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Am achtundzwanzigsten Oktober 1908 stand in der Londoner Zeitung The Daily Telegraph ein Artikel, der den Titel »The German Emperor and England« trug und als personal interview bezeichnet war. Der Verfasser ließ den Deutschen Kaiser in direkter Rede zu einem entamteten britischen Diplomaten sprechen. »Ihr Engländer seid völlig verrückt. Oft und laut habe ich euch gesagt, daß einer der heißesten Wünsche meines Herzens der ist, mit England in bester Freundschaft zu leben. Falschheit und Arglist sind meinem Wesen fremd und mein Handeln beweist die Wahrhaftigkeit meiner Worte. Daß ihr sie mißdeutet und mir nicht glaubt, empfinde ich als eine schwere persönliche Beleidigung. Ein großer Teil eurer Presse warnt das Volk, die Hand, die ich euch hinstrecke, zu fassen, und behauptet, meine andere Hand halte einen Britannien bedrohenden Dolch. Ich kann immer nur wiederholen, daß ich Englands Freund bin. Aber ich bin in meinem Land mit diesem Gefühl in der Minorität. In breiten Schichten Deutschlands, unten und im Mittelstand, ist die Stimmung euch unfreundlich. Mit aller Kraft arbeite ich an der Besserung unserer Beziehungen: und ihr seht in mir den Erzfeind. Während des südafrikanischen Krieges war Deutschland von bitterster Feindschaft gegen euch erfüllt. Öffentliche und private Meinung kehrte sich wider England. Was aber tat ich? Wer hat denn der Rundreise der von den Buren Abgeordneten, die eine europäische Intervention gegen euch erwirken sollten, ein Ende gemacht? Ich. Die Leute waren in Holland und Frankreich bejubelt worden und auch das deutsche Volk hätte ihnen gern Kränze gewunden. Ich aber weigerte mich, sie zu empfangen: und sofort hörte die Agitation auf und eure Feinde konnten nichts ausrichten. Als in Südafrika der hitzigste Kampf tobte, forderten die Regierungen von Rußland und Frankreich uns auf, gemeinsam vorzugehen und die Beendigung des Krieges zu erzwingen; sie meinten, die Stunde sei gekommen, wo man England bis in den Staub erniedern könne. Ich antwortete, Deutschland werde nie an der Vorbereitung einer Niederlage Britanniens mitwirken, nie für eine Politik zu haben sein, die es in einen Konflikt mit einer Seemacht vom Rang Englands zu bringen vermöchte. Im Archiv des Schlosses Windsor liegt das Telegramm, in dem ich damals der Königin Victoria den Plan eurer Feinde und meine abweisende Antwort meldete. Das ist noch nicht alles. In der Schwarzen Woche (im Dezember 1899), als eure Fehlschläge sich häuften und ein Brief meiner verehrten Großmutter den tiefen Kummer ihres Gemütes verriet, begnügte ich mich nicht mit einer schnell meine Sympathie ausdrückenden Antwort, sondern tat noch mehr: ich ließ von einem meiner Offiziere die Kopfzahl und die Position der in Südafrika auf beiden Seiten fechtenden Truppen feststellen, entwarf nach diesen Angaben den unter solchen Umständen für Englands Interessen tauglichsten Feldzugsplan und schickte ihn, als mein Generalstab ihn gebilligt hatte, nach England. Auch dieses Dokument liegt in Windsor Castle. Und mein Kriegsplan glich in allem wesentlichen dem vom Lord Roberts dann mit Erfolg ausgeführten. Handelt so ein Feind Englands? Aber ihr sagt, unser Flottenbau bedrohe euch. Nein: Wir brauchen eine große Flotte, um unseren Handel und unsere anderen Interessen zu schützen. Der Kreis dieser Interessen wird sich noch erweitern. Wir müssen uns für die Auseinandersetzung vorbereiten, die im Stillen Ozean (früher, als manche glauben) nötig werden wird. Japans rascher Aufstieg und Chinas Erwachen zeigt, welche Aufgaben im fernen Osten von den europäischen Mächten zu bewältigen sind. Um für den Kampf um die Zukunft des Stillen Ozeans in Bereitschaft zu sein, brauchen wir eine starke Flotte. Wenn in diesem Kampf einst britische und deutsche Geschwader für dieselbe Sache streiten, wird auch England sich der Tatsache freuen, daß Deutschland sich eine große Flotte geschaffen hat.« Das ist der Hauptinhalt der personal interview. Ein Seitenpfad des Gespräches hatte nach Marokko geführt. Der Kaiser bestritt, daß Deutschlands hastiges Eintreten für Muley Hafid von dem Wunsch bewirkt worden sei, den Westmächten am Atlas den Weg zu sperren, und behauptete, Frankreichs Konsul sei viel früher als Deutschlands von Tanger nach Fez, in die Residenz des neuen Sultans, zurückgekehrt.
Als die Interview (am 29. Oktober) in Deutschland bekannt wurde, glaubten einfältige Gemüter, Meinung und Wort des Kaisers seien gefälscht, entstellt oder mindestens durch groben Vertrauensbruch ans Licht gebracht worden. Die Enttäuschung kam schnell. Wolffs Telegraphisches Büro und die Norddeutsche Allgemeine Zeitung übernahmen den Artikel des Daily Telegraph. Damit war der Wortlaut beglaubigt; war auch erwiesen, daß der Kaiser die Verbreitung wünsche. Nun brach der Sturm los; drinnen und draußen. Wut und Hohn, Geheul und Gelächter im Ausland; überall. (Nur ein paar britische Schlauköpfe, die unsere Machtquellen ganz verschüttet sehen möchten, lobten die friedliche Absicht Wilhelms, der eben doch Britenblut in den Adern habe.) In Deutschland eine leidenschaftliche Empörung, wie sie ein Halbjahrhundert lang nicht erlebt ward; Nord und Süd; in allen Ständen; auch in der Armee. Niemals war über den Kaiser laut so geredet, nie noch so geschrieben worden. Daß der Reichskanzler von der Interview und von dem Willen zur Veröffentlichung nichts gewußt habe, galt als gewiß. Persönliches Regiment, Absolutismus, impulsives Handeln, romantische Politik, Pflicht des verantwortlichen Beraters: all die alten Leitmotive hörten wir wieder; nur war das Orchester diesmal viel größer und spielte fortissimo. Was wird der Kanzler tun? Er muß gehen. Dem Kaiser sagen, daß solche Überrumpelungen den Erfolg des Reichsgeschäftes vereiteln und daß Gewissen und Selbstachtung ihm raschen Rücktritt befehlen. Vielleicht hat er daran gedacht. Sicher seinem Herrn harten Tadel nicht erspart. »Was wollen Sie denn nun wieder von mir? Diesmal habe ich Sie ja sogar gefragt. Und Sie haben die Veröffentlichung gebilligt: unter dem zustimmenden Bericht steht Ihr B.« Ungefähr so mag die Antwort gelautet haben. Am letzten Oktoberabend erfuhr der Erdkreis, daß der Kaiser das Manuskript an den Kanzler geschickt und die Veröffentlichung erst gestattet habe, als dessen Zustimmung eingetroffen war; diese Zustimmung stützte sich aber nicht auf eigene Kenntnis, sondern auf ein Gutachten des Auswärtigen Amtes; wenn der Kanzler das Manuskript selbst gelesen hätte, wäre es mit seinem Willen nicht veröffentlicht worden; da er die ihm unterstellten Beamten mit seiner Verantwortlichkeit decken müsse, habe er seinen Abschied erbeten und nach dessen Ablehnung die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Tatbestandes erwirkt, »um ungerechten Angriffen auf Seine Majestät den Kaiser den Boden entziehen zu können«. Das stand in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, wurde in alle Erdteile telegraphiert und trug aus allen uns das Echo fröhlichen Gelächters heim. Wahr oder unwahr, hieß es am nächsten Tag: der Kanzler, unter dem solche Zustände möglich wurden, muß morgen vom Schauplatz verschwinden. Am ersten, am zweiten Novembertag hieb alles in blinder Wut auf den Kanzler ein. Auf den Liebling der Presse. Der ist an dem ganzen Unheil schuld. Der hat uns Schande und Spott eingebracht. Der muß fort: denn sein Ansehen ist hin und sein Kredit für immer vernichtet. Von dem Kaiser war kaum noch die Rede. Die Meute bellte auf falscher Fährte.
Über die Unzulänglichkeit der in der Norddeutschen veröffentlichten Erklärung braucht man kein Wort mehr zu verlieren. Der Autor war offenbar um alles Augenmaß, allen Respekt vor der Muttersprache gekommen. Kopflos. Hat vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber nicht (wie noch heute unter Deutschen und Fremden die Mehrheit glaubt) einfach gelogen, sondern den Vorgang so dargestellt, wie ihn die Akten erweisen. Der Kaiser ist in Rominten, der Kanzler in Norderney, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in Berchtesgaden. Unter den Schriftstücken, die aus Ostpreußen an die Nordsee gelangen, ist ein Brief des Gesandten Freiherrn von Rücker-Jenisch, der während der Reisen des Kaisers die internationalen Angelegenheiten vorzutragen und die Verbindung mit dem Kanzler und dem Auswärtigen Amt herzustellen hat. Ein dem Fürsten Bülow verwandter Herr: da, verhieß die Hoffnung, geht gewiß alles glatt. Er schickt ein Manuskript, dessen Veröffentlichung Oberst Stewart Wortley, der Herr auf Highcliff, als nützlich empfohlen und der Kaiser gebilligt hat, und fragt, »im Allerhöchsten Auftrag«, ob der Kanzler etwa Grund zum Widerspruch finde. Keine Andeutung, daß es sich um eine Interview, um besonders Wichtiges handle. Englisch, dünne Blättchen, schlechte Schrift: Fürst Bülow hat keine Lust, den Artikel zu lesen. Was der Kaiser für nützlich und Jenisch mindestens für publizierbar hält, kann zu ernsten Bedenken doch kaum Anlaß geben. Herr von Müller, der das Reich im Haag vertritt und jetzt zur Dienstleistung nach Norderney befohlen ist, erhält den Auftrag, das Manuskript zur Prüfung und Berichterstattung ans Auswärtige Amt zu senden. Wer ist da zuständig? Der Dezernent der Preßabteilung ist beurlaubt. Der Unterstaatssekretär noch nicht lange im Amt. Als zuverlässigster Aktenkenner gilt in der Politischen Abteilung Geheimrat Klehmet. Der bekommt Wortleys Blättchen, meint, er solle nur prüfen, ob die Angaben richtig seien, und meldet, er sehe kein Bedenken, das gegen die Publikation spreche. Dieser Bericht geht nach Norderney. Herr von Müller legt ihn mit dem Manuskript, das er noch immer nicht liest, nicht einmal flüchtig anblättert, zu den für die Unterschrift fertigen Sachen und der Kanzler setzt, ohne zu ahnen, was er tut, unter den nun historischen Namen Klehmet sein B. Erledigt. Norderney-Rominten-Highcliff-London. Die Herren Jenisch, Müller, Klehmet scheinen mir schuldiger als der Kanzler. Hatten sie Angst, sich die Finger zu verbrennen? Scheuten alle drei den Zorn des Herrn, der sich zwar zu einer Frage bequemen, eine verneinende Antwort aber nicht hören mochte? Wahrscheinlich. Auch den Fürsten Bülow hat mehr als Papier und Schrift wohl die Furcht vor dem Ärger geschreckt, der hinter den dünnen Blättchen lauern konnte. Daß er stumm geblieben wäre, wenn er geahnt hätte, was Wortley ans Licht zu bringen trachtete, darf selbst der Feind ihm nicht zutrauen; selbst der Freund aber, daß er kleinen Konflikten gern ausbiegt.
