste!«
Krüger schlug eine helle Lache auf.
»Habt Ihr ihn auch erblickt? Justament so sah ich ihn Euch über die Schulter gucken! Also dann auf gemeinsame Fahrt zum Kocytus!«
Sie stießen zu dreien an.
»Achtung, Freunde!« rief Opitz. »Zerteppert mir nicht meine schönen Venediger Kelche! Mein einziger Reichtum, der mir aus meinen Schiffbrüchen geblieben ist!«
»Wollt Ihr sie etwa Euren Erben hinterlassen?« fragte mit einer schmetternden Lache Krüger. »Ihr vergeßt ganz, daß Ihr die Fahrt zum Kocytus mit mir gemeinsam anzutreten gedenkt?«
Opitz nickte zerstreut und ging zum Ofen, in dem Buchenklötze hellauf prasselten. Er hatte eine Anzahl Flaschen hispanischen und franzmännischen Weins in einen bereitstehenden Kessel entleert und setzte ihn auf die rotglühende Platte der Ofenröhre, deren er sich zum Kochen zu bedienen pflegte.
»Vorsicht!« rief Hünefeld. »Daß der Wein ja nicht zu sieden anfängt! Sonst ist der Spiritus zum Teufel!«
Der Dichter kam zum Tisch zurück und sah mit einem mitleidigen Achselzucken auf Hünefeld hinunter.
»Wollt Ihr Eulen nach Athen tragen? Es wäre das gleiche, als wenn Ihr mich das Punschbrauen lehren wolltet.«
Kardamom, Muskatnuß und Gewürznelken harrten in offenen Döschen des Augenblicks ihrer Vermählung mit dem bereits zum Brodeln sich anschickenden Gemisch in der Ofenröhre. Alle drei sprangen auf, um den entscheidenden Moment ja nicht zu verpassen. Aber der Dichter vertrat mit einer magischen Gebärde den allzu Eilfertigen den Weg.
»Hinweg, ihr vorschnellen Geister! Zurück auf eure Plätze! Ein Höherer waltet hier seines Amtes!«
Er trug den dampfenden Kessel zum Tisch, tat die bereitgehaltenen Gewürze in sorgfältig bemessenen Prisen in das wallende Gebräu, rührte es mit einem mächtigen Schöpflöffel gleichsam rhythmisch durcheinander und breitete zum Schluß segnend seine Hand über die lieblich duftende Flüssigkeit.
»Abracadabra Schiboleth!
All' Erdenlust verwelkt, vergeht.
Gleichwie der Dampf gen Himmel wallt,
So unser Geist entschwebet bald.
Denn alle Erdenlust zerstiebt, verweht.
Abracadabra Schiboleth.«
Der Dichter hatte die aus dem Augenblick geborenen Reime mit einer feierlich beschwörenden Stimme gesprochen und rief, während bereits von Sankt Marien der erste Stundenschlag der Mitternacht, zugleich mit dem majestätisch einsetzenden Glockengeläut herüberschallte, den beiden am Tisch stehenden Zechgenossen mit gebietender Stimme zu:
»Den Kehrreim sprecht mir nach, ihr Brüder der Mitternachtsstunde,« und gemeinsam erklangen die Stimmen des Dichters, des Professors der Poetik und des Zeitungsdruckers durch den Raum:
»Denn alle Erdenlust zerstiebt, verweht
Abracadabra Schiboleth!«
Sie stießen ihre zinnernen Becher aneinander und leerten sie auf einen Zug.
