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Tsin-Schi-Hoang-Ti

Juli 1900: die deutschen Seebataillone und die freiwillige ostasiatische Infanteriebrigade gehen nach China ab.

Die deutsche Kriegsflagge weht auf dem Weltmeer und fünfzehntausend Männer, deren rüstige Kraft auf heimischer Flur die Arbeit fördern könnte, sitzen, wenn der Dienst oder die Neugier sie nicht auf Deck ruft, in der engen, dunstigen Koje und denken zurück ins Land ihrer Lieben, sinnen vorwärts ins Unbekannte, dem das gepanzerte Schiff sie entgegenführt. Ihr Kaiser und Kriegsherr hat für alles gesorgt, für Khakikleider und Tropenhelme, Mundvorrat, Waffen und Munition, und in der Aufwallung eines Rache heischenden Zornes sogar daran gedacht, aus Berlin den Kinetographen nach Wilhelmshaven kommen zu lassen, der die Abschiedsparaden und die Einschiffung der Rächerschar für das Kinetoskop aufnehmen sollte. Nun haben sie Muße und können dem Zweck ihrer Reise nachdenken. So oft und so lange schon hörten sie von Kameraden das Ende der faulen Friedenszeit herbeiwünschen; jetzt ist der ersehnte Krieg da, ein Krieg, der Ehrenzeichen und rasche Rangerhöhung verheißt, und ihnen ward mitzukämpfen gegönnt. Wofür er kämpfen soll, darüber grübelt der gemeine Mann nicht; er ist froh, den eintönigen, ermüdenden Garnisondienst hinter sich zu haben und ein fernes Märchenland betreten zu dürfen, von dem er in alten Kalendern Wundergeschichten las. Nicht als Verteidiger des Vaterlandes zieht er hinaus, wie vor dreißig Jahren der Vater oder der ältere Bruder; die heimischen Grenzen sind nicht bedroht und kein geraubtes Glied ist dem verstümmelten Leib der Mutter Germania zurückzugewinnen. Doch unter heißerer Sonne harren weiße Menschen der Retter aus Todesgefahr. Der Mann im Khakirock greift nach seinem Gewehr. Aber sein Sehnen treibt das Schiff nicht schneller durchs Weltmeer; und ehe er in Reihe und Glied durch Pekings Tor marschiert, werden die Weißen geschlachtet oder geborgen sein. Der deutsche Soldat streckt sich auf sein schmales Lager. Über und unter ihm schnarchen schon längst die vom Wachtdienst ermatteten Kameraden. Nun sucht auch er den Schlummer. Er folgt dem Befehl und hat nicht zu fragen, warum sein Kaiser ihn übers Meer in die Ferne schickt.

Die daheim Gebliebenen aber, die kein Matrosenhemd und keinen Khakirock tragen, haben das Recht nicht nur, haben die Pflicht zu der Frage, was nun geschehen soll und welche Aufgabe den fünfzehntausend deutschen Männern gestellt ward, die jetzt der Ozean trägt. Während der ersten Juliwoche ist viel geredet und geschrieben, telegraphiert und photographiert worden; doch weder Worte noch Bilder haben das Ziel der Reichspolitik und den Zweck des Reichskriegszuges der Menge zu klären vermocht. Der Kaiser hat von »Mobilmachung« und »Krieg« gesprochen und mit zorniger Geberde gesagt, er werde »eine Rache nehmen, wie die Weltgeschichte sie noch nicht gesehen hat«, und »nicht eher ruhen, als bis die deutschen Fahnen siegreich auf Pekings Mauern wehen und den Chinesen den Frieden diktieren.« Diese Worte waren kaum verbreitet worden, da ließen sämtliche Großmächte auch schon erklären, sie dächten nicht daran, einen Krieg gegen China zu führen, und würden zufrieden sein, wenn für die Ermordung und Beraubung der Weißen Sühne gewährt und im Reich des Himmelssohnes die Ruhe wiederhergestellt werde. Das feierliche Wort eines Deutschen Kaisers kann nicht ins Leere gesprochen sein. Wir müssen also annehmen, das Deutsche Reich führe allein Krieg gegen China; nur dann ist auch der Satz des Kaisers von dem »historischen Augenblick« verständlich, »der einen Markstein in der Geschichte unseres Volkes bedeutet«. Aber der Kaiser ist nach Norwegen abgereist, Fürst Chlodwig zu Hohenlohe, der einzige verantwortliche Reichsbeamte, sitzt seit Wochen, den Geschäften fern, in der Schweiz und die Offiziösen verkünden, man dürfe nicht von einem Kriegszug, sondern nur von einer Strafexpedition nach China sprechen. Hat der Kaiser, der den Krieg nur erklären kann, wenn das Bundesgebiet oder dessen Küste angegriffen worden ist, die Zustimmung des Bundesrats nicht gefunden? Die Unklarheit geht noch weiter. Der Kaiser will einen Rachekrieg führen und zugleich die Asiaten die milde Wunderkraft des Christenkreuzes kennen lehren; und nun scheint, mit deutscher Einwilligung, den japanischen Buddhisten und Shintoisten das Mandat anvertraut, in China Sühne und Ordnung zu schaffen. Dagegen wäre, wenn die Russen zustimmen, nichts einzuwenden; nur wird die rote Sonnenscheibe der japanischen Kriegsflagge nicht einem Sieg der Christenlehre leuchten. Aus dieser Wirrnis führt kein erkennbarer Weg; und ein mündiges Volk darf doch fordern, daß man ihm sagt, welchem Ziel es entgegenwandern und wofür es kämpfen soll.