Höllisch kluge Briten wollten die Veröffentlichung: drum wäre sie mit oder ohne Zustimmung des Kanzlers irgendwo möglich geworden. Und hat denn erst die Veröffentlichung uns geschadet? Nur sie? Jeder patriotische Brite, der Wilhelms Worte hörte, war verpflichtet, sie der Regierung seiner Heimat mitzuteilen. Jeder hätte es getan. Dann war das Unheil geschehen. Daß es ans Licht kam, war noch das Beste für uns. Denn nun sieht auch die Masse, die allzu lange blind blieb, die Gefahr; und kann sich wehren.
Die Kaiserkrisis ist allen sichtbar geworden. Seit sechzehn Jahren ward in der »Zukunft« gesagt, daß sie kommen müsse, wenn erwachender Massenmut zur Wahrhaftigkeit nicht Wunder wirke. Wir wollen nicht neue Sündenböcke in die Wüste schicken; nicht betitelte und besternte Herren zu Prügelknaben machen. Die Halbmänner, deren schädlicher Einfluß Jahrzehntelang, Unheil zeugend, fortgewirkt hatte, sind beseitigt. Was sie angerichtet haben, sieht jedes ungetrübte Auge. Ob die Spur ihres Trachtens je ganz wegzuwischen sein wird, bleibt fraglich. Doch der Ring ist gesprengt. Jetzt hat die Nation mit dem Kaiser zu reden. Nur mit ihm. Die Fehler der Handlanger verschwinden neben der furchtbaren Gefahr, die er heraufbeschworen hat. Dem Reich heraufbeschworen hätte, auch wenn keins der vor Britenohren von ihm gesprochenen Worte gedruckt worden wäre. Merkt die Kurzsicht noch immer nicht, daß die Veröffentlichung der Interview in dem traurigen Stück deutscher Geschichte der einzige Akt ist, der uns Trost gewähren kann? Daß in dem Streit um das Bestimmungsrecht des deutschen Volkes die Hauptfrage nur lauten darf: Hat der Deutsche Kaiser die Sätze, die der britische Oberst ihm zuschrieb, gesprochen?
Er hat sie gesprochen. Konnte sie sprechen. Und hat, als er sie las, in ihnen den Ausdruck seines Denkens und Wollens erkannt. Seine Absicht war, den Briten zu sagen, daß er sie herzlicher liebe, als der Mehrheit seiner Landsleute erwünscht sei; daß er ihr Reich vor dem Zusammenbruch bewahrt, in tiefster Not ihnen, die im Landkrieg ratlos waren, den wirksamen Feldzugsplan geliefert, die heimlich wühlende Feindschaft der (ihnen jetzt eng befreundeten) Mächte vereitelt, die Einladung in ein antibritisches Bündnis nicht nur abgelehnt, sondern, trotzdem sie Verschwiegenheit bedingte, nach London gemeldet habe; und daß die deutsche Flotte zum Kampf gegen Japan und China bestimmt sei. Die Mehrheit der Deutschen haßt England (also habt ihr die Kriegsgefahr vor der Tür und die Wahl, ob ihr morgen losschlagen oder noch hastiger Dreadnoughts bauen wollt). Wenn ich die russischen und französischen Anerbietungen, die im Vertrauen auf unsere Diskretion nach Berlin kamen, nicht abgewiesen und flink meiner Großmutter mitgeteilt hätte, wäre es euch schlecht gegangen (überleget also, ob Rußland und Frankreich zuverlässige Freunde sind). Um euch aus der Ohnmacht zu helfen, habe ich, der höchste Kriegsherr des deutschen Heeres, einen Feldzugsplan für die britische Armee ausgearbeitet (also die Neutralitätpflicht verletzt) und dem Großen Generalstab zur Prüfung übergeben (also die Zeit meiner klügsten Offiziere in Englands Interesse belastet). Meine Flotte baue ich, um für den Kampf um den Stillen Ozean stark zu werden (also merket euch, daß wir da große Ambitionen haben, und erzählet den gelben Männern, daß wir ihnen ans Leben wollen). Das hat Wilhelm der Zweite, Deutscher Kaiser und König von Preußen, vor Engländern gesagt. Daß einer, der sich der Macht entkleiden will, so spräche, wäre noch zu begreifen. Auch ihm müßte staatsmännischer Sinn empfehlen, die Herrscherhoffnung des Erben nicht im Keim zu zerstören. Daß einer, der weiterregieren will, sich draußen so um alles Vertrauen, um allen Glauben an seine Eignung für die einfachsten Aufgaben der Politik gebracht hat, ist ohne Beispiel in der neuen Geschichte. Ohne Beispiel auch die Wirkung dieser Worte auf dem weiten Rund der Erde. Angeln, Romanen, Slawen, Mongolen stehen gegen uns vereint. Vom Weißen bis zum Gelben Meer Wut und Hohn.
Will der Kaiser und König der Krone entsagen? In geringerer, in nicht selbst verschuldeter Fährnis hat sein Großvater daran gedacht. Den Enkel wird kein Frauenwunsch und keine Volksdrohung drängen. Sein Wille ist frei. Doch er darf sich nicht darüber täuschen, daß seine Volksgenossen jetzt gegen ihn sind und daß kein Kanzler sich, der alte nicht noch ein neuer, halten kann, der nicht aus dem Munde des Kaisers die Bürgschaft unverbrüchlicher Selbstbescheidung bringt. Die muß Deutschland fordern. Auch das Haus Hohenzollern. In dieser grausam ernsten Stunde noch. Sonst wird es zu spät.
Wer das Nahen der Kaiserkrisis früh erkannt, fast zwei Jahrzehntelang vor ihr, trotz Schmähung, Vermögensschädigung, Einsperrung, als vor der drohenden Reichsgefahr furchtlos gewarnt hat, der braucht sich jetzt nicht in Schweiß zu schreien, um den Applausspendern zu beweisen, daß ihm im Dunstkreis der Majestät feige Scheu nicht immer die Kehle zugeschnürt hat. Der darf ruhig reden; gelassen wie einer, der von unbestrittenen, unbestreitbaren Tatsachen spricht. Sind sie bestritten worden? Sind sie zu bestreiten? Nicht einer hat's auch nur versucht. Im weiten deutschen Land nicht ein irgendwie Beträchtlicher, dem Fronpflicht nicht das Kreuz so nutzlosen Mühens aufzwang. So weit sind wir. Endlich. Und dürfen aufatmen: denn der Erdkreis merkt nun wieder, daß auf deutschem Boden nicht eine Herde lebt, die der Wink des Hirten auf eine kahle Dünenklippe treibt oder in den Stall pfercht. Daß germanische Volkheit im Qualm der Städte den Stolz freier Sassen noch nicht verlernt hat; daß sie nach selbstherrlichem Ermessen ihr Vertrauen gibt und nimmt; und, wenn Notwendigkeit befiehlt, dem Haupt der in ihrem Bereich mächtigsten Familie mit unüberhörbarer Stimme, wie Hiobs Gott einst dem wildem Meer, zuruft: »Bis hierher darf deine Gewalt reichen und nicht um Fußes Breite je weiter!« Das ist geschehen. Da der Wunsch treuer Herzen, die Majestät möge sich wieder mit Wolken kleiden und in Dunst wie in Windeln wickeln, unerfüllt geblieben ist, im Gebraus üppigen Hoflagerlebens wohl gar nicht vernommen ward, haben tausend schrille Stimmen von dem Kaiser und König Gehör erzwungen. In den rauhen Chor klang eine fromm mahnende Weise hinein; wie ins Feuergeläut der umflorte Ton einer Totenglocke. Der Vorstand der Konservativen Partei hat eine Erklärung veröffentlicht, in der gesagt wird: Wir sehen mit Sorge, daß Äußerungen Seiner Majestät des Kaisers, gewiß stets von edlen Motiven ausgehend, nicht selten dazu beigetragen haben, zum Teil durch mißverständliche Auslegung, unsere Auswärtige Politik in schwierige Lage zu bringen. Wir halten, geleitet von dem Bestreben, das kaiserliche Ansehen vor einer Kritik und Diskussion, die ihm nicht zuträglich sind, zu bewahren, und von der Pflicht beseelt, das Deutsche Reich und Volk vor Verwicklungen und Nachteilen zu schützen, uns zu dem ehrfurchtvollen Ausdruck des Wunsches verbunden, daß in solchen Äußerungen künftig eine größere Zurückhaltung beobachtet werden möge. Eine Totenglocke. Die einen ehrwürdigen Wahn zur letzten Ruhstatt geleitet. Ein König von Gottes Gnaden dürfte nie getadelt, niemals zu »größerer Zurückhaltung« gemahnt werden. Der wüßte besser als jeder andere, was ihm ziemt, was dem Lande frommt. Der fünfte Novembertag des Jahres 1908, der diese Erklärung gebar, ist aus Preußens Geschichte nicht mehr zu tilgen. Vor zwanzig Jahren, beim Johannitermahl in Sonnenburg, hat Wilhelm der Zweite die »Edelsten des Volkes« als seine zuverlässigsten Helfer gerühmt. Sechs Jahre danach sprach er in der Krönungstadt preußischer Könige: »Wie der Efeu sich um den knorrigen Eichstamm legt, ihn schmückt mit seinem Laub und ihn schützt, wenn Stürme seine Krone durchbrausen, so schließt sich der preußische Adel um mein Haus.« Der sichtbarste Teil des Adels hat vor der Antwort auf die Reichslebensfrage so lange gezaudert, daß die kaiserliche Katachrese an Sätze erinnern mußte, die Goethe ins Buch seines Erlebens schrieb: »Wie die Mollusken keine Knochen, so hat der Efeu keinen Stamm, mag aber gern überall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen. An alte Mauern gehört er hin, an denen ohnehin nichts mehr zu verderben ist, von neuen Gebäuden entfernt man ihn billig; die Bäume saugt er aus und am Allerunerträglichsten ist er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sei ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe. Die Zeit ist vorbei. Der Adel will nicht länger anschmiegsamer Efeu sein. Nicht blind, wie ihm zugemutet ward, durch dick und dünn folgen. Die Buch, Erffa, Heydebrand, Kröcher, Manteuffel, Mirbach, Normann, Pappenheim fühlen, daß ihre Kaste verloren wäre, wenn sie sich jetzt noch völlig von dem Empfinden der Nation schiede. Sie haben Brüder und Vettern, Söhne und Schwiegersöhne in der Armee und in der Verwaltung, sind dem Hofbann erreichbar: und sprechen dennoch deutlicher als irgendwo eine bourgeoise Gruppe. Mäutig und (deshalb) klug. Noch aber ist nichts gewirkt, nichts gesühnt, nichts verbürgt. Ist durchaus nicht sicher, daß nach ein paar Wochen das alte Leid nicht wieder die Volkskräfte lähmt. Das aber darf nicht sein. Um des Reiches, auch um des Kaisers willen.