Hünefeld, der bei solchen Anlässen gern als Festredner aufzutreten pflegte, rief plötzlich in den hellen Becherklang und das dumpfe Glockengeläut hinein:
»Silentium, ihr Ritter vom Einhorn! Ihr Brüder der Mitternachtsstunde, wie Freund Opitz, der Horatius Flaccus dieses Säkulums, uns vorhin getauft hat! Wir haben soeben den Einzug des Jahres des Herrn 1639 durch das geöffnete Tor des Chronos feierlich mit Zauberspruch und Becherklang in solenner Manier begrüßt. Da geziemt es sich wohl auch, einen wenn auch vorwitzigen Blick in die Zukunft zu tun, als welche ja in der Silvesternacht für auserwählte Geister auf ein paar flüchtige Momente ihren Schleier zu lüften pflegt. Wisset denn, Ritter vom Einhorn, daß ich in meinen Rocktaschen, in der linken wie in der rechten, je eine Botschaft von Gewicht und Bedeutung für das kommende Jahr mit mir führe, die ich Euch schon längst hätte annoncieren können, mir aber klüglich für diesen Jahresanfang aufgespart habe. Die eine ist von saturnischer Art und kündet nahendes Unheil. Die andere dagegen trägt einen Zweig des Ölbaums vor sich her und das Geläut ihrer Silberglöckchen klingt gar lieblich in die Ohren.«
Krüger, der rasch hintereinander mehrere Becher des starken Punsches hinuntergestürzt hatte, sprang auf und rief:
»Heraus damit! Heraus mit Eurer Himmelsbotschaft und Eurem Rabengekrächze! Wollt Ihr Höllenhund uns noch länger auf die Folter spannen? Heraus damit! Heraus!«
»Welche von den beiden Botschaften, die ich Euch bringe, wollt Ihr zuerst vernehmen? Die segensreiche oder die saturnische?«
»Die saturnische!« schrie Krüger, ganz aus dem Häuschen, packte Hünefeld beim Rockkragen und schüttelte ihn mehrmals kräftig. »Die saturnische Botschaft natürlich zuerst, Ihr Gallapfel!«
»Seid Ihr von Sinnen?« keuchte Hünefeld und riß sich von dem Tobenden los. »Ihr erfahrt es noch früh genug! ... Was ist Eure Meinung, Freund Opitz? Welche Rocktasche wählt Ihr? Die rechte oder die linke? In jeder steckt ein Schreibebrief, den mir heute die reitende Post von meinen Korrespondenten im Reich ins Haus brachte. In der nächsten Nummer meiner ›Danziger Relation‹ bring' ich sie in Druckschrift unter die Leute. Aber ihr, meine Mitbrüder der Mitternachtsstunde, sollt sie als mein Neujahrspräsent vor allen andern Danzigern zu Gehör bekommen. Also welche von meinen beiden Taschen wählt Ihr als erste, Freund Opitz? Rechts oder links?«
»Links! Immer links!« rief Opitz. »Links vom Leben meinen Weg zu gehen, war mein Schicksal hienieden. Kam darum wohl auch niemals vor die rechte Schmiede.«
»Ihr habt gewählt! Gut!« erklärte Hünefeld mit feierlichem Ton und zog ein Schreiben aus der Tasche, dessen fünf schwarze Siegel aufgebrochen waren und gegen das Kerzenlicht düster abstachen.
»Was ist denn das für ein lamentables Skriptum, das Ihr da in der Luft schwenkt?« gellte die Stimme des Professors, der grade dabei war, sich aus dem schier unerschöpflichen Punschkessel seinen Becher neu zu füllen.
»Hab' ich's Euch nicht vorausgesagt?« erwiderte Hünefeld. »Eine Meldung saturnischer Art aus den papistischen Landen jenseits des Donauflusses. Sie kommt! Sie kommt!«
»Wer kommt? Was kommt?« riefen Opitz und Krüger wie aus einem Munde.
Hünefeld erhob feierlich seine beiden Arme zum Himmel und ließ sie dann langsam sinken.
»Wer denn anders als die Pest! Seit Jahren wütet sie ja in Kurbayern. Sie haben da in einem von der Pestilenz überaus schlimm heimgesuchten Dorf im Alpengebirge, Oberammergau geheißen, ein eigens für die Gottesmutter erfundenes und versifiziertes Passionsspiel alle zehn Jahre zu tragieren das Gelübde getan und, glaub's wer's wolle, hat daraufhin die Seuche auch realiter ihren Abzug aus besagtem Dorf vollführt und ist gen Norden über den Donaufluß ins Böhmerland hinübergewechselt, allwo sie jetzt unter den Hussitenbrüdern ganze Hekatomben von Opfern fordert. All das mit manchen sonstigen Kuriositäten und Unterhaltsamkeiten steht hier in dem Schreibebrief mit den ominösen fünf Siegeln zu lesen, welchen mir mein Korrespondent aus Regensburg dieser Tage hat zukommen lassen. Ihr werdet ihn in meiner nächsten Relation, als welche auf Dreikönig aus der Presse kommt, schwarz auf weiß gedruckt vorgelegt bekommen.«
»Auf Dreikönig?« fragte Krüger, der halb eingenickt war und jetzt plötzlich zu erwachen schien. »Auf Dreikönig?« wiederholte er.
»Ja! Warum fragt Ihr? Ist es etwas so Besonderes, daß das Zeitungsblatt auf Dreikönig herauskommt?«:
»Und ob es etwas Besonderes ist, Mann Gottes oder vielmehr des Satans!« schrie der Professor und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wißt Ihr nicht, daß auf den Dreikönigstag die nächste Sonnenfinsternis fällt? Ich habe es ja neulich den Danzigern nach meinen Tabellen und Berechnungen, auf die ich mich verlassen kann, vorausgesagt. Und wenn Ihr Satanskerl dann an dem Tage noch mit Eurer herannahenden Pestilenz kommt, so ist das wohl etwas Besonderes!«
»Sonnenfinsternis und Pestilenz?« kicherte Hünefeld in sich hinein. »Meine Druckblätter werden reißend abgehen!«
»Was spendiert Ihr daraufhin?« fragte Krüger mit kratziger Stimme.