siehe Bildunterschrift

Der Kaiser als Prinz mit Kronprinz Rudolf von Österreich

In dem korrigierten und gedruckten Text einer Tafelrede des Kaisers steht ein merkwürdiger Satz, dessen Sinn uns vielleicht das dunkle Rätsel lösen kann. Nachdem Wilhelm der Zweite von dem historischen Augenblick gesprochen hatte, der in der deutschen Geschichte »einen Markstein bedeute«, fuhr er fort: »Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe. Aber der Ozean beweist auch, daß auf ihm und in der Ferne jenseits von ihm ohne Deutschland, ohne den Deutschen Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf.« Man könnte erwidern, daß Deutschland ohne die Herrschaft über ein Weltmeer groß und mächtig geworden ist, daß ozeanische Beweise nicht sehr haltbar sind und daß auch künftig, wie bisher, auf dem Rund der bewohnten Erde manche Entscheidung fallen wird, an der ein Deutscher Kaiser, und hätte er eine moderne Armada, nicht mitzuwirken vermag. Doch wichtiger als die Kritik eines Programmes ist zunächst die Aufhellung seines Sinnes. Und über diesen Sinn ist, wenn man ihn aus den Schleiern hebt, kein Zweifel mehr möglich. Er ist im Ausland verstanden worden und das Bemühen, ihn den Deutschen zu verhüllen, ist töricht und unanständig. Der Kaiser will Weltpolitik größten Stils treiben, in den asiatischen Machtstreit eingreifen und bei jeder Entscheidung seiner Stimme Gehör sichern. Deshalb hat er die Karawanenstraße einer imperialistischen Industriepolitik beschritten, deshalb schnell die Verdoppelung der Schlachtflotte durchgesetzt, deshalb einen Heerhaufen von der Stärke einer Division nach China geschickt. Die Stunde, da diese Entscheidung fiel, durfte er einen historischen Augenblick und einen Markstein in der deutschen Geschichte nennen; sie hat uns, wenn dem Wort die Tat folgt, den nie mehr zu kittenden Bruch mit der deutschen Vergangenheit und mit der Politik Bismarcks gebracht. Der erste Kanzler glaubte, das junge Reich habe mit der Wahrung seiner europäischen Machtstellung genug zu tun; er freute sich, als Frankreich sich in Tongking festlegte, sah die günstigste Chance der stets von einer übermächtigen Koalition bedrohten deutschen Stämme darin, daß sie in dem zwischen Rußland und Großbritannien schwebenden Streit um die Herrschaft über Asien neutral bleiben könnten, unterstützte still, so weit das deutsche Interesse es irgend gestattete, die russische Politik und hielt bis zu dem Tage, wo Nordamerika und Rußland das großbritische Weltreich überwachsen haben würden, England für den der deutschen Entwicklung gefährlichsten Feind. Die kleinste Kolonie, sagte er nach dem Abschluß des deutsch-chinesischen Pachtvertrages, ist groß genug, um »Dummheiten zu machen«; und er hörte bis zu seinem letzten Lebenstage nicht auf, eindringlich vor einer Verzettelung deutscher Kraft an überseeische Abenteuer zu warnen, die bei neidischen Nachbarn Mißtrauen wecken und die Fähigkeit zur Verteidigung des heimischen Bodens schwächen müßten. Dem dritten Kaiser sind solche Bedenken offenbar völlig fremd. Ihm ist das Reich Bismarcks zu klein und er hält das Volk, dessen Vertrauensmann er sein soll, für so stark und so reich, daß es mit den älteren Weltmächten den Wettkampf wagen kann. Diesem Gefühl fand er in Wilhelmshaven weithin klingende Worte; und das Echo brachte aus Petersburg, London, Paris und New York die Erklärung: Wir führen nicht Krieg gegen China, wir wünschen keine Machtverschiebung im Reich der Mitte. Vorher hatten die Russen sich geweigert, den England allzu befreundeten Japanern freie Hand zu lassen; nach den Reden des Deutschen Kaisers wich dieser Widerstand. Oft schon sah man, daß zwei Gäste, die so lange sie allein am gedeckten Tisch saßen, einander mit feindlichen Blicken gemessen hatten, schnell Frieden schlossen, wenn ein Dritter sich anschickte, mit aus der Schüssel zu essen.