Am 10. November hat Fürst Bülow die Interpellation der Reichstagsparteien beantwortet. Zwei Jahre zuvor hatte er gesagt: »Ein gewissenhafter, ein seiner moralischen Verantwortlichkeit sich bewußter Kanzler wird nicht im Amt bleiben, wenn er Dinge nicht zu verhindern vermag, die nach seinem pflichtgemäßen Ermessen das Wohl des Reiches wirklich und dauernd schädigen. Wären solche Dinge vorgekommen, so würden Sie mich nicht mehr an dieser Stelle sehen.« Er hat die Schätzung des Schadens also seinem »pflichtgemäßen Ermessen« vorbehalten; und darf, da er noch auf seinem Eckplatze sitzt, nicht zugeben, daß des Reiches Wohl »wirklich und dauernd« geschädigt ist. Er hat die »verhängnisvolle Wirkung« der kaiserlichen Interview nicht einen Augenblick verkannt; findet den Schaden »groß«, doch »nicht so groß, daß er nicht mit Umsicht wieder ausgeglichen werden könnte«; ein »Unglück« darf man's nennen, nicht »eine Katastrophe«. Wörterbuchfragen. Auch die Wirkung einer Katastrophe kann übrigens »mit Umsicht wieder ausgeglichen werden«. Wir sind bescheiden. Uns genügt die Feststellung, daß durch den Deutschen Kaiser »großer Schaden«, eine »verhängnisvolle Wirkung«, »ein Unglück« ins Deutsche Reich gekommen ist. Das ist's nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Kanzlers. Was »dauernd« geschädigt hat, lehrt erst der Rückblick. Wenn je eine Handlung aussah, als müsse sie weit in die Ferne wirken, so ist's die von Wilhelm selbst bestätigte; ist's die Art, wie der Kaiser über seine Landsleute, seine Taten und Absichten und über die Geheimnisse deutscher Diplomatie vor Engländern geplaudert hat. Der gewissenhafte Kanzler, der in elfjährigem Mühen so gefährliche Dinge nicht zu hindern vermocht hat und dennoch im Amt bleibt, muß die Katastrophe sehr nah glauben und deshalb bereit sein, lieber als seine Kontrollmacht das Vertrauen in seine Gewissenhaftigkeit gemindert zu sehen.
Fürst Bülow »muß bezweifeln, daß alle Einzelheiten aus den Gesprächen des Kaisers im Daily Telegraph richtig wiedergegeben worden sind«. Muß er? Dann muß er bezweifeln, daß der Kaiser imstande ist, die Richtigkeit ihm zugeschriebener Sätze zu prüfen. Wilhelm hat das vom Oberst Stewart Wortley eingeschickte Manuskript gelesen und lobend glossiert; hat die Wiedergabe seiner Worte als richtig gefunden. Der Verteidiger Seiner Majestät erzählt uns, weder der Kaiser, noch der Große Generalstab habe jemals einen detaillierten Plan zum Kriege gegen die Buren ausgearbeitet, geprüft, nach England geschickt. Was über den Kanal spediert wurde, waren »Aphorismen«, »rein akademische Gedanken über die Kriegführung im allgemeinen, ohne praktische Bedeutung für den Gang der Operationen und für den Ausgang des Krieges«. Solche Gedanken hätten in die Briefe Wilhelms an Großmama sicher sehr gut gepaßt und Grandy hätte in ihren letzten Greisentagen solchen Kursus in Strategie und Taktik gewiß gern durchschmarutzt. Nur: das nette Histörchen läßt sich nicht halten. Im Daily Telegraph stand: »Ich ließ von einem meiner Offiziere die Kopfzahl und die Position der in Südafrika auf beiden Seiten fechtenden Truppen feststellen, entwarf nach diesen Angaben den unter solchen Umständen für Englands Interessen tauglichsten Feldzugsplan und schickte ihn, als mein Generalstab ihn gebilligt hatte, nach England. Auch dieses Dokument liegt in Windsor Castle. Und mein Kriegsplan glich in allem wesentlichen dem vom Lord Roberts dann mit Erfolg ausgeführten. Handelt so ein Feind Englands?« Diesen Wortlaut hat Wilhelm geprüft und richtig gefunden. Und der Kriegsplan, auf den der Kaiser sich als auf das stärkste Beweismittel seines Rechtes auf dankbare Britenliebe beruft, soll niemals entstanden sein? Trotzdem in London und Berlin der Offizier genannt wird, der die Ziffern herbeigeschafft hat? Trotzdem der Kaiser davon sprach?
Weiter. »Im Mai 1899«, sagt der Kanzler, »haben wir den Buren keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie im Fall eines Krieges allein stehen würden.« Mag sein. Da kam die Warnung eben zu spät; und die Buren, die Murawiew auf eine Intervention hoffen ließ, glaubten, Deutschland werde sich die gute Gelegenheit nicht absperren, im Bunde mit den Nachbarn aus Ost und West die britische Hegemonie vom Festland abzuschütteln. Das mußten sie glauben, seit Freiherr von Marschall im Reichstag den Wert unserer südafrikanischen Interessen so hoch eingeschätzt und der Kaiser in der Depesche an Paul Krüger das Deutsche Reich eine den Burenstaaten befreundete Macht genannt hatte, die ihnen auf Anruf helfen werde. Diese Depesche hat die deutsche Wirtschaft etwa hundert Millionen Mark gekostet; »das Wohl des Reiches also wirklich und dauernd geschädigt«. Diese unnötige, nur einer Stimmung Luft schaffende Depesche hat die Briten auf Jahre hinaus erbittert. Und als die Buren dann Hilfe erbaten? »Wer hat denn der Rundreise der von den Buren Abgeordneten, die eine europäische Intervention gegen euch erwirken sollten, ein Ende gemacht? Ich. Ich weigerte mich, sie zu empfangen: und sofort hörte die Agitation auf und eure Feinde konnten nichts ausrichten.« So hat's der Kaiser gesagt, gelesen, verbreiten lassen. So will er's in die Geschichte bringen. Kann der Hinweis auf die Warnung, die im Mai 1899 über den Haag nach Pretoria ging, den Groll über solches Handeln beschwichtigen?
Daß der Kaiser den franko-russischen Bündnisvorschlag seiner Großmutter meldete, soll, sagt der Kanzler, nicht der Rede wert sein. »Die Sache war längst bekannt. (Lebhaftes Hört! Hört!)« Längst? Seit Wilhelm der Zweite sie in Gesprächen, die der englische Journalist Bashford vor einem Jahr veröffentlichen durfte, bekanntgemacht hat. Auf diese Gespräche, nach denen fremden Mächten in Berlin nicht mehr die Gewähr unbedingter Verschwiegenheit zu bieten sei, haben sich die Wiener berufen, als ihnen vorgehalten wurde, daß es freundschaftlich gewesen wäre, Deutschland früher als andere auf die Annexion Bosniens und der Herzegowina vorzubereiten (Hört! Hört!). »Die sicherste Politik ist wohl diejenige, die keine Indiskretionen zu fürchten braucht.« Sprenkel für die Drosseln. Jede Politik muß Indiskretionen fürchten; selbst die redlichste. Die Bülows wie die Bismarcks; Ährenthals wie Metternichts. Auch die saubersten und solidesten Banken und Industriegesellschaften bergen Geschäftsgeheimnisse; und der Generaldirektor oder Aufsichtsratspräsident, der sie ohne Vereinbarung entschleierte, käme um Sitz und Kredit. »Die Mitteilung konnte berechtigt sein, wenn vor irgendeiner Seite versucht worden wäre, unsere Absichten zu entstellen oder unsere Haltung zu verdächtigen.« Nach dem Bekenntnis zu solchem Grundsatz will Fürst Bülow für das Reich noch Geschäfte machen? Wenn Deutschlands Haltung verdächtigt wurde, durfte der Deutsche Kaiser, statt sich auf die Entkräftung des Verdachtes zu beschränken, den Plan, der in embryonischem Zustand aus Petersburg nach Berlin gekommen und unter der Voraussetzung unverbrüchlicher Diskretion dem Leiter des Auswärtigen Amtes mitgeteilt worden war, dem Auge der davon bedrohten Macht entschleiern? Solche Staatsmoral gäbe dem Botschafter das Recht, der vor ungefähr zwanzig Monaten sagte, das Deutsche Reich sei nicht mehr bündnisfähig. Und der Nutzen des Verstoßes gegen die Spielregel der Diplomatie, den der Mandant verdienstlich, der Mandatar »unter Umständen mindestens erklärlich« findet? Hat er uns Britanniens Liebe erworben? Rußland und Frankreich, einst »eure Feinde«, waren schon im Algesirasjahr dem Inselreich innig gesellt.
Der Kaiser hat vor Briten gesagt, die Mehrheit der Deutschen sei gegen England. Gesagt, Deutschland baue seine Flotte, um für den Kampf um die Zukunft des Stillen Ozeans in Bereitschaft zu sein. So ist's mit seiner Ermächtigung gedruckt worden. Der Verteidiger stellt sich, als sei die Wiedergabe ungenau oder falsch. »Wir denken gar nicht daran, uns im Stillen Ozean auf maritime Abenteuer einzulassen.« Vielleicht dünkt ihn der Kampf um die Zukunft dieses Ozeans kein Abenteuer. An diesen Kampf hat der Kaiser gedacht; an einen Kampf anglo-deutscher gegen ostasiatische Geschwader. Danach, nach dem Buddhabild, der Hunnenrede, der steten Warnung vor der »gelben Gefahr« wird Nippon auch vom geschicktesten Beschöniger leider nicht leicht zu überzeugen sein, daß es in dem Deutschen Kaiser einen Freund zu sehen habe. »Wären die materiellen Dinge in der richtigen Form im einzelnen bekannt geworden, so wäre die Sensation keine große gewesen.« Sie sind in der richtigen Form bekannt geworden; genau in der Form, in der sie der Kaiser bekannt werden lassen wollte; die er überwacht und gebilligt hat.
Am 1. November spricht lächelnd der Kaiser: »Na, Bernhard habe ich herausgehauen!« Durch die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Tatbestandes, der erwies, daß die Londoner Publikation an die Zustimmung des Kanzlers gebunden sein sollte. Am 10. November will der Kanzler vergelten. »Ich verstehe, daß der Kaiser, gerade weil er sich bewußt war, immer eifrig und ehrlich an einem guten Verhältnis zu England gearbeitet zu haben, sich gekränkt fühlte durch Angriffe, die seine besten Absichten entstellten. Ist man doch so weit gegangen, seinen Interessen für den deutschen Schiffsbau geheime Absichten gegen englische Lebensinteressen unterzuschieben, an die er nie gedacht hat.« »Immer« und »nie« sind Wörter, in deren Anwendung der über Wilhelm den Zweiten Sprechende vorsichtig sein sollte. Fürst Bülow nimmt als erwiesen an, was erst zu erweisen wäre; aber nicht zu erweisen ist. Er sollte sich hüten; auch gut gemeinte Provokation kann gefährlich werden. Und Eduards Köcher birgt noch manchen Papierpfeil. Dem Enkel des Koburgers und der Welfin ist's so ziemlich mit allen Dingen Himmels und der Erde so gegangen wie mit den äronautischen Versuchen des Grafen Zeppelin. Jahrelang hat er über die Arbeit des Grafen ungemein schroff abgeurteilt, ihm, der gerade damals der Hilfe gar dringend bedurfte, die Reichsquellen nicht geöffnet und ist heftig geworden, wenn der Name des Erfinders genannt wurde. Jetzt, nach Erfolgen, die den Sachverständigsten noch nicht zur Urteilsgründung genügen, ist ihm »die Vorzüglichkeit des starren Systems über alle Zweifel erhaben« (noch im Hochsommer war's ein nicht diskutierbarer Unsinn); ist der Graf »der größte Deutsche des zwanzigsten Jahrhunderts« (das nächstens ins achte Lebensjahr tritt), »der Bezwinger der Lüfte« und der Würdigste, den Hohen Orden vom Schwarzen Adler zu tragen; denn er (der vorgestern Verfemte, den man noch nach dem Echterdinger Tag nur unter Aufsicht arbeiten lassen durfte) »hat uns an einen Entwicklungspunkt des Menschengeschlechtes geführt und einen der größten Momente in der Entwicklung der menschlichen Kultur erleben lassen.« Das klingt. Schwarzer Adler. Accolade. Küsse auf beide Backen. Vor allem Volk. Und wenn dieser Bringer neuen Heils und echter Höhenkultur vier Wochen vor seinem siebzigsten Geburtstag gestorben wäre, hätte der Deutsche Kaiser sich an ihn als an einen dilettierenden Narren erinnert, bei dessen Nennung die Achsel zuckte. Ein Beispiel für viele, die uns den Kopf schütteln ließen, seit Bismarck »noch sechs Monate verschnaufen« sollte. So war's auch mit dem Verhältnis zu fremden Völkern; besonders zu England. »Der Dreizack gehört in unsere Faust!« »Der Admiral des Atlantischen Ozeans grüßt den Admiral des Stillen Ozeans.« »Auf dem Erdball keine Entscheidung mehr ohne Mitwirkung des Deutschen Kaisers!« »Hohenzollern-Weltherrschaft.« »Deutschland in der Welt vornan!« Konnten solche Worte dem Briten lieblich klingen? Und schlimmere sind gesprochen worden; viel schlimmere geschrieben. Ist Engländern zu verargen, daß die hitzige Werbung um die Liebe der Mohammedaner und der Yankees, daß die Politisierung der Bagdadbahn, die als gunstloses Geschäftsunternehmen die City nicht beunruhigt hätte, ihr Mißtrauen weckte? Daß sie der Mär nicht trauen, Deutschland dehne sein Steuerrecht bis an den Bezirk der Vermögenskonfiskation, nur um seinen Handel zu schützen, trachte nur deshalb, neben dem stärksten Landheer sich eine seinen Kolonialbesitz ins Ungeheure überwachsende Flotte zu schaffen? Kriegsschiffe, deren Stapellauf mit Schlachtgesängen und hellen Fanfaren der Erobererhoffnung gefeiert wird? Ohne Verständigung über die Grenzen der Seemacht keine aufrichtige Freundschaft mit England. Niemals. Denn für England ist's die Lebensfrage, ob es die ungefährdete Herrschaft über die Meere behält; und es muß jeden hassen, der's zwingt, noch schwerere, teurere Rüstung auf sich zu nehmen. Und die anglo-deutsche Konfliktsgefahr wirkt über den Erdkreis hin und bestimmt in Orient und Okzident die Gruppierung der Mächte. Das könnte jeder Nüchterne wissen. Wozu dann die stete Umwerbung, die den stolzesten Deutschen längst auf die Nerven fällt? Seit das Tempo des Flottenbaues nach jähem Entschluß beschleunigt worden ist, steht Deutschlands internationale Politik unter widrigem Gestirn. Und was wird die Häufung der finanziellen und der politischen Schwierigkeiten schließlich erreichen? Was die Familienpolitik in der Burenkriegszeit erreicht hat: neue, vorher unahnbare Koalitionen.