»Fünf Bouteillen exzellenten Portugieser Weines von Oporto! Ist es Euch genehm so, Ihr Ritter vom Einhorn?«
»Topp! Wir nehmen Euch beim Wort!« bellte Krüger. »Aber nicht lange damit gefackelt! Auf Dreikönig steigt Eure Libation an Pluto, den Herrscher der stygischen Gefilde, und steigt gleichzeitig meine Sonnenfinsternis! Habt Ihr verstanden, erhabener Geistverzapfer?«
Hünefeld hatte wieder sein unterirdisches Lachen und erhob seinen Becher.
»Vollkommen und totaliter! Es lebe Eure Sonnenfinsternis! Und nicht zu vergessen, es lebe die Pestilenz!«
»Sie sollen leben! Sollen leben alle zwei! Vivant hoch!« brüllten die drei Mitternachtsbrüder im Chorus und leerten ihre Becher.
Nach dem mißtönigen Durcheinander der sich überschlagenden Stimmen fiel eine augenblickliche Stille ein. Opitz, als erster sie unterbrechend, sagte mit einem nachdenklichen Lächeln:
»Wißt ihr auch, Freunde und liebe Gefährten, daß wir mit unserm Trinkspruch soeben die Unterirdischen aufs schnödeste herausgefordert haben? Wenn unser Tusch bis zu ihnen gedrungen ist, so komme es auf Euer Haupt, Hünefeld. Denn Ihr habt uns dazu aufgestachelt.«
»Und der hier etwa nicht?« lachte Hünefeld und deutete auf den Professor, der mit dem Kopf auf der Brust bereits wieder am Einnicken war, aber jetzt wie auf ein Stichwort aufsprang und schrie:
»Glaubt Ihr etwa, ich fürchte mich vor Gott Pluto und seinen acherontischen Sendboten? Da seid Ihr schief gewickelt. Nehmt das dafür!«
Damit schleuderte er in plötzlich ausbrechender Wut seinen gerade wieder leergewordenen Zinnbecher gegen Hünefeld, der ihn jedoch mit einem geschickten Griff knapp vor seinem Kopf abfing und kichernd dem anderen zurief:
»Fehlgeschossen! Besser zielen lernen, Professor! Man kennt ja Eure lieblichen Angewohnheiten zur Mitternachtsstunde, wenn Ihr des Gottes voll seid!«
»Noch ein Wort und Ihr seid die erste Leiche im neuen Jahr!« keuchte Krüger. Er schien vergebens nach Worten zu ringen und stand mit Schaum vor dem Munde und geballten Fäusten da, halb schon auf dem Sprunge gegen Hünefeld. Ehe er den Sprung jedoch vollends tun konnte, hatte sich Opitz zwischen die beiden Kampfhähne geworfen, indem er den nun gänzlich trunkenen Mathematikus mit beiden Armen umschlang und auf seinen Stuhl zurückdrängte, dabei durch vernünftigen Zuspruch ihn nach Möglichkeit zu sänftigen bemüht.
»Ihr ... seid ... ein guter ... Mensch, Opitz ...« lallte Krüger und ließ sich von dem Poeten willig wie ein reumütiges Kind auf seinem Stuhl mittels eines von Hünefeld herbeigeholten Polsterkissens zur Ruhe bringen.
»Euch zuliebe ...« lallte er einschlafend, »schenk' ich ... dem ... hier ... für diesmal ... noch das Leben.«
Opitz mußte hellauf lachen.
»Ihr seht,« sagte er zu dem neben ihm stehenden Hünefeld, »er ist kein Unmensch, er bläst Euch heute am Neujahrstag noch nicht Euer Lebenslichtlein aus. Das kommt erst später.«
»Wie oft hat er mir das zu nachtschlafender Zeit schon angedroht!« kicherte der Buchdrucker.
»Ihr solltet ihn, so er voll ist, eben nicht reizen.«
»Aber wann ist das, so er nicht voll ist? Es wird einmal kein gutes Ende mit ihm nehmen!«
»Mit wem von uns allen wird es einmal ein gutes Ende nehmen?« erwiderte der Dichter mit tiefernster Stimme. Er schien völlig nüchtern geworden zu sein. »Sagt mir das, Hünefeld!«
»Wollt Ihr in der Silvesternacht die Kassandra spielen, Meister Opitz von Boberfeld?«
»Warum nicht! Man sagt ja, Prophezeiungen und Ahnungen in der Silvesternacht erfüllen sich, noch ehe der neue Jahresring sich wieder geschlossen hat.«
»So möge denn dieses Skriptum aus meiner rechtsseitigen Rocktasche als ein gutes Omen für das neue Jahr 1639 anzusehen sein!« rief der Zeitungsmann und zog ein zweites Schriftstück, nicht unähnlich jenem ersten, jedoch ohne dessen fünf schwarze Siegel, aus seiner Rocktasche hervor.