Heute noch, wie vor Humboldts Tagen, ist China den Deutschen ein unbekanntes Land. Mancher Gelehrte hat in der Sammlung der Sacred Books of the East den Tao-Te-King gelesen, Lao-Tses ehrwürdige Chinesenbibel, und mit heißem Bemühen die konfuzianische Sittenlehre studiert, mancher Politiker hat, wie Andrassy vor dem bosnischen Feldzug, geglaubt, dieses wilde Land könne eine Militärkapelle mit klingendem Spiel kampflos erobern. Das Wesen des gelben Volkes blieb, trotz Gaubil, Ritter und Gobineau, auch gebildeten Deutschen verborgen; und so konnte der Glaube aufkommen, die Chinesen seien Barbaren, denen mit Pulver und Blei die Grundbegriffe zivilisierter Menschheit beigebracht werden müßten. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Gobineau zitiert aus dem Schu-King die Sätze: »Die Fremden erregen Unruhen. Wenn Ihr aber fleißig Eure Geschäfte betreibt, werden die Fremden sich Euch gehorsam unterwerfen.« Von dieser frühen Epoche asiatischen Staatenlebens wüßten wir mehr, wenn nicht einer der Herrscher Chinas jäh mit der Vergangenheit und ihrer überlieferten Lehre gebrochen hätte.

Tsin-Schi-Hoang-Ti, der zwei Jahrhunderte vor Jesu Geburt lebte, wollte die Macht nicht mit den reichen Familien des alten Hochadels teilen, sondern als ein Caesar des Ostens auf einsamer Höhe über der Masse thronen. Um die Gewalt der adeligen Lehnsherren zu entwurzeln, ließ er die Bücher verbrennen, in denen der Ruhm ihrer Ahnen und ihr ererbter Anspruch auf Souverainetät aufgezeichnet war, und nur die Familienchronik der Tsin-Dynastie, der er selbst entstammte, vor dem Feuer bewahren. Dann suchte er alle Verschiedenheiten der Stämme, Provinzen, Bezirke wegzuwischen, ernannte neue Beamte, die nie lange im Dienst bleiben durften, teilte das Reich in sechsunddreißig Departements und tat kund und zu wissen, daß die alte Zeit und die alten Gedanken nun für immer begraben seien. Ein Neues sollte werden und Jeder aus dem gelben Volk erkennen, daß fortan nur ein Herrenrecht galt, nur ein Wille gebot. Damit war die organische Entwickelung des Volkskörpers unterbrochen und der Feudalstaat zum Imperium umgewandelt. Der Chinese blieb als Individuum, was er gewesen war: ein nüchterner, nur den greifbaren Gütern der Erde nachstrebender Mensch, ohne Phantasie, ohne übersinnliches Bedürfnis; das politische Leben aber erstarrte, wie immer in Despotien. Der Kaiser von China durfte nicht, wie andere Tyrannen des Orients, jeder raschen Laune, jedem Überschwang seiner Gefühle nachgeben und in wollüstiger Grausamkeit schwelgen; solches Wüten hätte ihn um die Achtung der kühlen, verständig rechnenden Untertanen gebracht. Doch er galt und gilt heute noch als ein geweihter Vertreter der Gottheit, als ein gestrenger Vater, dem man nur knieend nahen darf, und in der Theorie ist seiner Gewalt keine Schranke gezogen. In der gemeinen Wirklichkeit des Alltagslebens sieht die Sache freilich anders aus. Wer ein nur auf Gütermehrung und schnellen Gewinn bedachtes Volk beherrscht, muß sich der Forderung fügen, daß dem Lande die Ruhe und die bewährten Geschäftsbedingungen erhalten bleiben und die Erwerbsmöglichkeit dem Händler nicht durch fremde Konkurrenz geschmälert wird. Ein solches Volk kann sich unter der monarchischen Spitze demokratische, sogar sozialistische Einrichtungen schaffen (und wirklich gibt es in China, wo beinahe Jeder lesen und schreiben kann und die Gesetze kennt, eine Volksabstimmung über wichtige Fragen des Rechtes und der Wirtschaft und dem Staatssozialismus des europäischen Westens nah verwandte Tendenzen), aber es ist als politische Persönlichkeit zu unfruchtbarem Siechtum verdammt und wird früh oder spät die Beute des Starken, der sich nicht leichtfertig von der Wurzel des Stammes löste. Tsin-Schi-Hoang-Ti trennte China mit jähem Griff von der Tradition. Sein Geschlecht ist verschollen, die im Waffenhandwerk geübten Mandschus haben den Chinesen, die auf allen Märkten die billigste Arbeit anbieten, den Fuß auf den Nacken gesetzt, das Reich des Himmelssohnes hat seit Jahrtausenden kein die Menschheitgeschichte bestimmendes Wort mehr gesprochen.