Nur ein für die beschädigte Konstruktion und die stille Abwicklung politischer Geschäfte völlig ungeeignetes Temperament konnte sich darüber täuschen. Vor Fremden, ein Kaiser und König, so sprechen, daß dem Echo der Weg verriegelt, von dem amerikanischen Interviewer Hale das Manuskript zurückgezogen werden muß, damit durch den Kaiser der Deutschen nicht neues Ärgernis in die Welt komme. Konnte hoffen, ein Herrenvolk von alter Kultur und politischem Genie dadurch zu gewinnen, daß man, als Erbe nachgewachsener Macht, ihm sagt: »Wenn ich euch damals nicht gerettet hätte, wäre es euch miserabel gegangen«; und zu verstehen gibt, wie die Gnade des Verwandten der Unfähigkeit in Kolonialkriegen ergrauter Krieger aus dem Sumpf geholfen hat; einem Volk zu verstehen gibt, dessen im Verkehr mit Deutschland empfindlichster Punkt das Bewußtsein militärischer Schwachheit ist. Wer so oft, so furchtbar geirrt hat, kann Vertrauen in seine Eignung zum Amt eines Reichsgeschäftsführers niemals mehr heischen. Fürst Bülow hat, um nicht nur in der undankbaren Rolle des Verteidigers vor dem Thing aufzutreten, gesagt: »Die Einsicht, daß die Veröffentlichung dieser Äußerungen in England nicht die von Seiner Majestät dem Kaiser erwartete Wirkung gehabt, in Deutschland aber tiefgehende Erregung und schmerzliches Bedauern hervorgerufen hat, wird (diese feste Überzeugung habe ich in diesen schweren Tagen gewonnen) Seine Majestät den Kaiser dahin führen, künftig auch in seinen Privatgesprächen sich diejenige Zurückhaltung aufzuerlegen, die für eine einheitliche Politik, für die Autorität der Krone eine unerläßliche ist. Wäre dem nicht so, dann könnte weder ich noch einer meiner Nachfolger die Verantwortung tragen.« Immerhin fast so tapfer wie die elf Deklaranten. Aber hat der Kaiser die tiefgehende Erregung und das schmerzliche Bedauern denn mitgefühlt? Auch nur bemerkt? Während die vom Volk Abgeordneten sich zu einem Gerichtstag versammelten, wie das Reich ihn nie erleben zu müssen geglaubt hatte, wurde aus der Zeppelinstadt berichtet, Seine Majestät sei »in besonders fröhlicher Stimmung«. Zurückhaltung in Privatgesprächen? »Der Kaiser,« sagte Bismarck, »ist anders als wir. Er möchte alle Tage Geburtstag haben und nimmt's wie Beleidigung auf, wenn ihm mal einer verregnet.«
Armand Augustin Louis Graf von Caulaincourt, Herzog von Vicenza, steht, als Gesandter Napoleons, vor Alexander dem Ersten und spricht: »Konstantinopel ist ein so wichtiger Punkt, daß sein Besitz und die Dardanellenöffnung Eure Majestät zum zwiefach gesicherten Herrn des ganzen Handels mit der Levante, mit Indien sogar machen würde. Auf dieser Basis ist eine Verständigung nicht möglich.« Der Zar antwortet: »Wenn die Türken fort sind, ist Konstantinopel nur noch eine Provinzstadt am Endpunkt des Reiches. Die Geographie will, daß ich's habe; gehört's einem anderen, so bin ich in meinem Hause nicht mehr Herr. Und Ihr Kaiser wird zugeben, daß die anderen nicht darunter leiden, wenn ich den Schlüssel zu meiner Haustür habe.« Caulaincourt: »Dieser Schlüssel öffnet und sperrt auch Toulon und Korfu; öffnet und sperrt den Welthandel.« Alexander: »Man kann aber Bürgschaft dafür leisten, daß dieser Weg niemals und unter keinen Umständen dem Handel irgendeiner Macht geschlossen werden darf.« Caulaincourt: »Solche Bürgschaft wäre wertvoll, wenn Eure Majestät ewig regierten; doch die Vorsicht gebietet, daß bei einem Abkommen, das den Weltgeschicken die Bahn weisen soll, der Kaiser seinem Reich jede erdenkliche Sicherheit verschafft. Wird der Nachfolger Eurer Majestät der Freund, der Bundesgenosse Frankreichs sein? Kann Eure Majestät dafür bürgen? Graf Rumanzow bemüht sich, Rußlands Zukunft für alle Fälle zu sichern. Bei allem guten Willen, das Eurer Majestät Angenehme und Nützliche zu tun, kann der Kaiser in einer Sache von dieser Bedeutung nicht die Interessen Frankreichs opfern.« Alexander: »Ich wünsche nichts sehnlicher als die Verständigung. Wenn ihr aber den größeren Teil nehmt und alle Folgen dieses weltgeschichtlichen Ereignisses für euren Vorteil wirken, muß ich wenigstens den Nutzen haben, den die Geographie mir gibt. Der ist übrigens viel kleiner, als ihr denkt. Der Kaiser kann die Dardanellen nicht für sich wollen. Will er sie einer Macht geben: warum nicht mir? Welchen Schaden brächte es ihm?« Caulaincourt: »Eure Majestät wäre dann vor der Tür von Korfu und Toulon.« Alexander: »Lange nicht so nah wie ihr der Tür von Portsmouth und England den Türen von Brest und Cherbourg.« Caulaincourt: »Deshalb sind wir auch Rivalen; selbst in Friedenszeit. Vielleicht werden wir nie befreundet, sicher nie Bundesgenossen sein. Eure Majestät wünscht doch, daß wir Freunde bleiben. Das ist nur möglich, wenn der Nutzen des einen dem andern nicht schadet. Nach der Absicht des Ministers Grafen Rumanzow soll Rußland die eigentliche Levantemacht werden; was es da an neuem Landbesitz erwirbt, wird mit dem weiten Zarenreich fest verbunden. Das Gleichgewicht, das den Frieden erhält, hört dann auf. Frankreich an den Dardanellen, selbst in Konstantinopel: davor braucht niemand zu zittern. Für Frankreich wäre es ein ferner Besitz, etwas wie eine Kolonie. In Rußlands Hand wäre dieser Besitz eine Gefahr.« Alexander: »Ich kann mein Reich nicht in unbequemere Lage bringen, als sie ihm durch die Nachbarschaft der Türken bereitet ist. Wenn Frankreich die Dardanellen hat, verliere ich, mag auch Konstantinopel russisch sein, mehr, als ich gewinne.« 1808. Das Gespräch läßt die Standpunkte und Pläne der Gegner klar erkennen, die einander ihre Freundschaft beteuern. Weder Frankreich noch Rußland soll über die Meerengen herrschen; und noch weniger soll's, nach beider Willen, England. Was sonst aus der Türkei wird: diese Nebenfrage erregt nirgends die Geister der Staatsmannschaft. Keine Großmacht bekennt sich für den Islam; keine will für seine Erhaltung, sein ungehemmtes Fortleben auf Europas Boden die schwere Bürgschaft übernehmen. Auch der Korse nicht. Im ersten Ärger über die Londoner Parlamentsreden hat er versucht, den Zaren, den der gekrönte Parvenü Monsieur mon frère nennen darf, in ein Bündnis gegen England zu locken. »Nur großes, weitausblickendes Handeln kann uns noch den Frieden sichern und unser System festigen. Eure Majestät muß die Kopfzahl und die innere Kraft des russischen Heeres mehren. Was ich an Beistand leisten kann, leiste ich gern und aus redlichem Herzen. Denn ich hege gegen Rußland nicht Eifersucht, sondern wünsche ihm Ruhm, Glück und ein erweitertes Machtgebiet. Wir hätten, beide, lieber friedliche Tage in unseren weiten Reichen verlebt und uns bemüht, sie durch die Künste und durch die Wohltaten der Verwaltung noch mehr zu beleben und zu beglücken. Doch die Feinde der Welt wollen es nicht. Wider unseren Willen müssen wir größer sein. Weisheit und Politik raten, den Befehl der Vorsehung auszuführen und dem unwiderstehlichen Gang der Ereignisse zu folgen. Dann wird das Pygmäengewimmel, das nicht einsehen will, daß den Vorgängen von heute ähnliche nur im Buche der Geschichte, nicht in den Zeitungen des vorigen Jahrhunderts zu suchen sind, sich endlich beugen und die von Eurer Majestät und mir befohlene Bewegung mitmachen: und die Völker Rußlands werden sich des Ruhmes, des Wohlstandes, des Glückes als des Ertrages so großer Ereignisse freuen. Vielleicht war's ein bißchen Kleinmut, der uns beide trieb, einen sicheren Besitz einem besseren Zustand vorzuziehen; doch da England nicht will, müssen wir uns in die Erkenntnis gewöhnen, daß die Epoche der großen Wandlungen und des großen Geschehens gekommen ist.« Der Plan wurde nicht ausgeführt, die Türkei nicht geteilt, weil Rußlands und Frankreichs Interessen im europäischen Orient schon damals unvereinbar waren. Aber Bonaparte hatte das Recht, solchen Plan zu entwerfen und mit dem Einsatze seiner Person zu vertreten. Denn er fühlte, daß England alles an den Versuch wagen würde, ihn unschädlich zu machen; und er durfte auf festerem Grund als der Sonnenkönig sprechen: »Der Staat bin ich.« (Der aus den Gewittern der Jakobinerrevolution gerettete Staat, dem der Caesar aus Ajaccio die Form gab.) Das durfte selbst der Russenzar nicht. Begnügte sich meist auch damit, seines Ministers Rede majestätisch zu wiederholen.