»Was ist es denn?« fragte Opitz.
»Von meinem Korrespondenten aus Wien, aus der Kaiserstadt. Direktament aus der Kaiserlichen Hofkanzlei. Mein Gewährsmann ist im nächsten Vertrauen der jungen Majestät Kaiser Ferdinands III.«
»Und was schreibt Euer Geheimkorrespondent? Vielleicht, daß das Faßlrutschen zu Klosterneuburg am Leopolditag wegen der herrlichen Zeitläufte um einen ganzen Monat verlängert werde? Oder daß unter dem neuen kaiserlichen Regiment am Neujahrstag vom Gebetläuten in der Frühe bis zum Abendläuten aus sämtlichen Wiener Brunnen Heuriger statt Wasser fließen solle, weshalb man sich rechtzeitig mit Schöpfeimern versehen möge? Irgend etwas Derartiges schreibt Euer Gewährsmann doch stell' ich mir vor?«
»Ich sehe, Ihr seid bei gutem Humor,« entgegnete schmunzelnd der Zeitungsmann, »und im übrigen gar nicht so weitab von der Realität. Denn wofern das, was mein Korrespondent zu erzählen weiß, auf Wahrheit beruht, so könnte es sich bald begeben, daß die Wiener Brunnen sich rüsten müssen, nach so viel Jahren Kriegsnot Wein zu dem großen Friedensfest auszuspeien.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Daß die junge kaiserliche Majestät, die seit einem Jahr die Krone des Heiligen Römischen Reiches trägt, Kaiser Ferdinand III., des noch vom Vater überkommenen, schon mehr als zwanzigjährigen Krieges und Blutvergießens müde geworden ist und mit der Intention umgeht, den Grafen Clam-Gallas, den bekannten Sieger von Donauwörth, als seinen Unterhändler zu den Schwedischen abzuordnen, um über einen endlichen Frieden zu verhandeln. Und was vielleicht noch mehr bedeuten mag, wie ein seit kurzem am kaiserlichen Hoflager umlaufendes Gerücht wissen will, so soll auch der weltberühmte Ränkespinner, der seit so vielen Jahren zu Paris am Werke sitzt, der allmächtige Kardinal Richelieu, sich mit Friedensgedanken tragen, ehbevor ihm die Parze den schon längst schadhaft gewordenen Lebensfaden abschneidet! So! Da habt Ihr's! Lest es selbst!«
Opitz stand am Tisch und las, während Hünefeld ihm von der Seite mit der erhobenen Kerze dazu leuchtete, langsam und sorgfältig das glückverheißende Schriftstück durch.
»Wunderschön!« äußerte er, als er fertig war, kopfschüttelnd. »Wunderschön! Nur leider zu schön, um sich erfüllen zu können! ... Aber selbst wenn es sich so und nicht anders verhielte, wie lange glaubt Ihr wohl, daß die Herren Diplomaten brauchen werden, ehe sie nur über die allerersten Präliminarien einen Akkord finden werden, so etwa, wem beim ersten Pourparler der Vortritt zustehe, den Kaiserlichen oder den Schwedischen oder dem Gesandten Seiner Allerchristlichsten Majestät? Nein, glaubt mir's nur, Hünefeld! Wir alle werden noch alt und grau darüber werden, ehbevor Friede wird, sofern wir's überhaupt noch erleben.«
Hünefeld hatte wieder sein unterirdisches Kichern.
»Es scheint, Herr poeta laureatus, Ihr und ich, wir beide haben die Rollen miteinander vertauscht. Ihr seid mit einemmal zum Schwarzseher am politischen Himmel geworden und ich, fast macht es mich lachen, ich erblicke, wohin mein Auge fällt, nur lauter Rosenwölkchen.«
»Wolle Gott, daß Ihr recht behaltet und nicht ich!« sagte der Dichter mit einem Seufzer aus tiefster Brust. »Kommt, Freund Zeitungsschreiber! Trinken wir darauf, daß aus Euch die Zukunft sprechen möge! Trinken wir, soviel der Kessel des leider schon kaltgewordenen Punsches noch hergeben will!«
Die beiden Becher klangen noch einmal aneinander.
»Daß der Frieden für unser altes Römisches Reich bald, bald kommen möge!« sagte Hünefeld mit beinahe feierlichem Ton.
»So sei es,« bekräftigte der Dichter im gleichen Ton. »Unser altes Heiliges Reich! Gott sei ihm gnädig, wenn sie erst am grünen Tuch sitzen und ihre Federkiele spitzen!«