Im Deutschen Reich sind der Macht des Einzelnen, auch des Kaisers, der hier kein Monarch, sondern unter Gleichen nur der Erste ist, von der Verfassung enge Grenzen gezogen, und so lange Wortlaut und Sinn dieser Verfassung getreulich beachtet werden, kann nichts Wesentliches gegen den Willen der Volksmehrheit geschehen. Fürsten und Volk haben das Recht, in offener Rede das Ziel ihres Wollens zu zeigen, und man kann dem Kaiser nicht vorwerfen, daß er seine Absicht verborgen hat. Als er seinen Bruder nach China sandte, sprach er so laut, daß man ihn in Peking verstand und erschreckt auffuhr; denn Pächter pflegen nach dem Vertragsabschluß nicht von der Möglichkeit zu reden, ihr Platzhalter könne im Pachtgebiet blutigen Lorber ernten und zum Schlag mit gepanzerter Faust gezwungen sein. Nur in Deutschland verschloß sich dem Sinn dieser Sätze das Ohr, sträubt sich noch jetzt das nationale Empfinden gegen die vom französischen Konsul in Tientsin, vom Fürsten Uchtomski und vom Bischof Anzer vertretene Meinung, daß die chinesischen Wirren als Folgeerscheinung des Kiautschauhandels zu betrachten sind. Bismarck fürchtete damals, der Asiatenzorn könne sich gegen den preußischen Prinzen waffnen; ihn hätte die Ermordung des Kaiserlichen Gesandten sicher nicht überrascht und er hätte den Beschwichtigern nicht geglaubt, die geschäftig erzählen, die Sache sei nicht so ernst gemeint. Worte, die der Deutsche Kaiser in die lauschende Welt hineinspricht, können nur ernst gemeint sein und müßten, wenn ihnen nicht die Tat folgte, ohne Echo künftig ins Leere verhallen. Noch einmal hat jetzt der Kaiser gesprochen, so deutlich und laut, daß nur der böse Wille ihn nicht verstehen kann; und laut und deutlich muß ihm geantwortet werden. Nie ist bisher das Volk gefragt worden, ob es von der aus ruhmreicher Zeit überlieferten Politik scheiden und den steilen Pfad des Imperalismus beschreiten will.

Tsin-Schi-Hoang-Ti konnte vor zweitausend Jahren selbstherrisch mit der Stammesvergangenheit brechen. Ein Deutscher Kaiser wird sich nicht wundern, wenn das mündige Volk, das er vor dem Ausland vertritt, an der Gestaltung seines Schicksals mitzuwirken begehrt und wenn die daheim Gebliebenen anders denken als der in Khakistoff gekleidete Mann, der dem Befehl zu folgen und in der engen, dunstigen Koje nicht zu fragen hat, warum sein Kriegsherr ihn übers Meer in die Ferne schickt.


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