Dreiunddreißig Jahre danach wird, unter Palmerstons Auspizien, der Meerengenvertrag geschlossen. Die Unantastbarkeit der Türkei ist nun schon »politisches Axiom«; die Meerengensperre scheint auch in Friedenszeit den fünf Großmächten nötig. Auf Preußens Thron sitzt Friedrich Wilhelm der Vierte, von dem David Friedrich Strauß gesagt hat: »Ein Berliner Philosoph hat ihn neulich einen historischen Geist genannt. Mag ihm der Geist der Geschichte eine solche Lästerung vergeben! Aber so viel ist richtig: Jener Fürst war recht eine Verkörperung des neunzehnten Jahrhunderts, sofern es das achtzehnte verleugnet. Überfluß an Geist, aber Mangel an Menschenverstand; Gefühl nur gar zu viel, aber Charakter doch gar zu wenig; mehr Edelmut als Rechtlichkeit; Andacht ohne Ernst der Gesinnung; vornehme geschichtliche Liebhaberei ohne gesunden geschichtlichen Trieb, ohne die Lust und die Kraft, von dem Blättern in dem bunten Bilderbuch der Vergangenheit hinweg einen männlichen Schritt in die Zukunft hinein zu tun. Und kann man denn einen Geist historisch nennen, der zwar das Mittelalter zu verstehen und zu lieben meint, aber das Zeitalter Friedrichs und Josephs, der deutschen Vernunftkritik und der französischen Staatsumwälzung verkennt, ja selbst an einem Luther und Calvin sich eigentlich nur von ihrer rückwärts, dem Mittelalter zugekehrten Seite angesprochen fühlt? Es gehört zu den unwillkürlichen Verdiensten, deren der romantische König sich manche erworben hat, selbst der blödesten Fassungskraft gezeigt zu haben, wohin unser Jahrhundert mit solcher Verleugnung des achtzehnten kommt. Verdumpfung und begonnene Fäulnis auf allen Gebieten, in Staat und Kirche, Schule und Wissenschaft, war das Erbe, das die Regierung Preußens antrat.« Ungefähr ebenso hat, aus anderer Weltanschauung, Treitschke über den König geurteilt. »Zu allem Herrlichen schien er geboren; verschwenderisch hatte ihm die Natur Kopf und Herz ausgerüstet; nur jene einfachen, massiven Gaben, die den Staatsmann ausmachen, blieben ihm versagt. Ihm fehlte der Sinn für das Wirkliche, der die Dinge sieht, wie sie sind, und der geradeaus das Wesentliche treffende schlichte Menschenverstand. Wie schwer fiel es doch diesem Künstler der Rede, dessen gesprochenes Wort so viele bestach, in seinen Denkschriften und Briefen bestimmt zu sagen, was er eigentlich wollte! Durch gehäufte Ausrufungszeichen und zwei- oder dreifache Unterstreichungen suchte er zu ergänzen, was er trotz seiner seltenen Sprachgewalt nicht ausdrücken konnte; der klare Geist bedarf solcher Krücken nicht, weil er durch den Bau seiner Sätze den Leser zwingt, die Worte richtig zu betonen. Ihm fehlte auch die frische Kraft des Wollens. In sorgloser Heiterkeit schritt er durch das Leben; kraft der Weihe seines königlichen Amtes, kraft seiner persönlichen Begabung glaubte er, alle Welt weit zu übersehen, und es gefiel ihm zuweilen, seine Absichten in ein ahnungsvolles Dunkel zu hüllen, durch halbe, unklare Worte die kleinen Sterblichen in Verwirrung zu setzen. Ohne durchgreifende Willenskraft, ohne praktischen Verstand, bleibt er doch ein Selbstherrscher im vollen Sinn. Niemand beherrschte ihn; aller Glanz und alle Schmach seiner Regierung fiel auf ihn selbst allein zurück. Auf den Widerspruch seiner Räte ließ er wohl einen Lieblingsplan plötzlich fallen und dann schien es eine Weile, als ob die Gedanken in diesem unruhigen Kopfe wechselten wie Bilder im Wandelglas: bis sich endlich mit einemmal zeigte, daß der König an seinem ursprünglichen Plan mit einer seltsamen stillen Zähigkeit festgehalten hatte und trotz allem, was dazwischen lag, zu ihm zurückkehrte. Er gab nichts auf und setzte wenig durch.« Wenig auch von seinen Orientplänen. Das Bistum Jerusalem, das an geweihter Stätte für die Union der Christenkirchen zeugen sollte (und von den Liberalen früh als das unhaltbare Werk »diplomatischer Romantik« verspottet wurde), kümmerte ein Halbjahrhundertlang hin und mußte schließlich dem Britenanspruch geopfert werden. Und dieser Wahn des Königs hatte Preußen in Gefahr gebracht, aus der nur ein unrühmlicher Rückzug es retten konnte. Die Zeit des persönlichen Regimentes war eben verstrichen und die Volksstimme heischte ihr Recht. Die wollte Friedrich Wilhelm nicht hören. Zwar pries er die britische Freiheit; mochte sie seinen Preußen aber nicht gewähren. Die führte sein Königswink herrlichen Tagen entgegen. Vergebens warb er in schimpflicher Demut um Englands Liebe; suchte vergebens sich der modernen Weltanschauung der kühlen Kaufleute anzupassen, die in den Hauptstädten der Westmächte die Geschäfte besorgten. Der Enttäuschung entwuchs die Wut; und der Wütende ist bald vereinsamt. Im Orient und im Okzident hat Friedrich Wilhelm nichts erreicht. »Preußen stand in der diplomatischen Welt so einsam wie seit Jahren nicht. Sein König hatte verstanden, in kurzer Zeit die alten Freunde Österreich und Rußland mit Mißtrauen zu erfüllen; er hatte mit seinen Freundschaftwerbungen in England wenig Anklang gefunden. Und kaum war die Kriegsgefahr vorüber, so bemerkt man bald, daß Preußen jetzt auch an den kleinen deutschen Höfen weniger geachtet war als einst unter dem alten König. Die ruhige Würde des Vaters erweckte Vertrauen, die bewegliche Geschäftigkeit des Sohnes Zweifel und Argwohn.« So weit war's, nach Treitschkes Urteil, schon im Jahr 1843. Drei Jahre nach dem Rausch des Huldigungsfestes. Am 15. Oktober 1840 steht, auf dem in Gold und Purpur prangenden Anbau des Schlosses, vor dem Thron der König und spricht zu dem Volk, das die mit Flaggentuch geschmückten Tribünen füllt und aus den Fenstern, von den Dächern auf ihn blickt: »Wollen Sie mir helfen und beistehen, die Eigenschaften immer herzlicher zu entfalten, durch welche Preußen mit seinen vierzehn Millionen den Großmächten zugesellt ist, nämlich: Ehre, Treu, Streben nach Licht, Recht und Wahrheit, Vorwärtsschreiten in Altersweisheit zugleich und heldenmütiger Jugendkraft? Wollen Sie in diesem Streben mich nicht verlassen noch versäumen, sondern treu mit mir ausharren durch gute wie durch böse Tage: o, dann antworten Sie mir mit dem klarsten, schönsten Laut der Muttersprache, antworten sie mir ein ehrenhaftes Ja!« Aus abertausend Kehlen dröhnt der erbetene Laut über den Schloßplatz. Und der König jauchzt auf: »Dieses Ja war für mich! Das ist mein eigen! Das lasse ich nicht! Das verbindet uns unauflöslich in gegenseitiger Liebe und Treue! Das gibt Mut, Kraft Getrostheit! Das werde ich in meiner Sterbestunde nicht vergessen!« Schon ein Jahr danach gehen Jacobys »Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen«, durch's bang schweigende Land. Wieder zwei Jahre: und der König ist in Preußen, ist in Europa vereinsamt. Seine Schuld? Die Folge des persönlichen Regiments, gegen das drinnen und draußen der Genius der Volkheiten sich aufbäumt? Er will's nicht glauben. Kann nicht. Hält sich für verkannt, für mißverstanden und schnöd verleumdet. (Bunsen fragt: »Wenn man ihn verstände, wie könnte man ihn begreifen?«) Noch im Juni 1847 schreibt er, im Zorn über die widerspenstigen »Untertanen«, an den Rand eines Berichtes: »Ungezogene Kinder zur rechten Zeit die Rute fühlen zu lassen, ist schon durch Salomon und Sirach empfohlen.« So lange währt die Verblendung. Acht Monate danach muß, im abgesperrten, spärlich erhellten Palast dieselbe Hand hastig die Todesurkunde des preußischen Absolutismus schreiben:
An meine lieben Berliner!
Durch mein Einberufungs-Patent vom heutigen Tage habt ihr das Pfand der treuen Gesinnung eures Königs zu euch und zum gesamten deutschen Vaterlande empfangen. Noch war der Jubel, mit dem unzählige treue Herzen mich begrüßt hatten, nicht verhallt, so mischte ein Haufe Ruhestörer aufrührerische und freche Forderungen ein und vergrößerte sich in dem Maße, als die Wohlgesinnten sich entfernten. Da ihr ungestümes Vordringen bis ins Portal des Schlosses mit Recht arge Absichten befürchten ließ und Beleidigungen wider meine tapferen und treuen Soldaten ausgestoßen wurden, mußte der Platz durch Kavallerie im Schritt und mit eingesteckter Waffe gesäubert werden und zwei Gewehre der Infanterie entluden sich von selbst, Gottlob: ohne irgend jemand zu treffen. Eine Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend, die sich seit einer Woche, obgleich aufgesucht, doch zu verbergen gewußt hatten, haben diesen Umstand im Sinne ihrer argen Pläne durch augenscheinliche Lüge verdreht und die erhitzten Gemüter von vielen meiner treuen und lieben Berliner mit Rachegedanken um vermeintlich vergossenes Blut erfüllt und sind so die gräulichen Urheber von Blutvergießen geworden. Meine Truppen, eure Brüder und Landsleute, haben erst dann von der Waffe Gebrauch gemacht, als sie durch viele Schüsse aus der Königstraße dazu gezwungen wurden. Das siegreiche Vordringen der Truppen war die notwendige Folge davon.
An euch, Einwohner meiner geliebten Vaterstadt, ist es jetzt, größerem Unheil vorzubeugen. Erkennt, euer König und treuster Freund beschwört euch darum, bei allem, was euch heilig ist, den unseligen Irrtum! Kehrt zum Frieden zurück, räumt die Barrikaden, die noch stehen, hinweg und entsendet an mich Männer, voll des echten alten Berliner Geistes mit Worten, wie sie sich eurem Könige gegenüber geziemen: und ich gebe euch mein königliches Wort, daß alle Straßen und Plätze sogleich von den Truppen geräumt werden sollen und die militärische Besetzung nur auf die notwendigen Gebäude, des Schlosses, des Zeughauses und weniger anderer, und auch da nur auf kurze Zeit, beschränkt werden wird. Höret die väterliche Stimme eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlins, und vergesset das Geschehene, wie ich es vergessen will und werde in meinem Herzen, um der großen Zukunft willen, die unter dem Friedenssegen Gottes für Preußen und durch Preußen für Deutschland anbrechen wird.
Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die sehr leidend darnieder liegt, vereint ihre innigen, tränenreichen Bitten mit den meinigen. Geschrieben in der Nacht vom achtzehnten zum neunzehnten März 1848.
Friedrich Wilhelm.
Fünfzig Jahre später. Rußland hat vorgeschlagen, den Prinzen Georg von Griechenland zum Gouverneur von Kreta zu ernennen. Auf diesem Posten, hat Abd ul Hamid erwidert, werde er nie einen Fremdling dulden. Dennoch wird, als in Kandia der Britenkonsul während eines Straßenkampfes von wütenden Muselmanen getötet worden ist, die fremde Besatzung von Kreta verstärkt und die Pforte gezwungen, ihre Truppen von der Insel zurückzuziehen. Am 30. Oktober 1898 spricht in Bethlehem der Deutsche Kaiser zu den evangelischen Pfarrern: »Auf die Mohammedaner kann nur das Leben der Christen Eindruck machen. Daß sie vor dem christlichen Namen keine Achtung haben, kann ihnen kein Mensch verdenken. Politisch reißt man, unter allen möglichen Vorspiegelungen, ein Stück nach dem anderen von ihnen weg, wozu man gar keine Berechtigung hat.« Acht Tage danach antwortete er in Damaskus auf die Ansprache des Scheichs: »Angesichts der Huldigungen, die uns hier zuteil geworden sind, ist es mir ein Bedürfnis, für den Empfang zu danken, für alles, was in allen Städten dieses Landes uns entgegengetreten ist, vor allem zu danken für den herrlichen Empfang in der Stadt Damaskus. Tief ergriffen von diesem überwältigenden Schauspiel, zu gleicher Zeit bewegt von dem Gedanken, an der Stelle zu stehen, wo einer der ritterlichsten Herrscher aller Zeiten, der große Sultan Saladin, geweilt hat, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der oft seine Gegner die rechte Art des Rittertums lehren mußte, ergreife ich mit Freuden die Gelegenheit, vor allen Dingen Seiner Majestät dem Sultan Abd ul Hamid für seine Gastfreundschaft zu danken. Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die dreihundert Millionen Mohammedaner, welche, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Khalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der Deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.« Zu allen Zeiten. Das ist ein festes Versprechen. Drei Wochen vorher ist das Gerücht von einem anglo-deutschen Vertrag durchgesickert und der Reichskanzler hat den Wunsch der Kolonialgesellschaft (die für Krügers Transvaalstaat fürchtet), den Wortlaut zu veröffentlichen mit der Berufung auf »feststehende diplomatische Gepflogenheiten und wichtige politische Rücksichten« abgelehnt. Krisenstimmung. Nikolai Alexandrowitsch hat die Abrüstung empfohlen. Bei Faschoda wird eine neue Reibungsfläche zwischen England und Frankreich sichtbar … Hat das Deutsche Reich wirklich den Briten Südafrika samt der Delagoabai überlassen, dann ist Frankreichs Kolonialmacht bedroht; wird die Republik die Folgen der Unklugheit spüren, die, als Hanotaux gefallen war, den deutschen Vorschlag einer Verständigung über die ostasiatischen Fragen unbeantwortet ließ. Chamberlain rühmt in Wakeneid das neue anglo-deutsche Abkommen als einen wichtigen Erfolg der Unionistenregierung und versichert die »deutschen Freunde«, daß England ihnen nie zumuten werde, für englische Interessen Opfer zu bringen. Schon am Lordmayorstag aber erwähnt Salisbury in der Guildhall die Freundschaft mit Deutschland nicht mehr; erinnert er an die Möglichkeit eines um das Türkenerbe entbrennenden Krieges, für die Britannien seine Seemacht stärken müsse. Was ist geschehen? Der Deutsche Kaiser ist als Triumphator durch das Osmanenreich gezogen und hat dem Islam ungefährdetes Leben verbürgt.
Persönliches Regiment. Kaum einer hatte gewußt, welches Unheil da wuchs. Einer, der's ahnte, stöhnte, als der Plan der Orientreise auftauchte, im Sachsenwald, seine Trompete sei leider durchschossen; sonst hätte er mit letzter Lungenkraft noch das alte Warnerlied wieder geblasen. Und wäre gewiß wieder nicht gehört worden. In der »Zukunft« wurde gefragt, ob man wirklich glaube, daß die Westmächte still zuschauen werden, wenn der Deutsche Kaiser versuche, im Orient alle anderen Herrschergestalten zu überstrahlen; ob der Papst nicht für sein Protektoratsrecht, Österreich-Ungarn für seinen Balkanhandel fürchten werde. Vergebens. Hundert Posaunen preisen die hohe Bedeutung der Reise. »Auf Allerhöchsten Befehl« wird, als kehre ein vom Sieg gekrönter Kreuzritter heim, ein feierlicher Einzug veranstaltet. Am ersten Dezembertag steht der Bürgermeister barhäuptig, trotz schlechtem Wetter, am Brandenburger Tor, reckt die Denkerstirn in die Höhe des Pferdekopfes und gibt, im Namen der »braven Bürgerschaft«, dem Dankgefühl und dem Huldigungsbedürfnis der Reichshauptstadt mannhafte Worte. Fünfzig Jahre nach Achtundvierzig; und Wilhelm nennt, wie der Großohm, die Stadtgenossen »meine lieben Berliner«. In der Thronrede wird die Reise ausführlich erwähnt; wird auch gesagt, dem Deutschen Kaiser (dessen Titel und Macht doch nicht aus den Wolken, sondern aus der Versailler Spiegelgalerie stammt), sei »die Gewalt von Gottes Gnaden verliehen«. Wie in der Zeit, da Zions Herrlichkeit durch den Traum Friedrich Wilhelms spukte. Um die aufhorchenden Westmächte rasch zu beruhigen, versichert Graf Bülow, der Staatssekretär, im Reichstag, die Orientreise habe nicht die »ihr untergeschobenen Motive und Ziele« gehabt. »Deutschland hat im Orient keine direkten politischen Interessen.« Zu den Reden von Bethlehem und Damaskus stimmt die neue Tonart nicht. Dahinter steckt etwas, denkt man in London; denkt's in Paris. Vergessen ist die Glückwunschdepesche, die Wilhelm prompt nach Kitcheners Sudansieg an die Großmutter sandte; ist alle Artigkeit, die er eifernd Franzosen erwies. Delcassé klopft, noch mit schüchternem Finger, bei Salisbury und Curzon an. »Seht ihr nicht, was euch bevorsteht? Uns allen? Um die Liebe der Muselmanen wirbt der Imperator, weil er will, daß sie in der seinem Trachten günstigen Stunde die britische Herrschaft vom Erdball abschütteln. Die Bagdadbahn, für die er sich wie ein Aufsichtsratsmitglied oder ein Akquisiteur eingesetzt hat, soll ihm den trockenen Weg nach Indien sichern. Und daß der hastige Flottenbau nicht von der Notwendigkeit des Handelsschutzes geboten ist, brauche ich euch nicht erst zu beweisen.« Wo die Wut über Wilhelms Telegramm an Paul Krüger nachzittert, muß solche Warnung wirken. Durch die Dreyfuskrisis und den Burenkrieg wird die Entwicklung verzögert. Englands Mißtrauen ist aber nie mehr geschwunden. Auch nicht, als der Enkel der Großmutter den Plan zur Vernichtung der Buren geschickt und ausgeplaudert hat, daß Rußland und Frankreich ihn in einen antibritischen Konzern ziehen wollten. Nie wieder. Die Mächte, von denen 1808 Caulaincourt gesagt hatte, sie könnten niemals Bundesgenossen werden, und die noch bei Faschoda, noch in den Tagen bei Ladyshmith und Mafeking unversöhnbar schienen, befreunden sich, verloben sich gegen die »deutsche Gefahr«. Weil der Deutsche Kaiser Poseidons Dreizack und das Weltarbitrium für sich geheischt, die Buren zum Kampf ermuntert, die gelbe gegen die weiße Menschheit aufgestachelt, nach ostasiatischem Besitz die Hand gestreckt, sich den Admiral des Atlantischen Ozeans genannt, im Khalifat und im Scherifenreich die Rolle des Islamretters an sich gerissen hat. Nur deshalb … Persönliches Regiment.
Dessen Werk war die franko-russische, die franko-britische, die anglo-russische Verständigung. Was unmöglich schien, wurde Ereignis. Totfeinde verscharrten den alten Haß und schworen einander Treue. Wer trieb sie in so seltsame Bundesgenossenschaft? Warum sah ein Reich, das Tag vor Tag seine friedliche Absicht beteuerte und von keiner Beute je einen saftigen Fetzen erschnappte, sich plötzlich auf allen Seiten von Feindschaft umringt? Weil das Haupt dieses Reiches zu oft den Mund geöffnet, zu oft mit der Ankündigung großer Tat, mit Verheißung, Drohung, Werbung den Erdkreis beunruhigt hatte und weil schließlich jeder die Einkreisung des Ruhestifters wünschte. Daß dieser Kreis nicht undurchdringlich ist, zeigt sich, als das Meerengenrecht wieder streitig wird. Den Russen ist, als Entschädigung für die in der Straße von Tschili und am Persischen Golf bestattete Hoffnung, die Öffnung der Dardanellen zugesagt. Von Eduard; der in Makedonien und am Goldenen Horn den Türken zeigen will, daß sie von dem Deutschen Kaiser nicht mehr zu erwarten haben als die Marokkaner. Alles ist fertig und abgemacht: da stürmen die am Trog der Westmächte gemästeten Jungtürken ans Ziel und der Osmanenstolz flackert in so dicken Feuergarben auf, daß die drei Verbündeten fürchten, beim Zugreifen sich die Finger zu verbrennen. Rußland muß warten. Und auf Albions Gewinnkonto ist einstweilen nur der deutsche Prestigeverlust zu buchen. Schon aber naht eine neue Überraschung. Franz Ferdinand und Ährenthal wollen, da Rußland warten muß, auf den Sandschak und auf Saloniki fürs erste verzichten; stecken aber Bosnien und die Herzegowina ein. Britannia kreischt zornig auf; weil sie fühlt, daß ein gesichert scheinendes Geschäft ihr zu entgleiten droht. Wird Rußland geduldig bleiben, der heißen Welle der Slawenwut sich entgegenstemmen, wenn Österreich-Ungarn draußen die Serbensaat zerstampft und sich als souveräne Balkangroßmacht vor die Türken setzt? Kann die Verschiedenheit der Interessen nicht das fein gesponnene Netz der Verträge lockern? Britannia muß laut kreischen: sonst wittern die Kontrahenten Verrat; glauben die Enttäuschten, Eduard sei in Ischl oder Marienbad Mitwisser des Wiener Planes geworden. Rußland will eine schwache, Frankreich eine starke Türkei; denn in Frankreich sind etwa vier Millionen Turbanwerte und große Posten anderer Balkanpapiere. Wo England gern die Kriegsfurie losgekettet sähe, braucht, in Südosteuropa, die Französische Republik friedliche Ruhe. Löst sich der neue Dreibund so schnell? Zuerst versucht man, Deutschland von Österreich wegzulocken. Doch Herr Iswolskij ist allzu täppisch; und Fürst Bülow hat die Konjunktur erkannt. Österreich vertritt auf dem Balkan unser Interesse; nicht aus Gefälligkeit, nicht etwa als »brillanter Sekundant« (solcher Dienst würde nicht dauern), sondern, weil das Dehnungsbedürfnis die Doppelmonarchie zwingt, den Mächten unbequem zu werden, die Deutschland einkreisen wollten. Nur ein Blinder würde in dieser Stunde den Wien mit Berlin verbindenden Draht durchschneiden. Herr Iswolskij wird in der Wilhelmstraße mit kalter Küche bewirtet und muß dem Londoner Mandanten melden, daß zwischen den verbündeten Kaiserreichen jetzt nicht Zwietracht zu stiften ist. Zum erstenmal bekommt Deutschland wieder Luft; hellt sich über ihm der Himmel. Frankreich, das Greys Kongreßplan durch die Publikation verhindert hat, muß, als Türkengläubiger, die austro-deutsche Orientpolitik in dieser Stunde der britischen vorziehen. Kommt der große Spieler im Buckinghampalast um seinen Gewinn? Das darf nicht sein. Noch hat er die stärkste von seinen Künsten nicht angewandt. Das dreimal glühende Licht wirkt sicher. Wilhelms Tischreden werden im Daily Telegraph veröffentlicht: und schnell ist der Kreis wieder geschlossen. Rußland, Frankreich, die Niederlande, China, Japan, Australien, die Afrikander, Amerika selbst wenden sich in wildem Grimm gegen den Deutschen Kaiser; und der Grimm wandelt sich bald in Hohn. Als den schwersten Anschuldigungen der verdammende Spruch gefolgt ist, fragen die Briten noch spöttisch, wem sie denn nun glauben sollen: dem Guildhallredner, der beteuert hat, daß die deutsche Nation ihres Kaisers Liebe zu England teile, oder dem Gast auf Highcliff, der, noch im selben Monat, die Mehrheit der deutschen Landsleute der Feindschaft gegen England anklagte.
Der Kreis ist wieder geschlossen. Gemeinsamer Widerwille ist stärker als die Sucht nach Augenblicksvorteil. Alle mißtrauen dem Deutschen Kaiser; aus allen Ecken züngelt der Hohn nach ihm: und wir haben keine Waffe, die ihn wirksam verteidigen könnte. In den skandinavischen Ländern sogar ist offiziös erklärt worden, seit man Wilhelm so kenne, wie er sich in der Interview selbst dargestellt habe, müsse man von ihm abrücken und in den Britenkonzern eintreten. Und der Islam? Abd ul Hamid und Abd ul Aziz wissen, was Berliner Rede wert ist. Muley Hafid ist noch nicht anerkannt; trotzdem wir's vor neun Wochen stürmisch forderten. Der englische Premierminister verspricht den Franzosen Hilfe für den Fall naher Fährnis. Und Sir Ernest Cassel, Eduards Freund und Freundinherberger, besorgt Paris das neue Türkenanleihegeschäft. Das eine Beispiel zeigt den sichtbaren Segen des persönlichen Regiments. Jedes der zwanzig Unheilsjahre, die hinter uns liegen, hat ihn jedem wachen Auge gezeigt. Warum ist Deutschland, das, trotz seiner Kraft, in dieser Zeit keinem auch nur das winzigste Stück genommen hat, vereinsamt und ringsum gehaßt? Weil es sich von dem unsteten Willen eines Kaisers lenken ließ, der keinen Blutstropfen eines Staatsmannes in sich hat. Neun Zehntel aller Schwierigkeiten, die das Reich hemmen, hat die persönliche Politik des Kaisers bewirkt. Sie zu enden, ehe von ihr, wie Bismarcks trüber Blick ahnte, das Reich zerstört ward, ist nationale Pflicht. Bonaparte hatte sich mit dem Schwerte den Weg auf den Thron gebahnt und zwar nicht den Landbesitz, doch den Phantasieschatz und den Kriegsruhm eines nach Anerkennung dürstenden, kaum der Lilienfron entlaufenen Volkes für die Dauer gemehrt. Dem Lande, das er allein vor den Bütteln Europas zu schützen vermochte, durfte er, solange die Schlachtenfortuna ihm lachte, den Willen seines hemmungslosen Genius aufzwingen. Friedrich Wilhelm der Vierte war ein schwächlicher Schöngeist, der den starken Mann spielen wollte und dessen krankes Hirn wähnen mochte, Fritzens Preußen sei für die Freiheit noch nicht reif. Wilhelm der Zweite, der vierzig Jahre nach der Revolution auf den Zollernthron kam und im Reich kein Monarch ist, hat der Nation nie Nützliches geleistet und für seinen Willen dennoch die höchste Geltung verlangt. Nun sieht er die Ernte. Wenn's ihn, nach allem Geschehenen, möglich dünkt, wird er die Krone auf seinem Haupt behalten. Doch niemals wieder darf an seinem Willen das Schicksal des Deutschen Reiches, deutscher Menschheit hängen.
Heute spürt jeder, daß dem Vaterlande die Gefahr droht, in den jämmerlichen Zustand zurückzusinken, wo es (nach dem Wort des treuen Görres) »auf einer Seite wie vom Schlagfluß gelähmt ist, auf der anderen im Veitstanz sich bewegt und, während die eine Hälfte asthenisch in dumpfen, leeren Träumen brütet, die andere hypersthenisch in phantastischen, ausschweifenden Delirien sich abmüdet«. Daß die Wahrheit endlich aus den letzten Schleiern geschält werden muß, damit dem jungen Reich die Monarchentragödie erspart bleibt, die das Kunstgebild aus Menschenhand nicht so leicht überstünde wie der Leib des alten, einheitlichen, im Wesenskern gesunden Preußenstaates. Wir sind weiter gekommen; viel weiter, als noch unterm Herbstmond zu hoffen war. Alle Parteien haben den Kaiser schroff getadelt. Seit den Tagen der Stuarts ward einem Gekrönten ähnliches kaum je mehr angetan. »Das Königtum,« schrieb Lagarde, »ist zu verschiedenen Zeiten verschieden aufgefaßt worden. Jetzt wird so leicht niemand mit dem mystischen Unsinn früherer Tage kommen: alle werden einig darüber sein, daß der König der Vertrauensmann der Nation ist. Ein Königtum deutscher Art ist nur denkbar, wenn des Königs Persönlichkeit des Höchsten ausgebildet und mit allem Reichtum reinen Wollens, fragefähigster Lernbegier, unschwankender Einsicht, der Verantwortung bewußtester Demut bis an den Rand gefüllt ist. Weh dem Menschen, der jemals den Thron zum Genießen mißbrauchte: verscherztes Vertrauen wird nie zurückgewonnen.« Auch unausgesprochene Forderungen können vernehmbar sein. Der Kaiser hatte seit dem neunundzwanzigsten Oktobertag zur Überlegung Zeit. Er konnte an den Rand eines Berichtes, der vom Kanzler oder vom Reichstag kam, einen Satz schreiben, wie ihn sein Großvater unter Roons Bericht vom 1. März 1861 geschrieben hatte: »Für Ihren Freimut gebührt Ihnen mein Dank für ewige Zeiten!« Dann war, ohne Zwang, geleistet, was die Forderung erlangen konnte. Er hat's nicht getan. Er war über die »Schimpferei« der Presse und des Parlamentes empört, überzeugt, daß »sein Volk« anders denke, und fand sich vom Kanzler unzulänglich verteidigt.
Als der verhängnisvolle Artikel im Daily Telegraph erschienen war, empfahl der Kaiser den Rekruten in zorniger Rede strenge Selbstzucht. Als Deutschland in Scham und Schmerz erbebte, ging er auf die Jagd. Zuerst nach Eckartsau, wo er sich dem Erzherzog Franz Ferdinand als Gast angesagt hatte. Die Frau des Schloßherrn lag, mit schwerer Influenza, in Kindsnöten. Der Mann mußte ihr, für die er der Hoffnung auf ebenbürtige Nachkommenschaft entsagt hat, fernbleiben und für das Jagd- und Tafelvergnügen des hohen Gastes sorgen. Das Paar lebt einfach, wie andere Edelleute auf dem Land. Nun mußten Automobile herbei (der Kaiser braucht ein Halbdutzend für sich und sein Gefolge); mußte aus dem Waldrevier das Wild zusammengetrieben, das Schloß zu Prunk und Lustbarkeit gerüstet werden. Wir lasen, daß Franz Ferdinand die Flinte nicht in die Hand nahm; daß Wilhelm an einem Tag drei Dutzend Hirsche schoß und in fröhlichster Stimmung war; auch die kleinen Unbequemlichkeiten, die er in dem nicht vom Auge der Herrin bewachten, für so pomphafte Feste nicht eingerichteten Schloß hinnehmen mußte, wurden gemeldet. Dann ging's nach Donaueschingen zum Fürsten Max Egon von Fürstenberg. Ob der muntere Kavalier sich diesmal eine Wachsnase geklebt hat, die er in der Wärme des Kerzenlichtes langsam abtropfen ließ, erfuhren wir nicht; dieses Kunststückchen soll ihm früher viel Beifall eingebracht haben. Sogar die Zahl der geschossenen Füchse blieb uns verborgen. Mancherlei aber vernahmen wir. Aus Berlin und aus Frankfurt waren Bänkelsänger gerufen worden, die Couplets vortrugen. An den Abenden, wo Europa die Berichte über die Kaiserdebatte des Reichstages las. Die höchsten und hohen Herrschaften amüsierten sich königlich (vielleicht auch kaiserlich). In demselben Blatt der Frankfurter Zeitung standen zwei Depeschen, die einander ergänzen. »Aus Donaueschingen meldet die Badische Presse: Dem Kaiser wurde Dienstag abends gegen neun Uhr der stenographisch aufgenommene Reichstagsbericht durch das Telegraphenamt in Donaueschingen zugestellt. Gegen zwölf Uhr nachts wurde darauf für kaiserliche Depeschen nochmals eine einstündige telegraphische Verbindung hergestellt.« Und im Inseratenteil las man: »Frankfurts Uniontheater vor Deutschlands Kaiser! Das Uniontheater wurde vom Fürsten Fürstenberg eingeladen, am Dienstag vor Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser in Donaueschingen eine Separatvorstellung im Musiksaal des Schlosses zu veranstalten. Wir erhalten darüber heute folgendes Originaltelegramm: ›Zweistündige Vorstellung im Schloß zu Donaueschingen vor dem Deutschen Kaiser, dem Fürsten Fürstenberg und dem Grafen Zeppelin mit sensationellem Erfolg nachts um halb ein Uhr beendet. Der Kaiser und die hohen Herrschaften applaudierten stürmisch und sprachen in persönlicher Unterredung ihre dankbare Anerkennung für das brillant gewählte Programm und die tadellose Vorführung aus‹.« Vorher hatte ein in Berlin sehr bekannter Kabarettier mit zwei Gefährten der Jagdgesellschaft einen frohen Abend bereitet. Geschmackssache. Da an Bord der »Hohenzollern« Matrosenkapellen, vermummte Coupletsänger, Damenkomiker, Salonzauberer, Gedankenleser, sogar Generale als Cancantänzer gern gesehen sind, mag solches Biervergnügen auch an der Donau munden. König Lear und Frau Alwing wären nichts für müde Jäger, die nach des Tages langer Mühe wacker gezecht haben. Nur sollte einer, den der Berliner »Schwarze Kater« und das Frankfurter Uniontheater erfreut, modernen Europäern lieber nicht vorschreiben, an welchem Kunstborn sie ihren Durst zu stillen haben. Einerlei. Jagd, Frühstück im Wald, Tafelmusik, Tingeltangel, ausgelassene Heiterkeit: der Kaiser und König wollte keinen Zweifel darüber lassen, daß ihn die im Reichstag anberaumte Gerichtssitzung nicht bekümmere. Kanzler, Bundesrat, Reichstag, Staatsministerium betrauern des Reiches Not und fordern den Thronenden auf, das Ansehen der Krone fortan besser zu wahren; das Land bebt in Krämpfen und kann seinen Gram nicht, kann seine Scham nicht länger bergen; aus spöttischem Auge blickt der Fremdling über die Grenze und scheint zu fragen, ob, was er da sieht und hört, sich wirklich im Reich Wilhelms und Bismarcks ereigne. Der Kaiser will der Welt beweisen, daß solches Getriebe ihm nicht eine Abendstunde verdüstert. »Mein Kurs ist der richtige und er wird weitergesteuert.« Der Kaiser jagt, schlägt sich, wenn der Bänkelsänger einen saftigen Witz bringt, auf den Schenkel und lacht, daß die Scheiben zittern. Der Kaiser ist lustig. Das ist sein Recht. Er ahnt nicht, was draußen wird.
»Die Jagd ist eine der sinnlichen Vergnügen, die den Leib bewegen und dem Geist nichts sagen. Man verfolgt mit wildem Eifer ein Tier und hat eine grausame Freude daran, es zu töten. Ich weiß, daß große Männer die Jagd leidenschaftlich geliebt haben. Auch sie hatten ihre Fehler und Schwächen: laßt uns, statt sie im Kleinlichen zu kopieren, ihre Größe nachahmen. Die Jagd, wirft man ein, ist gesund, hilft zu hohen Jahren und ziemt, als ein harmloses Vergnügen, den großen Herren, die dabei ihren Kummer vergessen, ihre Pracht entfalten können und im Frieden das Bild des Krieges erblicken. Ich denke gar nicht daran, ein maßvolles Vergnügen zu verdammen; nur vergesse man nicht, daß solche Übung nur den Zügellosen nötig ist. Von allen Lustbarkeiten ist die Jagd übrigens die für Fürsten ungeeignetste. Ihre Herrlichkeit können sie auf hundert andere, den Bürgern viel nützlichere Arten zeigen; und schädigt die Überfülle des Wildes den Landmann, so kann die Pflicht, die Tiere zu töten, bezahlten Jägern überlassen werden. Fürsten dürften eigentlich nur eine Beschäftigung kennen; nur danach trachten, sich zu bilden, Kenntnisse zu sammeln, regieren zu lernen, damit sie ihren Beruf sicher erfassen und in seiner Ausübung konsequent handeln. Um ein großer Heerführer zu werden, braucht man nicht Jäger zu sein. Gustav Adolf, Turenne, Marlborough, Prinz Eugen, denen keiner den Ruhm geschickter Generale bestreiten kann, waren nicht Jäger; auch von Cäsar, Alexander, Scipio überliefert das Buch der Geschichte uns keine Jagdleistung. In der Armee müßte man die Jagd sogar verbieten, weil sie zu Unordnung auf den Märschen verführt. Den Fürsten mag man die Jagd verzeihen, wenn sie diese Vergnügungsart selten wählen und nur als Erholung von ihrem ernsten und oft recht traurigen Geschäft betrachten. Ich will kein anständiges Vergnügen verbieten. Aber die Bemühung, gut zu regieren, den Staat zur Blüte zu bringen, alle Künste zu schützen und zu fördern, ist sicher das größte Vergnügen; und der Fürst ist zu beklagen, der ein anderes braucht.« Das sind Sätze aus dem »Antimacchiavell« Fritzens von Preußen. Der, sagt man, kein Ofenhocker, kein schlapper Kerl war.
Wilhelm jagt mehr als seit der Unheilszeit Ludwigs des Sechzehnten wohl je ein Regierender; und eine Jagdart, die in kurzen Stunden Dutzende, Hunderte von Tieren zur Strecke bringt, ist von edlem Waidwerk recht fern. Wer sich das Wild in Rudeln vor die Flinte, die Standgabel hetzen läßt und allen Komfort eines üppigen Hofes in den Wald mitnimmt, braucht weder Ausdauer noch überlegene List. Aus dem Hofbericht müßte festgestellt werden, wie viele Tage im Jahr der Kaiser auf der Jagd verbringt. Er reist und zerstreut sich überhaupt ein bißchen viel. Eduard macht meist Geschäftsreisen, von denen er etwas heimbringt; geht er an die See oder in die böhmische Quellenstadt, dann lebt er wie ein reicher Privatmann und lernt dabei Leute kennen, die er sonst nicht sieht. Der bewegliche Viktor Emanuel macht sich auf seiner Halbinsel zu schaffen und sucht im Gewühl zu verschwinden. Selbst der alte Franz Joseph lebt in Ischl kaum anders als ein wohlhabender Feldzeugmeister. Nur Wilhelm zieht immer mit dem ganzen Imperatorprunk durch die Welt. Diese Freude wäre ihm zu gönnen, wenn ihr nicht ein gefährlicher Irrtum entwüchse. Wo was zu schauen ist, sammeln sich Gaffer. Wo das Auge sich umsonst sättigt, ist die Hand zum Applaus, die Kehle zum Jubel bereit. Den wenigen, die ihm vom Unmut des Volkes zu sprechen wagten, hat der Kaiser lachend geantwortet: »Sie sind wohl nicht von hier. Auf meinen Reisen sehe ich doch, wie das Volk denkt. Zeitungsschreiber und Parteibonzen nörgeln. Die Nation jauchzt mir zu.« Leider: weil ihr Jubel nicht aus dem Herzen kommt; nur aus heftig erregten Sinnen. Auch dem Perserschah würde zugejauchzt, wenn er in solcher Pracht einherkäme. Die Reizmittel des Cäsarismus wecken in jeder Masse die Lust, mit Hand und Mund wenigstens in dem Ausstattungsstück mitzuwirken, das da durch die Straßen geführt wird. Werben dem in ewiger Glorie Spazierenden aber nicht haltbare Liebe. Der Kaiser hat sich einst einen »Richter in Empfängen« genannt. Diese Empfänge werden sorgsam inszeniert und oft vorher mit Statisten durchprobiert, bis »alles klappt«. Das Schauspiel ist ohne Eintrittsgeld zu genießen: kein Wunder, daß die Menge herbeiströmt. Nach dem grauen Alltag ein buntes Vergnügen: »Hurra!« Am Abend freut der Kaiser sich dann des Kinematographen, der den Empfangenen und die Empfänger im Bild zeigt. »Wie mein Volk heute wieder gejubelt hat, als es mich sah!« Und ist glücklich. Wenn der Dalailama in der Kutsche, der Afghanenemir auf dem Pferd gesessen hätte, wäre der Jubel vielleicht noch lauter geworden. Was er wert war, könnte Wilhelm jetzt wissen.
Nicht der Jagd nur, den Einzugsfreuden und dem Bänkelvergnügen waren die dunklen Novembertage geweiht. Als am Berliner Königsplatz der Gerichtstag dämmerte, ließ das Kommando der Hochseeflotte an alle Gefechtseinheiten eine Verfügung ergehen, die offenbar der kriegsherrlichen Initiative entstammt. Lest sie; und lobet den Herrn, der alles weislich verfüget.
Kiel, den 10. November 1908.
Seine Majestät der Kaiser haben befohlen, daß das Hurrarufen innerhalb des einzelnen Schiffes absolut gleichmäßig unter Hochnehmen der Mützen zu erfolgen habe. Beim Paradieren und Hurrarufen ist daher nach folgendem Befehl zu verfahren: Es sind Posten mit Winkflaggen auf beiden Brückennocken, auf der Hütte, am Bug, am Heck und an sonst geeigneten Stellen des Schiffes aufzustellen. Auf das Kommando: »Drei Hurras für …« werden die Flaggen hochgenommen. Gleichzeitig verläßt die rechte Hand der paradierenden Leute das Geländer und geht an den Mützenrand. Auf das erste Kommando »Hurra« gehen die Winkflaggen nieder, das Hurra wird wiederholt, während die Mützen durch Strecken des rechten Armes unter einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad kurz hochgenommen und, sobald das Hurra verklungen ist, unter Krümmung des Armes kurz vor die Mitte des Oberkörpers genommen werden. Gleichzeitig gehen die Winkflaggen wieder hoch. Beim zweiten und dritten Hurra wird entsprechend verfahren; nur werden die Mützen nach dem dritten Hurra nicht wieder vor die Mitte des Oberkörpers genommen, sondern kurz aufgesetzt, worauf die rechte Hand wieder auf ihren Platz am Geländer geht.
Bei der bevorstehenden Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers zur Rekrutenvereidigung ist bereits nach diesen Bestimmungen zu verfahren.
I.V.
von Holtzendorff.
Am 17. November wollte der Kaiser in Kiel die Rekruten vereidigen. Der wichtige Erlaß ward gewiß im Donauschloß besonnen.
»Es ließ mir keine Ruhe: ich mußte reden,« schrieb Friedrich Wilhelm der Vierte an Thile. Könnte auch sein Großneffe geschrieben haben. Er muß reden. Und niemand hat das Recht, ihn zu hindern. Nur: die Nation will für seine Reden nicht länger verantwortlich sein. Für von ihm Gesprochenes und Geschriebenes nicht. Denn sie glaubt nicht, daß der fast Fünfzigjährige sich ändern, »sich Zurückhaltung auferlegen« könne. Das Reichsgeschäft fordert ein politisches Temperament, nicht ein dramatisches. Der Kaiser langt nach der Augenblickswirkung und freut sich, als wäre die Welt eine Schaubühne, an Worteffekten, Gruppenbildern, Abgängen und Aktschlüssen. Wir freuen uns nicht daran; haben für solches Vergnügen höchstens von acht bis zehn abends Zeit. Wir wollen die Geschäftsleitung ungeschmälert Politikern gesichert wissen, die über den Augenblick hinaus denken und jedes Tuns, jedes Unterlassens Folge bis ans Ende ermessen. Die sich nicht stets vor dem Photo- oder Kinematographen fühlen. Gründlich vorgebildet sind und alle Stunden des Tages (und, wird's nötig, auch der Nacht) ihrer Arbeit hingeben. Denn ohne zu arbeiten, von früh bis spät, kann heute selbst ein Genie nicht regieren. Für einen Jupiter, der aus der Wolke hervorblitzt, danken wir. Wollen endlich in gleich starker Rüstung mit den Rivalen um das Lebensrecht kämpfen. Und Leuten, die an die Staatsspitze nicht taugen, nicht auf ewig unlöslich verbunden sein. Uns die Möglichkeit wahren, taktlose, ungeschickte oder kompromittierte Menschen wegzujagen. Solche Möglichkeit bleibt nur, wenn diese Menschen nicht im Purpur geboren sind.
Wir wollen nicht mehr. Wilhelm der Zweite hat bewiesen, daß er zur Erledigung politischer Geschäfte ganz und gar ungeeignet ist; hundertmal bewiesen, daß ihm selbst bei günstigster Marktkonjunktur kein Abschluß gelingt. Er mag viele Fähigkeiten haben; diese fehlt ihm völlig. Und hätte er den Keim in sich, so fände er, der Soldat und Seemann, Theologe und Historiker, Maler und Ästhetiker, Dichter und Komponist, Jäger und Yachtmann, Prediger, Maschinentechniker und Regisseur ist, nicht die Muße, die innere Stille, ohne die nichts hienieden zu reifen vermag. L'univers sous ton règne: das paßte vielleicht in die Tage des Sonnenkönigs. Heute würde durch die Ubiquität eines Herrschers nur Ärgernis gegeben. Wer mag denn immer von einem hören, in jedem Morgen- und Abendblatt neidisch seines Erlebens Spur finden? Wir wollen auch nicht, daß der Kaiser seine Standarte über die Wälle einer Festung wirft, die für uns wertlos ist und deren Schanzen wir dann doch stürmen müssen, um die Standarte zurückzuholen. Geht's wie bisher weiter, so müssen wir einen Krieg führen, um die verlorene Achtung wieder zu erwerben und uns vom Fluch der Herdenlächerlichkeit zu lösen. Das wollen wir nicht. Ein langwieriges Schauspiel nur: da wäre der Blutpreis zu hoch.
Der Kaiser ist nicht Monarch. Das Reich ist souverain; nicht der Kaiser. Der darf das Reich nicht ohne die Zustimmung Sachverständiger binden. Und diese Sachverständigen dürfen nicht gezwungen sein, drei Viertel ihrer Kraft immer erst an die Beantwortung der Frage zu verwenden, wie ihr vernünftiges Planen dem Kaiser plausibel zu machen ist. Wir wollen nicht Tag vor Tag in unserem Kulturgefühl gebildeter Europäer durch Rede und Schrift beleidigt sein. Wir wollen Staatsgeheimnisse wahren. Fremden weder schmeicheln noch drohen. Unwahrhaftigkeit, Gaukelspiel, Byzantinerprunk verachten. Wieder bündnisfähig werden. Uns vor Händeln hüten, unvermeidliche aber ohne feiges Zagen ausfechten. Uns nie ohne Deckung zu weit vorwagen, nie aber auch vor einer Gefahr oder einem Bluff zurückweichen. Dieser Wille schon zwingt die alte Reichskraft herbei. Und die alte Achtung kehrt wieder, wenn bewiesen ist, daß der Deutsche auch gegen den Kaiser noch wollen wagt.